Nr. 601 43. Jahrg. Ausgabe A nr. 306
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Mittwoch, den 22. Dezember 1926
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Landau , 21. Dezember. ( WTB.) Um 6 Uhr 30g fich der Gerichtshof zur Beratung zurüd. Um 7,15 Uhr erschien er wieder Im Saal und verkündete folgendes Urteil:
Leutnant Rouzier wird von allen Punkten der Anklage freigesprochen.
Holzmann wegen beleidigender Haltung gegenüber einem Mitgliede der Befahung zu zwei Monaten Gefängnis mit Strafaufschub verurteilt.
Mathes wegen beleidigender Haltung und Beteiligung an den Vorgängen in Sodernheim zu zwei Jahren Gefängnis. Fechter wegen beleidigender Haltung und wegen Beteiligung an den Vorgängen im Café Engel zu sechs Monaten Gefängnis. Regel wegen Beteiligung an den Vorgängen in Sondernheim zu drei Monaten Gefängnis.
haftet, soweit sie nicht vorsichtshalber rechtzeitig ins un-| französische Kriegsgerichte gegenüber deutschen Angeklagten besetzte Gebiet geflüchtet sind. der elementarsten Objektivität unfähig sind.
Zunächst scheint es also, als ob von dem Geist von Locarno und Thoiry bei der ersten schwierigen Belastungsprobe nichts übrig geblieben wäre. Und doch tritt er in Erscheinung: Der Reichskommissar Langwerth v. Simmern und der Oberkommissar Tirard erlassen einen gemeinsamen Beruhigungsaufruf. Die zunächst gegeneinander arbeitenden Behörden sollen sich bei der Klarstellung des blutigen Borfalles gegenseitig helfen. Eine Beruhigung der Geister tritt ein. Es braucht nur noch ein gerechtes Urteil gefällt zu werden - und der tragische Borfall wird bald vergessen sein. Ein gerechtes Urteil würde dazu beitragen, das Wert der deutsch - französischen Berständigung zu fördern.
Arbogast wegen der Germersheimer Vorgänge zu sechs Monaten Gefängnis. Roegler wegen Beteiligung an den Germersheimer Bor- lich hätte es ein internationaler Gerichtshof mit neutralen fällen zu sechs Monaten Gefängnis.
Es wa im Frühjahr 1923. Die Franzosen hatten das Ruhrgebiet besetzt. 3wischen Deutschland und Frankreich bestand zwar fein offizieller Kriegszustand, aber es fehlte daran nicht viel. Die Geister hüben und drüben waren mit fast ebenso viel nationalistischem Haß erfüllt wie in den vier Jahren des Völkermordens. Eines Morgens, unmittelbar vor dem Osterfest erscheint eine französische Abteilung in einem Kruppschen Betrieb in Essen . Die Arbeiter legen die Arbeit sofort nieder und versammeln sich vor den Toren des Betriebs. Der befehlshabende Leutnant wird nervös, fühlt sich und seine Leute tatsächlich oder angeblich bedroht, kommandiert ,, Feuer!" und dreizehn deutsche Arbeiter bleiben tot liegen. Ungeheure berechtigte Empörung geht durch ganz Deutschland . Als hätte es aber die damalige Regierung Poincaré darauf abgefehen, diese Erbitterung mit raffinierten Mitteln zu steigern, zieht sie aus diefer blutigen Tragödie die provozierendsten Ronsequenzen: nicht etwa der leichtfertige Leutnant wird unter Anflage gestellt, sondern die Direktoren von Krupp sowie ein Betriebsratsmitglied. In Werden a. d. Ruhr tritt ein Kriegsgericht zusammen und verurteilt die deutschen Angeflagten wegen eines widerfinnig konstruierten Berdachtes der Komplottanstiftung" zu grausamen Zuchthausstrafen.
Nichts hat in diesen aufregenden Monaten der Ruhrbesetzung die Empörung des deutschen Boltes so gesteigert mie diefe Tragikomödie der Militärjustiz in Werden a. d. Ruhr. Wohl sind, verhältnismäßig bald, die Berurteilten begnad gt worden, allen voran Herr Krupp von Bohlen , für den fich seine Kollegen von der französischen Schwerindustrie aus geschäftlichen Gründen lebhaft einsetzten. Aber die Erregung über dieses Kriegsgerichtsurteil zitterte in Deutschland noch monatelang nach. Ihnen verdankten bei den Reichstagswahlen im Mai 1924 Deutschnationale und Bölfische Hunderttausende von Stimmen. Ueber alle Maßen hatte sich die Hoffnung erfüllt, der die Deutsche Zeitung" zu Beginn der Ruhrinvasion Ausdrud verliehen hatte: Gott erhalte uns Boincaré!"
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Dreieinhalb Jahre später, im Herbst 1926. Dreieinhalb Jahre, in denen außenpolitisch das Antlitz Europas fich mehr verändert hat als es die fühnsten Optimisten jemals zu prophezeien gewagt hätten. Die Deutschen haben ihren Einzug in Genf unter stürmischen Ovationen gehalten, von Briand im Namen aller Völkerbundstaaten herzlich begrüßt. Mit Riesenschritten nähert man sich dem Frieden, dem wahren, von der erdrückenden Mehrheit der Bölker er sehnten Frieden. Es folgt die Zusammenkunft von Thoiry. Der Gedanke der baldigen Räumung der besetzten Gebiete wird öffentlich und sogar offiziell erörtert. Aber kaum sind die Staatsmänner heimgekehrt, da lodert aufs neue die Flamme der Empörung in ganz Deutschland auf: im Pfälzer Städtchen Germersheim, das schon verschiedentlich Schauplatz von Zusammenstößen zwischen deutschen Bewoh nern und französischen Besatzungsangehörigen gewesen ist, hat ein junger Leutnant zwei Menschen niedergefnallt. Einer bleibt sofort tot liegen, der andere schwebt wochenlang zwischen Leben und Tod und bleibt schließlich mit einem Kopfschuß doch noch am Leben.
Was war geschehen? Deutscherseits wurde sofort be. hauptet, der Leutnant habe ohne Not, aus purem provo fatorischen Uebermut geschoffen. Franzöfifcherfeits wird aber ebenso prompt die Version des Komplotts", ähnlich wie nach der Essener Oftertragödie von 1923, in Umlauf gefeßt. Alle beteiligten Deutschen , auch die Verlegten, werden ver
Leider aber war die Hoffnung auf ein solches unparteilsches Urteil von vornherein sehr schwach. Wahrschein Richtern gefällt. Bei einem deutschen Gericht ist das schon weniger wahrscheinlich. Bei einem Kriegsgericht mar es ausgeschlossen.
Wo in der Geschichte und in aller Welt hat ein Kriegsgericht jemals ein gerechtes Urteil gesprochen? Die de utchen Kriegsgerichte der Borrevolutionszeit haben eine endlose Reihe von Schandurteilen auf dem Gemissen. An der französischen Kriegsgerichtsbarkeit bleibt auf ewig der Fall Dreyfus haften. Während des Krieges haben französische Standgerichte massenhaft Justizmorde vollbracht, über die heute noch, nachdem die Wahrheit durch die Liga für Menschenrechte aufgedeckt wurde, in Frankreich die Erregung nachzittert. Die Fälle Krupp und Genoffen in Werden a. d. Ruhr und Rath usius in Lille beweisen zur Genüge, daß
in Landau eine rühmliche Ausnahme bilden. Selbst deutsche Fast schien es jedoch zunächst, als sollte das Kriegsgericht Zeitungsberichterstatter hatten den Eindruck einer ruhigen, objektiven Berhandlungsführung. Die Beweisaufnahme schien in den meisten Punkten die Darstellung der deutschen amtlichen Dentschrift zu bestätigen. Danach hatte der blutjunge Leutnant Rouzier faltblütig, ohne eine Spur von wirklicher Notwehr einen Menschen getötet, einen zweiten schwer und einen dritten leicht verlegt. Die ursprüngliche französische Version des nationalistischen Komplottes" war schon durch die Tatsache ad absurdum geführt, daß die meisten Hauptbeteiligten Iintsgerichtet sind: Holzmann, der als erster einen Reitpeitschenhieb ins Gesicht und sodann einen leichten Kopfschuß erhielt, ist Sozialdemo trat und Reichsbannermann( fein Vater ist Vorsizender des sozialdemokratischen Ortsvereins von Germers heim). 3wei weitere find Reichsbannermitglieder und Demos fraten. Der erschossene Müller tam ganz zufällig hinzu und war völlig unpolitisch. Es ist auch garnicht mehr in Landau versucht worden, einen politischen leberfall durch die Deutfchen zu konstruieren. Und was die Rauferei betrifft, so steht fest daß sie von sinnlos betrunkenen franzöfifchen Soldaten verursacht wurde. Ueberhaupt scheint der Alkohol in der weinreichen Pfalz eine wichtige Rolle bei diesem Vorfall gespielt zu haben und nicht nur bei diesem. Aber gerade Rouzier, der Schießheld, war nüchtern im physischen Sinne. Geistig scheint er dagegen im chronischen Siegesrausch eines unreifen Besagungsleutnants geschwelgt zu haben, der sich einbildet, er verkörpere in seiner Person und
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Die Lösung der Regierungskrise?
Minderheitsregierung mit einer Mehrheit.
Das Berliner Zentrumsblatt, die Germania " bringt| Andernfalls wären die Verhandlungen von vornherein wieeinen bemerkenswerten Aufsatz zur Regierungskrise. Deutsch - der mit jener Unaufrichtigkeit belastet, die die Ursache nationale und Sozialdemokraten, so wird darin ausgeführt, der gegenwärtigen Krise ist. feien nicht mehr gewillt, eine Minderheitsregierung zu tolerieren, die es ablehne, sich nach der einen oder nach der anderen Seite zu binden. Daraus ergibt sich für die Ger mania " zunächst folgendes:
Das erste ist also Anerkennung der Notwendigkeit, eine Re gierung zu bilden, die von vornherein eine Mehrheit hinter sich hat. Kommt das schon in der Zusammensetzung der Regierung zum Ausdrud, gut. Man braucht aber nicht intransigent zu sein, nur diese Form als Ausdruck klarer Mehrheitsverhältnisse anzusehen. Auch eine Regierung, die nach außen als Minderheits. regierung erscheint, fann ihrem Wesen nach eine Mehrheitsregierung sein, wenn sie entschlossen ist, ihre Mehrheit mur nach der einen Seite hin zu suchen.
Die zweite Notwendigkeit besteht nach der Germania " darin, daß die Parteien, die sich zur Mehrheitsbildung zuBolitik einig sind. Das sei aber bei der bisherigen sammenfinden, über die Grundrichtung ihrer der Großen Koalition näher gewesen als in den letzten Roalition der Mitte nicht der Fall gewesen. Nie sei man Wochen die Bolkspartei aber habe sie umgebracht, noch ehe sie geboren war. Weder für eine Rechtsregierung noch für die Weimarer Koalition sei eine Mehrheit da, beide seien als ausgesprochene Kampfregierungen jeden eine Regierung der Mitte möglich, doch müffe die Mitte zuAugenblick vom Sturze bedroht. Darum sei wiederum nur nächst im eigenen Hause nach dem Rechten sehen.
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Was die ,, Germania " in diplomatisch vorsichtiger Form vorschlägt, läuft im Grunde genommen auf die neuerung des Abkommens hinaus, das vor einigen Wochen zwischen der Regierung und der Sozialdemokratischen Reichstagsfrattion geschlossen worden war. Dieses Abkom= men ist bekanntlich nie in Kraft getreten, weil die Bolkspartei ihm die Anerkennung verweigerte.
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Zentrumskritik an der Reichswehr .
" Fort mit der Romantik."
Höln, 21. Dezember.( Eigener Drahtbericht.) In rheinischen 3entrumsfreifen scheint sich allmählich die Auffassung durchzuringen, daß die Niederlage des Kabinetts Marr hätte verhindert werden Pönnen, wenn das Reichswehrproblem rechtzeitig gelöst worden wäre. Bemerkenswert sind in dieser Hinsicht Ausführungen, die aus parlamentarischen Kreisen der rheinischen Bolts wachi", dem offiziellen Kölner Zentrumsblatt, übermittelt werden und die das Blatt am Dienstag abend ohne Kommentar auf der ersten Seite abdruckt. Unter der Ueberschrift ,, Fort mit der Romantit sprechen wir offen darüber" wird darauf hingewiesen, daß die mittelparteien, besonders das Zentrum, sich der Frage der Reichswehr nicht länger entziehen dürfe. Die letzten Enthüllungen jedenfalls im Ausland, besonders in Frankreich , schon genauer bebestätigen nur das, was man schon längst gewußt habe, und was Reichswehr nicht politisieren, denn das wäre sie heute leider schon fannt gewesen sei als in Deutschland . Die Zentrumspartei wolle die weitgehend genug. Die Reichswehr sei und bleibe ein Instrument der Berteidigung. Angriffsweise Aufgaben könne und dürfe sie nicht erfüllen. Leider fönne man aber nicht sagen, daß dieser Geist bei der Reichswehr augenblicklich vorhanden sei. Man sei
behert gewesen vom Gedanken des Krümpersystems, worunter man das System verstehe, das das alte Preußen gegen Napoleon angewendet habe.
Die Folgen diefer Politik seien bekannt. Dieser Geist sei Erschlimmste Militärromanfit von Anno dazumal gewesen und selbst wenn man annehme, daß die Macher das ehrlich und gut gemeint hätten, müßte man doch das tiefste Bedauern empfinden über Dinge, die uns viel gescha det und nichts genügt haben. Als Schlußfolgerung aus diesen Tatsachen müsse man zu der Erkenninis tommen, daß eine Romantik aufgegeben werden müsse, die nun ein. mal nicht mehr bestehen könne. Neuer Geist in der Reichswehr werde von selbst den Wehrverbänden ein gutes Stüd ihrer Bopufarität und ihres praftischen Nugens nehmen. Ge dränge sich bas Problem auf die einzige Forderung zusammen:& ort mit der Militär romantit!"