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Sonntag

12. Dezember 1926

Unterhaltung und Wissen

Mitsouko.

Bon Boltmar Iro.

Sie trat näher an die Rampe und schluchzte in das winzige Taschentuch aus Papier. Ein schwarz gekleideter Mann tauerte vor ihr und hielt eine Kerze hoch, die grell den zuckenden Schmerz des fleinen, weißgeschminkten Gesichtchens aus dem Dunkel hob.

Rückwärts wurde ein blühendes Gebüsch auf die Bühne ge= schoben, darüber erschien, baumelnd auf einer Stange, ein roter Lampion, während zu der leisen Musik von Lauten, kleinen Trom­meln und einer Harfe die beiden Ansager, in einer Nische neben der Bühne hockend, dem Publikum die Ursache des Schmerzes der fleinen Mitsouto und die Handlung der nächsten Szene erklärten:

Sie war von ihrem Vater auf zwei Jahre an ein Teehaus ver­mietet, damit er seinen verschuldeten, kleinen Besiz halten fonnte. Jetzt nahm sie im Garten Abschied von Eltern, Geschwistern und Bräutigam, da die Sänfte des Teehausbesizers schon vor dem Hause martete.

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Mitsouto stand an der Rampe und sah starr in die Dämmerung des Zuschauerraumes. Der Ansager rief ihr den Tegt ihrer Rolle zu fie hörte nicht. Schon begann die Musit zum zweiten Male die langsame Melodie des Liedes, das sie in dieser Szene zu singen hatte. Sie sang nicht, starrte in die Dämmerung. Nur ihr tirsch­großer, rotgezeichneter Mund flüsterte: Wir werden in sieben Leben glücklich sein, Dashu!"

Der Ansager flopfte mit seinem langen Bambusstab auf die Bühne. Sie befann sich und schritt langsam zu den Blüten, liebfoste sie weinend mit den kleinen Fingern. Von der sanften Musik war jetzt nur noch die Harfe deutlich. Das Ausklopfen der kleinen Ton­pfeifen im rauchigen Parkett verstummte. Durch die Stille ging das Schluchzen von Männern und Frauen. Nasse Gesichter wandten fich gegen den Gang, der durch die Mitte des Parketts zur Bühne führte:

Der alte Bater wantte zwischen seinen beiden Söhnen, dahinter die Mutter und der Bräutigam, alle mit Blumentörben in den Händen. Mitsouto warf sich vor den trostlosen Eltern auf die Matte und klagte, daß sie dem alten Vater nicht mehr den Garten pflegen, der Mutter die Hausarbeit erleichtern könne. Sie beugten sich zu ihr nieder und steckten ihr Pflaumenblüten in das Haar. Als die troftlosen Eltern ihren Segen gaben, verschlang eine drohende Baute Lauten und Harfe:

Mitsouto erhob sich, trat an die Rampe und verneigte sich tief vor der Sänfte die polternd durch das Parkett hereingetragen wurde. Nur ihre Lippen zuckten und die kleinen Fäuste hielten ver­frampft das Bündel mit den Kleidern aber ihr Gesicht lächelte und unter Tränen lächelnd stieg fie in die Sänfte, winkte lächelnd zurüd.

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Und während noch Musik und Ansager den Schmerz der Eltern beschrieben, drehte der Kerzenträger auf der Bühne plötzlich eine raffelnde Holzklapper, schrie über die Musik in das schluchzende Barkett, daß es nach Mitternacht sei und die Vorstellung am nächsten Tage weitergehe.

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Frauen hoben ihre schlafenden Kinder auf den Rüden, die Männer pacten die Proviantförbchen, Bolster und Meffingbecken mit den glühenden Holzkohlen, besorgten im Vorraum die ab= gegebenen Holzschuhe und bestellten bei dem Direktor, der alle hinausbegleitete, die Pläße für den nächsten Tag.

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Das Teehaus im Vorderbau des Theaters erhielt nach der Vor­stellung Besuch.

Eine Schar von Mädchen lief den Männern entgegen, die über die schmale Holztreppe in das Obergeschoß hinaufstiegen, warf sich vor ihnen zur Begrüßung auf die Matten, erhob sich langsam und verschwand. Die Papierwände glitten lautlos auseinander, sechs Kerzen fladerten auf hohen, dünnen Leuchtern. Die Mädchen brachten Kohlenbecken, handhohe, lackierte Tischchen mit winzigen Gerichten auf Porzellantellerchen, fleine Krüge mit Reiswein. Ein dicker Seidenmaler ließ sich feuchend auf seine Matte nieder und wünschte Mitsouko zur Nachbarin. Man rief ihren Namen durch

die Papierwände.

Eine Wand öffnete sich, fie trat mit einer Berbeugung ein, die

Pflaumenblüten zwischen goldenen Nadeln im Haar, im gleichen Kimono wie auf der Bühne: Zwei filbergestickte Reiher hoben auf blauer Seide die Schnäbel gegen den silbernen Mond.

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Mitsouto fauerte fich neben den Maler und hielt die Händchen über die Glut. Nahm nur etwas Krebs, spießte mit einer Haar­

nadel winzige Konfitüren auf. Der Maler bediente sich ausgiebiger und verzehrte drei Fischgerichte in Sojatunke, Rüben und Reis, Omelette und eingemachte Früchte, trank etliche Schälchen heißen Reiswein, hielt einen Vortrag über die Kunst der alten Schauspieler und lobte die glänzende Leistung Mitsoutos an diesen Abend. Sie bedauerte, daß ihr Können zu gering sei, um einer solchen Belobung mert zu sein. Sie verdante alles ihrem Lehrer, der ihr sechs Jahre im Tanzen, Lautenspielen, Singen und guten Manieren Unterricht gegeben habe. Ob sie nicht zu heiraten wünsche? Er tenne sie jetzt seit zwei Monaten und suche eine gebildete, hübsche Frau

Der Maler nickte würdevoll.

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Sie lächelte. Der Mann, den sie liebte, sei zu arm, um sie aus dem Teehaufe loszukaufen. Ihr Vertrag laufe noch achtzehn Monate überdies wünsche die Familie ihres Geliebten, daß er zu einem Verwandten nach Franzisko in Stellung gehe.

Sie tämpfte mit den Tränen und nahm rasch ihr winziges Buderdöschen. Malte Lippen, Augenbrauen und die dünnen Striche unter den Lidern nach, brannte sich die kleine Pfeife an und horchte höflich den Heiratserklärungen des Malers zu.

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Aus dem Nebenraum tam sanfte Musik von Gitarren und Bauten. Einer der jungen Leute klatschte in die Hände die Papierwand glitt zur Seite: Vor den drei Mädchen, die musizierten, standen sechs Mädchen in bunten Kimonos, die weißgeschminkten Gefichtchen folett hinter den Fächern versteckt. Sie begannen eine fleine Bantomime, tanzten mit winzigen Schritten fast immer auf der gleichen Stelle, haschten nach einander und hoben die weiten Aermel der Kimonos wie Flügel.

Nach ihnen sang ein Mädchen zur Laute. Lieder vom Vollmond über blühenden Kirschgärten und von den Heldentaten der sieben­undvierzig Ronin. Als sie geendet hatte, setzte sie sich in den Kreis der Zuhörer und gab eine Melodie an, die von allen Mädchen mit zarten Bewegungen der Schultern begleitet wurden. Mitsouko stand in der Mitte des Kreiſes und mimte während des Gefanges ein Wäschermädchen, das bei seiner Arbeit übermütig die Fische lockte

und vertrieb.

Während des Singens tam Dashu. Sie verbeugte sich lächelnd, er erwiderte tief ihren Gruß und setzte sich zu ihr. Man gab jetzt

Vom klugen Herrn Geßler.

Bon meinem Ministersessel soll mich so leicht keiner herunterkriegen!"

" Nun rüttle mal einer an mir und meinem Seffel...!"

Rätsel auf, lachte kindlich über Gesellschaftsspiele und Nedereien, der Maler verhandelte eindringlich in einer Ecke mit dem Teehaus befizer.

Beim ersten Hahnenschrei brachen die Männer auf. Die Mäd­chen gingen bis zur Treppe mit und verabschiedeten sich mit tiefen Berbeugungen. Dann verrechneten sie mit dem Besizer, der zu frieden nickte: Ein Mädchen lieferte allein für Reiswein vierzig

Sen ab.

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wurden schon die Plakate deutlich, auf welchen mit farbiger Tusche Dashu wartete vor dem Theater. Im Grau des Morgens über die Bretterfront des Theaters Szenen des laufenden Stückes gemalt waren. Mitsouko schlich leise über die Treppe herab, neigte fich tief vor dem vergoldeten Hausalter. Ihre Hand hielt eine weiße Hanfschnur.

in das Dunkel unter niedrigen Kiefern. Ein kleiner Teich lag Dashu tam ihr entgegen, fie liefen rasch über den leeren Platz schwarz zwischen Ufern von Schilf und Lotosblättern. Mädchen, verknüpfte ihre und seine Hände mit der Schnur. Dashu band sich mit dem Gürtel ihres Kimonos an das Sie traten knapp an den Rand des Weihers.

Er flüsterte: Ich werde jetzt dein Antlik immer sehen!" Sie nickte. Ihr Blick hing an seinem Gesicht. ,, Wir werden jetzt in sieben Leben glücklich sein, Dashu!" Er schloß die Augen und ließ sich nach rückwärts fallen. Die grünen Lotosblätter schwangen noch eine Weile in den reisen der kleinen Wellen, dann lag das schwarze Waffer wieder still.

Gapon.

Der schwarze Sonntag.

,, Niemals wird die Weltgeschichte den Blutfleck abwaschen, mit dem an diesem Sonntag in Petersburg die Ehre der Menschheit besudelt Ein Bild von geheimnisvoll unheimlicher Macht wie

worden ist.

der Zug der Beter, die am Sonntag zum Zaren wollten, um ihm die

Not des Bottes zu tlagen, mit dem Kreuz voran, und dem Bild des geliebten Herrn." Borwärts", 24. Januar 1905.

An der Spitze des Zuges schritt der Priester Georgi Gapon. leber Nacht war dieser Gefängnispfarrer, dessen Predigten an die Herzen griffen, zum Abgott der Petersburger Arbeiter geworden. Ehrlicher Eifer war es, der ihn die politisch unaufgeflärten Arbeiter um sich scharen ließ, und nach dem Beispiel Moskaus in Arbeitervereinen sammelte, um sie materiell zu unterstützen und ihnen. die Möglichkeit zu gewähren, sich über ihre wirtschaftlichen Nöte auszusprechen. Waren in Moskau diese Arbeitervereine reine Schöpfungen der politischen Polizei, die auf diese Weise die Arbeiter von den gefürchteten illegalen revolutionären Parteien, in erster Linie von der Sozialdemokratie fernzuhalten gedachte, so waren sie hier in Petersburg gewissermaßen aus den Bedürfnissen der Ar­beiterschaft selbst hervorgegangen. Gapon, der Vorsitzende des Petersburger Gesamtvereins diente mit Leib und Seele der Sache der Arbeiter. Daran änderte selbst die Summe Geldes nichts, die er von der politischen Polizei für seinen Berein erhalten hatte..

Beilage des Vorwärts

Immerhin: Sowjetgranaten mit ihrem schönen schweren Gewicht dürften geeignet sein..."

HD

.... O verflucht...!"

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Der Glaube, daß die Behörden es mit den Arbeitern gut meinten, verließ ihn auch dann nicht, als alle seine Versuche, Recht für die vier aus den Butilomschen Werfen entlassenen Arbeiter zu finden, erfolglos blieben. Er hielt auch noch daran fest, als die Ar­Ausstand traten, als die Petersburger Fabriken eine nach der an­beiter dieser Werke, herausgefordert durch die Administration, in den dern sich dem Streit ihrer Kollegen anschlossen und schließlich am 20. Januar der allgemeine Streit perfett war. 150 000 Arbeiter hatten die Arbeit niedergelegt. Neben anderen Forderungen war burger Arbeiter, noch gott- und zarengläubig, hatten beschlossen, auch die des Achtstundentages zur Parole geworden. Die Peters­unter der Führung ihres Gapon zum Zaren zu gehen und ihm eine Petition zu überreichen: Er, den seine Minister in Unwissenheit wie sehr die Fabrikanten sie ausbeuten; er würde schon Rat und halten, würde sich schon seiner Kinder annehmen, wenn er wüßte, Silfe für sie finden. Tat er dies nicht, so gab es feinen Saren

mehr."

Der 22. Januar( 9. Januar alten Stils) endete mit etwa 600 bis 1000 Toten und Verwundeten. Es gab feinen Zaren mehr!

Gapon hatte sich unter dem Kugelregen zu Boden geworfen. Neben ihm lag das Mitglied der Sozialrevolutionären Partei Rutenberg. Dieser half ihm zur Flucht über die Grenze. Seit diesem Augenblick vertraute Gapon ihm blind. Bierzehn Monate später führte ihn Rutenberg seinen Richtern, den revolutionären Arbeitern Petersburgs zu. Der Prozeß war furz, das Urteil hart. Die Richter waren zu gleicher Zeit auch die Vollstrecker. Gapons letzte Worte waren die Bitte, ihn um seiner Bergangenheit willen Bergangenheit. Du hast sie den schmutzigen Spizeln vor die Füße zu verschonen. Hart scholl die Antwort zurück: Du befizt feine

geworfen.'

Hatte sich Gapon wirklich der politischen Polizei verkauft? ünd falls ja, wie war er dazu gekommen? Der Weg war der übliche: die zaristische politische Polizei hatte in der Kunst des Seelenfanges nicht ihresgleichen.

revolutionären Partei, den Sozialdemokraten und den Sozialrevolu Gapon war nach der Flucht ins Ausland von den Führern der tionären, mit offenen Armen empfangen worden. In Genf er­flärte er, er fei Sozialdemokrat; in Paris trat er der Sozialrevolu­tionären Partei bei, um nach furzer Zeit wieder aus ihr zu scheiden. Aber während der kurzen Zeit seiner Zugehörigkeit zu ihr hatte er die Mitglieder des Zentralfomitees und der Kampfesorganisation, darunter auch ihren Leiter Aseff, der gleichzeitig Spizel der poli­tischen Polizei war, fennengelernt; er hatte tiefe Einblide in die Tätigkeit der Organisation erhalten.

Ende Dezember fehrte Gapon endgültig nach Petersburg zurüd. Schon früher war er dort gewesen: im Ottober, furz nach Ber­öffentlichung des Zarenmanifestes, das Rußland nach dem verlorenen Krieg mit Japan die Parodie einer Konstitution geben sollte. Damals hatte er eine Zusammenkunft mit Makuiloff, dem Beamten für beson­dere Aufträge bei Witte. Er verhandelte mit ihm wegen Wieder­eröffnung der Arbeitervereine. Im Dezember traf er aber bereits mit dem Direktor des Polizeidepartements Lopuchim zusammen und unterhielt hinterher regelrechten Verkehr mit dessen Gehilfen Ratschkowsky, der rechten Hand des Innenministers Durnowo . Er hatte sich bereits in die kunstvoll gelegten Netze der politischen Polizei verstrict. Er erzählte nun alles, was er über die Tätigkeit der