Nr. 510 ♦ 4Z. Jahrgang
7. Seilage öes vorwärts
frektag, 20. Oktober 10 2ö
B
Schulgelösiaffelung Dauerkleingärten Aus der Stadtverordnetenversammlung.
Die Berliner Stadtverordneten erlebten in ihrer gestrigen Sitzung einen Skandal, wie wir ihn seit 1913 schon lange nicht mehr gehabt hatten. Ueber die Stadtratswahlen. die von den Kommunisten durch ihr Toben und Rasen verhindert werden sollten, berichten wir an anderer Stelle unseres Blattes. Vor dem Vollzug dieser Wahlen wurde eine Reihe Anträge und Dorlagen erledigt. Zur Neufestsetzung des Schulgeldes und der neuen Staffelung, die der Magistrat vorlegte, äußerte Genosse K a w e r a u einige Wünsche. Nötig ist, daß die beschlossene neue Staffelung, die für die Minderbemittelten gün- st i g e r als die bisherige ist, schnellstens in Kraft tritt. Den sozial- demokratischen Antrag wegen der D a u e r k lei n g ä r t e n, den Genosse Mendt begründete, nahmen die Kommunisten zum An- laß, sich wieder einmal bei den Laubenkolonisten anzubiedern. Genosse Mendt rieb den Kommunisten unter die Nase, daß sie sich früher den Teufel was um die Laubenkolonistcn gekümmert und damals den Kampf für die Dauerkolonien den Sozialdemokraten überlassen haben. Der Antrag wurde angenommen. Bei dem von den Kommunisten eingebrachten Antrag wegen des Hohenzollern -Vergleichs lärmten die Deutschnationalen, worauf die Kommunisten mit gesteigertem Lärm antworteten. Die weitere Debatte mußte wegen der Stadtrats- wählen vertagt werden. » In der gestern abgehaltenen Sitzung der Stadtverordneten brachten unsere Genossen folgende Anfrage ein, die geschäfts- ordnungsmäßig erledigt werden wird: „Ist der Magistrat bereit, die Gründe anzugeben, die ihn veranlaßt haben, die Vorschläge abzulehnen, die für die Neu- besetzung des Postens des städtischen Gewerbearztes von einem mit der Bewerberauswahl beauftragten Ausschuß des Verwaltungsousschusies des Landesarbeitscmrts Berlin nach sachlichen Erwägungen einstimmig unter Befürwortung des Herrn Stadtmedizinalrates gemacht worden sind?" Nach der meist debattelosen Erledigung einer ganzen Reche von kleineren Vorlagen und Anträgen begründete Stadtverordneter G ü n l i tz(Komm.) einen Antrag seiner Parteigenosien, der für die Berliner Arbeitersportbewegung einen Zuschuß von 2 5 009 M. für den Werbefond oerlangt. Ohne Debatte wurde der Antrag an einen Ausschuß verwiesen. Dann begründete Genosie Reuter unseren Antrag, den Rettungsdienst auf den Berliner Gewässern in städtische Verwaltung zu nehmen. Genosse Reuter betonte, daß die Unterschlagun- gen eines der Vorsitzenden der Rettungsgesellschaft der Berliner Wassersportvereine den äußeren Anlaß für den Antrag ge- geben haben. Aber auch grundsätzlich stehe unsere Fraktton auf dem Standpunkt, daß der Rettungsdienst aus den Berliner Gewässern durch die Stadt auszuüben sei. Stadt- verordneter Günlih von den Kommunisten und der Demokrat INerlen gaben für ihr» Fraktionen zustimmende Erklärungen ab, wobei Merten noch zu bedenken gab, daß nach verläßlichen Mel- düngen der Reichswasserschutz immer mehr abge- baut werden soll. Die Angelegenheit ging ebenfalls an einen Ausschuß. Ein Antrag der sozialdemokratischen Fraktion, der die Ausweisung von Laubenland als Dauerkolonie verlangt, wurde vom Genossen Wendl begründet. Auf Angriffe des Kommunisten Sreußpaul erwidert« Genosse Mendt, daß sich die Sozialdemokratische Partei bereits mit den Kleingartensragen beschäftigt hat, als an die Kommunisten noch nicht zu denken war. Jetzt benutzen die Kommunisten die Kleingärtnersragen für ihre Agitationszwecke. Der Antrag wurde angenommen. Die Kom- munfften hatten einen
Anirag zum Fürstenvergleich eingebracht, nach dem der Magistrat ersucht werden soll, auf die preußische Staatsregierung einzuwirken, daß der Vergleich sofort rückgängig gemacht wird. Bei der Begründung durch den komm». nislischen Fraktionsredner machten die INItglieder der Rechtsparteien geschlossen so viel krach, daß der Redner oft nicht zu verstehen war. Der Vorsteherstellvertreter INeyer(Dem.) teilte schließlich mit. daß er den Stadtverordneten Pfarrer Koch(Dnat.) gebeten habe, auf seine Parteifreunde beruhigend einzuwirken. Koch hätte dies aber abgelehnt, solange der vom Redner gebrauchte Ausdruck„moderne Raubritter' nicht gerügt sei. Zlls der Redner seine Kenn- zeichnung mehrfach wiederholte, wurde er dreimal zur Orb- nung gerufen. Der Vorsteherstellvcrtreter ließ schließlich darüber abstimmen, ob der Redner von der Sitzung auszuschließen sei. Die Linke jedoch lehnte das ab. Der Redner sprach also weiter, die Rechte machte ebenfalls weiter Spektakel: man hörte„Heil dir im Siegerkranz ' singen. Offenbar kam es der Rechten wie den Kommunisten daraus an. die Sitzung zu sprengen, um die Wahlen der Stadträte hochfliegen zu lassen. Inzwischen war der Zeitpunkt der Wahlen herangekommen. (Bericht über die Stadtratswahlen siehe Hauptblatt.)
Der Zall Stoelzel. Um die Bestätigung als Gymnafialdirektor. Wer als sozialdemokratischer Beamter in Preußen- Deutschland dem neuen Staat offen und ehrlich zu dienen bemüht ist, der hat von vornherein mit der ausgesprochenen Gegnerschaft der bürgerlichen Kreise, nicht nur in seiner dienstlichen Tätigkeit, sondern auch im gesellschaftlichen und öffentlichen Leben überhaupt zu rechnen. Die Erfahrung hat gelehrt, daß diese erbitterte bürgerliche Gegnerschaft bereits zur Vernichtung und Schwächung wertvollster Führerpersönlichkeiten(Eberl— Seoering) geführt hat, ganz ab- gesehen von den Quälereien und Leiden, denen der weniger führende sozialdemokratische Beamte ausgesetzt ist. Der Fall des Landesschulrats Dr. Stoelzel- Braunschweig hat in den letzten Monaten wieder einmal alle Seiten politischer und persönlicher Verfolgungssucht vor uns aufgedeckt. Stoelzel wurde im Jahre 1920 als wissenschaftlich und pädagogisch wertvoller fort- schrittlicher Schulmann zum Letter des braunschweigischen Schul- wesens ernannt. Noch bevor er seinen Dienst antrat, nahm die Orga- nisation der Philologen den Kamps gegen den Sozialdemokraten Stoelzel auf, dem sie als Kollegen und Fachmann nichts anhaben konnten und der deshalb auf dem Wege über Verleumdung und gesellschaftliche Vergiftung in Schwierigkeit und Gefahr gebracht werden mußte. Kein Wunder, daß der im V e r- waltungswesen noch unerfahrene Studienrat Stoelzel bald nach seinem Dienstantritt auf Grund eines dienstlichen Fehl- griffs— er hatte einen intriganten philologischen Gegner zu einer dienstlichen Aussage veranlassen wollen— wegen Nötigung der Staatsanwaltschaft überliefert und von der braunschweigischen Stahl- Helmjustiz verurteilt werden konnte. Kein Wunder auch, daß nach dem ganz selbstverständlichen Erlaß dieser Strafe die Hetze gegen den Sozialdemokraten, deren Erfolg man schon sicher in der Tasche zu haben glaubte, mit verstärkter Niedertracht wieder aufgenommen wurde. Bis Ende 1924 konnte Stoelzel dann ein gutes Stück tüchtiger Schularbeit leisten. Als aber am 24. Dezember 1924 infolge des ungünstigen Wahlausfalls mit Unterstützung des völkischen Zeichen- lehrers Riese, der bei der braunschweigischen Fürstenabfindung die bekannte traurige Rolle gespielt hat, die neue Stahlhelmregierung zustande kam, da war die erste Maßnahme dieser Regierung, daß Stoelzel am 27. Dezember aus dem Dienst gejagt wurde. Von diesem Tage an hat man sich dann eifrig daran gemacht,
Material zur völligen Vernichtung Stoelzels zusammenzutragen. Es kam zur Einleitung und Durchführung eines Verfahrens wegen Be- truges und Amtsmißbrauches. Die erste Instanz verhängt« auf Grund eines völlig unhaltbaren Materials«ine Gefängnisstraf« von zwei Monaten und Aberkennung der Fähigkeit, für die Dauer von zwei Jahren«in öffentliches Amt zu bekleiden. Die zweite Instanz konnte unter dem Druck der für Stoelzel sprechenden Tatsachen von allen Anschuldigungen nur noch drei Fälle auftecht erhalten, in denen sich Stoelzel durch Benutzung der drttten Wagenklasse bei Kostenerstattung für die zweite des Betruges schuldig gemacht hoben sollte. Aber auch in diesen drei Fällen mußte das Gericht, um zu einer Verurteilung zu kommen, völlig unmögliches Beweismaterial als beweiskräftig gelten lassen. Erster Betrugsfall: Stoelzel kommt von Braunschweig mit dem Zuge in Harzburg an. Ein deutschnationaler Studienrat sagt als ein- ziger Zeuge aus:„Stoelzel tauchte unmittelbar noch der Ankunft des Zuges neben mir auf. Da die Wagen zweiter Klaffe schon vorüber- gefahren waren, kann Stolzel nur aus der dritten Klaffe ausgestiegen sein.'— Schlußfolgerung des Gerichts:„Stoelzel ist in diesem Falle dritter Klasse gefahren, hat auch eine Fahrkarte dritter Klasse gehabt, ist also des Betruges schuldig befunden.' Zweiter Betrugsfall: Stoelzel fährt mit deutschnationalen Philo- logen von Schöningen nach Helmstedt dritter Klasse. Die Philologen erklären als Zeugen:„Stoelzel hat eine Fahrkarte dritter Klasse gehabt. In Helmstedt haben wir uns getrennt. Wie Stoelzel weiter- gefahren ist. wissen wir nicht.' Stoelzel erklärt dazu:„Ich habe neben der Fahrkarte dritter Klasse eine v-Zug-Zuschlagkarte gehobt, um von Helmstedt den O-Zug nach Braunschweig zu benutzen. Ich habe dann der Einfachheit wegen wahrscheinlich zweiter liquidiert, weil dritter Klasse mit Q-Zug-Zuschlag bei der kurzen Entfernung dem Fahrpreis zweiter Klasse ungefähr gleichkam, möglicherweise noch darüber hinausging.'— Schlußsolgerung des Gerichts:„Des Betruges schuldig.' Dritter Fall: Zwei Damen beschwören, daß Stoelzel an einem bestimmten Tage von Seesen nach Braunschweig dritter Klasse gc- fahren sei und daß Stoelzel schon vor Seesen Im Zuge gesessen haben muß. Demgegenüber ist durch Zeugenaussage und Aktenvorgönge er- wiesen, daß Stoelzel erst In Seesen in den Zug gestiegen ist. Stoelzel behauptet ferner, daß er an diesem Tage tatsächlich eine Fahrkarte zweiter Klasse gehabt habe und nur aus bestimmten Gründen dritter Klasse eingestiegen sei.— Schlußfolgerung des Gerichts:„Stoelzel hat schon vor Seesen in der dritten Klasse des Zuges gesessen: er hat eine Fahrkarte dritter Klasse gehabt: er ist des Betruges schuldig.' Diese drei Schlußfolgerungen des Gerichts an der Hand dieses Materials stehen in der deutschen Rechtsprechung einzig da. Der ge- sunde Menschenverstand kann solch unglaubliche Rechtsprechung em- fach nicht begreifen. Für all« anständigen Zeitgenossen kann es bei solcher Lage der Dinge nur eine Meinung geben: Hier ist wieder einmal ein republikanischer Beamterden wider- lichsten politischen Rachegelüsten zum Opser gefallen. Staatsinteresse und Gerechtigkeit verlangen, daß die auch hier zutage getretene politische Rechtsprechung so behandelt wird, als wenn sie überhaupt nicht vorläge. Der Londesschulrat Stoelzel ist also noch wie vor als rechtschaffener, ehrenwerter republikanischer Beamter zu betrachten und seinen Fähig- leiten entsprechend in öffentlichen Diensten zu verwenden. Stoelzel soll nun auch, ganz in Uebercinstimmung mit dem eben zum Aus- druck gebrachten Gesichtspunkt, an anderer Stelle wieder Der- Wendung finden. Er ist zum Direktor eines Berliner Gymnasiums gewählt worden. Ein Antrag auf Bestätigung dieser Wahl liegt dem Ministerium bereits vor. Und schon geht wieder ein widerwärtig heuchlerischer Entrüstungssturm durchs Land. Elternschaft und Philologenwelt sollen mobil gemacht werden, um ein Opfer nieder- trächtiger politischer Verfolgung restlos zu vernichten. Man kann nur wünschen, daß auch in diesen, Falle fortgesetzter politischer Ver- folgung der Wille eines republikanischen Ministers stärker ist als die Treibereien aller offenen und heimlichen Feinde der Republik .
Sevoss« Pfarrer vieler spricht am Sonntag, den gl. Oktober, in Neukölln in der Philipp-Melanchtdon-Kirche Kranoldftrahe IS in einer religiösen Feierstunde um 6 Uhr über da» Thema:„Kein Friede ohne Freiheit'.
Der Weg des blinden Bruno. 36� Roman von Oskar Baum . Sie setzten sich auf einen spärlich bewachsenen, buckligen Abhang und packten aus. Hänsele aß langsam und behaglich: Bruno nur wenig und gezwungen. Er hatte leinen Hunger, war wohl übermüdet, die Anstrengung zu wenig gewohnt. Er streckte sich auf der sanft abfallenden Fläche aus, fühlte nichts von ihrer steinigen Unebenheit und genoß in allen Gliedern die Wollust unendlicher Müdigkeit. „Herr Hänsele!" sagte er aus dem Gefühl heraus, daß ein solches Wohlbehagen nicht ungestraft bleiben konnte,„es wird arg werden, wenns wieder weitergehtl Dann spürt man erst, was man hinter sich hat, nicht wahr?" Der Führer antwortete nicht. Langweiliger Brummbär! dachte Bruno. „Wir werden bald aufstehen müssen?" fragte Bruno nach einer Weile wieder, weil es ihm unheimlich wurde, so lange keinen Laut von dem Menschen zu hören, der da neben ihm saß oder lag, nicht einmal ein Geräusch einer Bewegung. Wieder keine Antwort! Er streckte die Arme aus, als dehne er sich, nur um den Menschen vielleicht zufällig irgendwie zu berühren. Nein. Er berührte niemand. Er tat, als drehe er sich in Faulheit um und rollte e'n Stück nach der Seite, wo der Mann vorher gelant hatte. Aber er st'eß an keinen Körper. Da packte ihn Angst. Er vergaß alle Verschämtheit:„Ja. sind Sie denn nicht da. Hänsele?" schrie er und r'.ß sich empor. die Hand um einen bemeosten Stein gekrampft und horchte nach allen Seiten.... Nichts! Eine Stille, wie er sie nie noch in seinem Leben vordem gehört hatte, umgab ihn. Nicht das leise Rauschen des leich- testen Windes, kein Schwirren eines Infekts! Es war, als sei in dieser öden, toten Leere selbst d'e Luft versteinert. Ein feines Klingen kam von fernher, schwoll an, schrillte ver» tausend'acht, rauschte, bohrte betäubend in seinem Kopf, daß er d'e Hände verzweifelt vor die Ohren schlug. Was war mit dem Menschen geschehen? War er ab» gestürzt? Hatte er ihn in verbrecherischer Weise verlassen, die Geduld verloren? Er mußte seine Nerven arg hergenommen haben, auf diese ungewohnte Weise jemand durch solche Gc- fahren und Schwierigkeiten zu lotsen!— Nein, das tonnte doch nicht sein! Hätte er Hänsele den Lohn vielleicht nicht voraus- geben sollen? Niemand würde den Führer unten im Dorfe fragen, wo der Tourist geblieben sei. Abgestürzt! Natürlich, wenn ein Blinder so etwas wagte, war es nicht anders zu
erwarten. Man würde ihm nur in freundschaftlicher Teil- nähme einen Vorwurf machen, daß er solch abenteuerlichen Wahnsinn unterstützt und sich zu so etwas hatte überreden lassen. Das wußte der Mensch. Aber war es möglich, daß jemand nur um einer lästigen Arbeit zu entgehen, ein Leben auf sein Gewissen nahm? Was half es, daß es ganz unmög- lich schien? Der Mann war nun einmal nicht da. Was sollte Bruno anfangen? Er hatte ihn nicht weggehen gehört, war so im Genuß der Ruhe eingesponnen, halb träumend dagelegen, ohne auf irgend etwas um sich her zu achten. Konnte nicht ein unvorsichtiger Schritt dem Führer das Leben gekostet haben? Gerade Leute, die mit der Gegend und ihren Gefahren ver- traut waren und sich auf ihre Uebung und Geschicklichkeit ver- lassen konnten, waren zuweilen leichtsinnig. Immer noch hockte er in seiner halb aufgerichteten Stellung und horchte nach allen Seiten. Er wartete, und die Untätigkeit steigerte das erdrückende Gefühl seiner Verlassenheit. Er war rettungslos verloren. Wohin sollte er denn? Da sprang er plötzlich in wilder Entschlossenheit auf, hiell krampfthaft alle Ueberlegung von sich fern und wollte ganz langsam weitergehen. Es gab ja Wunder! Bielleicht begegnete er anderen Touristen, vielleicht... Aber nach �wei Schritten kehrte er wieder um und setzte sich auf das nämliche kleine, immerhin ein wenig bewachsene Plätzchen, das ihm doch etwas sicherer und fast vertraut schien gegenüber der unbekannten, grauenhaft leblosen Umgebung. Bei jedem Schritt zu denken: Jetzt gehst du geradeswegs in die stupide, zwecklose Vern'chtung! Und dann würde er ja doch einmal innehalten, nicht weiter können oder wollen und hätte nicht ein so bequemes Plätzchen wie hier, um auf den Tod zu warten. Er war immer für das Leiden, das Dulden besser ausgerüstet gewesen als für den Kampf, den Angriff. Er halte sich zum Wagemut immer nur künstlich aufgestachelt und im Selbstüberwinden, in der Auflehnung gegen die eigene Natur die höchste Steigerung semes Lebens gesehen.... Hunger! Das würde das Ende sein! Noch hatte er seinen Rucksack fast voll und nicht die mindeste Lust, zu essen: aber das würde schon kommen! Nun, davor fürchtete er sich nicht am meisten: das war es nicht! Hier saß er, von allem Leben abgeschnitten. Das letzte Stückchen Welt, das ihm geblieben war, konnte er mit den Händen umfassen. Seme Zukunft leuchtete grell vor ihm auf in wunderbarer Erfüllung aller Wünsche und Pläne und schrumpfte dann zusammen— war nicht mehr da! Und die Vergangenheit umgab ihn, was sein gewesen war und noch hätte sein können, was unten aus ihn wartete, gleichsam die Hände nach ihm ausstreckte, ihn rief: Seine Lieder, von denen er so manche noch nie singen gehört hatte, seine Klavierstücke und vor allem die Anfänge, die Entwürfe, das unvollendete
Violinkonzert, das zu oberst in der linken, mittleren Lade seines Schreibtisches lag. Er wußte noch genau, wie er's hin- gelegt hatte, schräg in den Winkel geschoben: er hatte sich nicht mehr Zeit genommen, es ordentlich zu falten und zu schlichten, weil er seinen Koffer für die Reise zu packen hatte. Und die Geliebte! Das Mädchen mit den weichen, kleinen, unsagbar sanften Händen und der tiefen, so beweglichen Stimme. Er würde nie mehr einen Menschen lieber haben als sie! Wenn er es vordem nicht gewußt hätte, jetzt fühlle er es. Und er hatte sie nur hingehalten und sich selbst von dem Gedanken abzubringen versucht, weil er sich vor der Ehe, der Geborgenheit, vor der Bequemlichkeit gefürchtet hatte. So steife, theoretische Dinge ließ er über sein Leben entscheiden! Verdiente er nicht hier den Tod, ohne einen Finger rühren zu können, gleichsam in Langweile entgegen- zuwarten? Aber kann man denn das Leben werten, verstehen, ivenn es gewissermaßen daheim in der feuersicheren Kasse eingesperrt ist? Man mub es von sich fernhalten, unerreichbar fern, um im richtigen Abstand den Ueberblick zu haben und zu erkennen, was daran kostbar, wovon in Wahrheit unser Herz abhängig ist, und was nur in fortgeschleppter Gewohnheit eine Schein- Notwendigkeit erschwindelt hat. Was dachte er nun über sein Gefühl von der verschiedenen Wichtigkeit der Lebensfragen? Wie weit war er jetzt von der molligen, warmen Hingegeben- heit süßer Stunden entfernt? Man liebt Situationen, nicht Menschen, hatte er immer gesagt. Und wie gleichgültig waren ihm nun alle anderen Mädchen, mit denen er sich zuweilen so gern unterhalten hatte: die Hilsslehrerin in seiner Schule, die er so oft neckte, weil er ihr leichtsinniges, ein wenig derbes Lachen gern hörte. Nichts war das! Nur zwei Menschen gab es, die unter all den anderen unten sein waren, zu denen er zurück wollte, die er hinterlieh: Mutter Geit und die Geliebte! Er preßte den Kopf gegen ein kühles moosiges Stückchen Felsen, sich von diesen Gedanken loszureißen. Wie lange er wohl da schon sitzen mochte? Er zog seine Uhr hervor Behutsam glitten seine Finger über das entblößte Zifferblatt hin. Wie, es war noch kaum mehr als eine halbe Stunde? Er hatte gedacht, die Nacht würde schon kommen. Ob er wohl ohne Uhr gesühlt hätte, wenn es Nacht werden würde? Jetzt fragte er schon so, wie die Sehenden ihn zu fragen pflegten! Wußte er nicht, daß er es fühlte? Es war eine andere Luft In der Nacht, könnte man es ausdrücken. Nicht nur, well sie kühler und feuchter war, nein, das war sie viel- leicht gar nicht. Beengt war sie und gedrückt, wie eingeschlossen von einer hohen, kalten, mit Schimmeln und Pilzen bedeckten Mauer. (Schluß folgt.)