Abendausgabe
Nr. 31 44. Jahrgang Ausgabe B Nr. 15
Bezugsbedingungen und Anzeigenpreife find in der Morgenausgabe angegeben Redaktion: SW. 68, Lindenstraße 3 Fernsprecher: Dönhoff 292- 292 Tel.- breffe: Sozialdemokrat Berlin
10 Pfennig
Mittwoch
19. Januar 1927
Vorwärts=
Berliner Volksblatt
Berlag und Angetgenabteilung Gefchäftszett 8 bis 5 Uhr Berleger: Borwärts- Berlag GmbH. Berlin S. 68, Lindenstraße 3 Fernsprecher: Dönhoff 292- 297
Nächtlicher Fabrikbrand.
-
Gewaltiger Sachschaden. Niemand verletzt.
Ein gewaltiges Feuer tam gestern nacht furz nach 1 Uhr in einer großen Montagehalle der AEG. in der Brunnen. ftraße 107a zum Ausbruch. Auf den Alarm„ Großfeuer" eilten fechs Löschzüge unter Leitung des Oberbranddirektors Gempp, des Branddirektors Hammer und mehrerer Bauräte herbei.
Das Feuer war gegen 442 Uhr im Dachstuhl der Betriebshalle, in der fertiggestellte Großmaschinen, Transformatoren usw. geprüft werden, entstanden. Nach kurzer Zeit war die Fabriffeuerwehr zur Stelle. Das Feuer hatte aber bereits solche Ausdehnung angenommen, daß die Berliner Feuerwehr zur Hilfe gerufen wurde. Beim Eintreffen der Wehren brannte die Halle bereits in einer Länge von über 100 Metern lichterloh.
Die Flammen hatten beim Eintreffen der Wehren schon auf die anschließende Südhalle übergegriffen. Das Dach, bas zum Teil aus Eisen, zum größten Teil aber aus Holzzement besteht, war ein einziges Flammenmeer. Ungewöhnlich starte Strahlenhige und ftidige Rauchgase erschwerten den Löschangriff, den die Wehrleute
nur mit Rauchmasten vornehmen konnten. Als die ersten Mannschaften in den brennenden Raum einbringen wollten, stürzte unter donner. artigem Getöse ein Teil der Dachkonstruktion in die Tiefe, eine wert volle Rrananlage mit sich reißend. Oberbranddirektor Gempp sah
Der Reichstag tritt zusammen. Beschluß der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion. Die sozialdemokratische Reichstagsfrat. tion ist um 12 Uhr zu einer Fraktionsfigung zusammengetreten, in der sie, zunächst einen Bericht des Frattionsvor fizenden Genossen Hermann Müller entgegennahm. Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion faßte nach längerer Beratung folgenden Beschluß:
Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion hat eine grundsäglichen Bedenken, eine Regierung der Mitte zu unterstügen. Die endgültige Entscheidung der Fraktion tann aber erst erfolgen, wenn das Pro= gramm und die Zusammensehung der Regie= rung befannt sein werden.
Der Reichstag tritt heute nachmittag 3 Uhr zu einer Blenarsizung zusammen. Die Sigung wird voraussichtlich nur furz sein.
Reichskanzler Dr. Marg hat heute vormittag dem Reichspräsidenten über seine bisherigen Verhandlungen Be
richt erstattet.
Die Fraktionen der übrigen Parteien sind ebenfalls in den Mittagsstunden zusammengetreten; ihre Verhandlungen werden nach dem Schluß der Plenarsigung weitergeführt werden.
Genosse Severing wieder im Reichstag. Genosse Severing hat heute feine parlamentarische Tätigkeit wieder aufgenommen. Er wurde bei seinem Eintritt in die Sigung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion von allen Seiten lebhaft und herzlich begrüßt.
Bürgerliche für Mietwucher. Antrag für Aufhebung der Wohnungswirtschaft. Bei der Fortsetzung der Beratungen über das Wohnungswesen Im Hauptausschuß des Preußischen Landtags am Dienstag wies Heese Wiesbaden( Soz.) die Angriffe der bürgerlichen Parteien auf die Wohnungszwangswirtschaft zurüd. Er mendet sich besonders gegen die Verordnung über die Herausnahme der gewerb lichen Räume und großen Wohnungen aus der Zwangsbewirt fchaftung. Das hat große Unruhe unter den Gewerbetreibenden Derursacht. Für die Hebung der Bautätigkeit 1927 muß durch die baldige Berabschiedung des Wohnungsbauprogramms, wie es die fozialdemokratische Fraktion gefordert hat, Gorge getragen werden, damit die große Anzahl der erwerbslosen Bauarbeiter, die sich im De zember auf 41,5 Broz. gesteigert hat, Beschäftigung erhält. Redner forderte meiter Ausbau des Bauarbeiterschußes, weil im Jahre 1925 eine Steigerung der entschädigten Infälle um 72 Broz. gegen 1924 eingetreten ist. Gen. Drügemüller trat für die Zurüd nahme der Verordnung des Ministers vom 11. November 1926 ein. Er behandelte besonders die Auswirtung der Berordnung in den Brovinzen und Kleinstädten. Redner forderte für Berlin und den Großstädten mehr Berücksichtigung bei der Berteilung der Mittel aus dem Ausgleichsfonds, da diese Städte eine größere Anzahl von Wohnungssuchenden haben.
Genosse Lüdemann trat in scharfer Form den Ausführungen hes Bertreters der Wirtschaftspartei, des Abg. Ladendorf, entgegen, der versucht hatte, die Protestaktion der Gewerbe treibenden lächerlich zu machen und die Wohnungsnot und Wohnungszwangswirtschaft auf die Revolution zurückzuführen.
Bei der Abstimmung wurde der Antrag der sozialdemokratischen Fraktion abgelehnt, der dahin ging, die Berordnung vom 11. No nember 1926, betr. Lockerung des Mieterschutzes zurückzuziehen ader wenigstens das Inkrafttreten der Verordnung auf den 1.Oktober
-
fich veranlaßt, wegen der weiteren drohenden Einsturzgefahr die Mannschaften zur größter Borsicht zu ermahnen. Glücklicherweise wurde niemand verlegt. Das Feuer fonnte schließlich von vier Seiten eingefreift werden. Insgesamt wurden etwa 12 bis 14 Schlauchleitungen größter und kleinerer Kaliber sowie drei mechanische Leitern eingesetzt. Erst gegen 25 Uhr morgens war die Hauptgefahr beseitigt. Die Aufräumungsarbeiten dauerten bis in die Bormittagsstunden hinein. Dem Feuer find große Werte, wie Maschinen und Apparate zum Opfer gefallen. Auch der Gebäudefchaden ist sehr bedeutend. Ein Restaurationsbetrieb, der fich in einem auf der Halle hergerichteten Dachgarten befand, fiel dem Feuer restlos zum Opfer. Die Entstehungsursache ist noch nicht einwandfrei geflärt worden. Das Feuer foll durch Kurzschluß entstanden sein, doch wird andererseits Brandstiftung vermutet.
Sonderbarerweise brach gegen 10 Uhr abends, alfo nur wenige Stunden zuvor, in derselben Halle Feuer aus, das die Fabrikfeuerwehr nach furzer Zeit löschte.
Die polizeiliche Untersuchung ist noch nicht endgültig abgeschlossen. Trotz der späten Nachtstunden war die Brandstelle von einer riesigen Menschenmenge umlagert. Ein starkes Schupoaufgebot hielt die Ordnung aufrecht.
1927 zu verschieben und sie daraufhin einer Nachprüfung zu unterziehen, ob nicht für die Ateliers der bildenden Künstler und für die Labenräume eine andere Regelung angebracht ist.
Dagegen stimmten das Zentrum, die Demokraten und Rechtsparteien. Statt dessen wurde ein Antrag der Bolkspartei, des Abg. Grundmann, mit den Stimmen des Zentrums angenommen, der das Staatsministerium ersucht, auf die Reichsregierung einzu wirfen, unverzüglich einen Plan für den Abbau der gesamten Wohnungszwangswirtschaft vorzulegen.
Die Matteotti- Dokumeute in Sicherheit.
Durch Salvemini in London hinterlegt.. Eine Abschrift der Untersuchungsaften des Prozesses Mat teotti ist in Lond on an sicherer Stelle von dem bekannten italienischen Historiker Professor Salvemini hinterlegt worden. Diese Abschrift des Professors Salvemini wird durch reiches geschichtliches Material ergänzt und ist von ihm bereits für sein Bert über den Faschismus verwertet worden, das in einem der nächsten Monate in englischer, deutscher, französischer und spanischer Sprache erscheinen wird. Eine weitere Abschrift der Untersuchungs. atten ist in Paris für die Arbeiten der Kommission zur untersuchung der Verbrechen Mussolinis sicher untergebracht worden. Diese Kommission hat eine umfangreiche Sammlung von 3eugnissen und Dokumenten angelegt, aus denen die Verstöße gegen Recht und Gesetz durch Behörden und Bersönlichkeiten hervorgehen, die für die faschistischen Verbrechen verantwortlich sind.
Der indische Lassalle.
Shiva Rao, ein Kämpfer für Freiheit und Recht.
Madras, Ende Dezember 1926.
In unserem Europa und besonders in Deutschland stehen heute die politischen und sozialen Organisationen wie steinerne Tempelbauten da. Die Priester darinnen, die Führer, fönnen abgehen oder wegsterben, ohne daß der Bau sein Antlig ver den Ländern Europas einmal war. Da gruppieren sich die ändert. In Indien ist es noch anders. So, wie es auch in Bewegungen noch um die ragenden Säulen einzelner Perfönlichkeiten. In Bombay und Umgebung sind dies die Servants of India", eine fleine Ordensgruppe mit nationalen und sozialen Bestrebungen, aus der auch Joshi hervorging.
Im nächsten Industriekreise, in und um Ahmedabad , lebt die politisch- soziale Bewegung vom Odem des Mahatma Gandhi .
Befant, das Haupt der theosophischen Gesellschaft, ReHier in Madras ist es die Irländerin Frau Anni daftrice der Tageszeitung New India" und nie rastende Kämpferin für Indiens Freiheit, die den Mittelpunkt der öffentlichen Gruppen und Bewegungen darstellt.
Ihrer Schule ist ein Reis entsprungen, dessen ferneres Wachstum man mit Interesse verfolgen mag: es ist der dreiEr ist nicht Zoll für Zoll ein Lassalle, denn dann wäre er eben unddreißigjährige Shiva Rao, der indische Lassalle. nicht indisch. An Lassalle erinnern äußerlich seine etwas semitischen Gesichtszüge samt dem dunklen Kraushaar, doch nicht indisch. An Lassalle erinnern äußerlich seine etwas ist der Ausdrud seiner Augen indisch sanft und ein wenig träumterisch, die Gestalt in dem weißen Brahmanenhemde mit der bunten Seidenschärpe zart und kaum mittelgroß. Shiva Rao ist von Hause aus reich, wie Lassalle. Sein Amt als Führer der Madrasser allgemeinen Arbeiterorganisation übt er völlig unbezahlt, weite Reisen auf Kongresse unternimmt er auf seine eigenen Kosten. Zweimal besuchte er auf solche Art Europa . Zeitweise war er schon radikalliberaler Abgeordneter der gesetzgebenden Bersammlung zu Delhi , verlor aber seinen Wahlkreis wegen seines Wirkens für die Arbeiter. Auf den indischen Gewerkschaftstongreſſen spielt Shiva Rao eine große Rolle. Allein es sind nicht, wie bei Lassalle, die großen Rollen, in denen er in Erscheinung tritt. Diese scheinen ihm vielmehr ganz selbstverständlich und ungesucht zuzufallen, während sein nächstes Gebiet die Kleinarbeit ist. Er ist Oberhaupt und Kleinagitator in einer Person.
,, Der Grund," sagt er ,,, weshalb die Unternehmer hier mich nicht leiden mögen, ist, daß ich jeden Betriebs. unfall registriere und bei Gericht anhängig mache. Neunundneunzig Prozent der Arbeiter wissen hier zu Lande überhaupt nicht, daß es für solche Fälle eine Entschädigung gibt." Jeder Arbeiter, der eine Beschwerde hat, fomunt zu Shiva Rao, der dann seine Redaktions-, Parlaments und Rongreßarbeiten unterbricht und mit der größten Geduld und Selbstverständlichkeit den Fall behandelt. Und er ficht ihn durch mit lassallescher Kampftüchtigkeit und Prozeßfreudigkeit. Als wir ihn zum erstenmal besuchten, hatte er um sich eine ganze Gruppe beschwerdeführender Arbeiter und Arbeiterinnen und berichtete uns über sie aus dem Gedächtnis wie ein aufopfernder Arzt, der alle seine Kranken und ihre Leiden Die faschistische Regierung fühlt sich natürlich über die Ab. fennt. Die unberührbaren", diese armen Ausgewanderung der Matteotti - Dokumente ins Ausland äußerst be stoßenen der indischen Gesellschaft, deren es in dieser südunruhigt. So ist das Sondergericht in Rom mit der Eröff- lichsten Großstadt des Landes mehr gibt als irgendwo sonst, nung des Strafverfahrens wegen Komplotts zur Gefährdung der hängen mit rührender Liebe an ihm. Sicherheit des Staates" gegen Nucci und Renzo Colonna beauftragt worden, die in Rom unter der Beschuldigung in Haft sind, das Berschwinden einer Abschrift der Untersuchungsaften nach Frankreich begünstigt zu haben. Eine weitere Abschrift gelangte wenige Tage vor dem sogenannten Prozeß" in Chiett über die Grenze. Die Person, die dies bewerkstelligte, war Aldo Sa lerno und beauftragt von dem in Baris erscheinenden Corriere degli Italiani". Die faschistische Polizei sucht seiner mit allen Mitteln, aber vergeblich, habhaft zu werden. Dafür hat die faschistische Regierung Aldo Salerno des italienischen Staatsbürgerrechts für verlustig erklärt, ohne es zu wagen, in dem Defret ihre wahren Beweggründe anzugeben.
Das, italienische Bolt und alle übrigen zivilifierten Bölker wissen nun, daß die dokumentarischen Belege für das größte Ber: brechen des Faschismus in Sicherheit sind und unfehlbar an dem unausbleiblichen Tage des Gerichts zum Vorschein fommen werden.
Die Faschiftenregierung muß sich ihrer erwehren! Kowno , 19. Januar. ( DE.) Die Berhaftung der Führer der Ittauischen Faschistengruppe, Tomtus und Klimaitis, hat starkes Aufsehen erregt. Es verlautet, daß noch weitere Verhaftungen von Faschisten bevorstehen. Die Verhafteten sollen wegen hoch verräterischer Umtriebe vor Gericht gestellt werden. Es scheint, daß die litauischen Faschisten auch mit der durch den Staatsstreich zur Macht gelangten Rechtsregierung noch nicht zufrieden find und auf eine so extreme Dittaturpolitik hinstreben, daß die neue Regierung im Intereffe ihrer eigenen Sicherheit einschreiten mußte. Der eigentliche Führer der Faschisten, der wegen seiner higigen Breffepofemir und wegen seiner Prozesse vielgenannte Oberstleutnant Glomadis, scheint einstweilen in diese neue Affäre nicht verwickelt zu sein.
Spricht er, so erweckt der Klang seiner Stimme feinerlei Lassallesche Vorstellungen. Es ist die dünne Stimme eines Kindes, die bei einem deutschen Redner vielleicht ermüdend oder gar abstoßend wirken würde. Bei dem sanften Hindu stört sie nicht, weil sie zum Stil der Persönlichkeit gehört. Dabei redet er ein Englisch, das baid an die schönsten Geschichten von Shelley, bald an die feinsten Stellen eines Auffages von Macaulay erinnert. Es ist ein Entzücken fürs Auge, ein Rauschgenuß fürs Ohr, allein eine Indienreise lohnend, zu erleben, wie dieser Kindermund, ohne jede Bemühung zu rednerischen Betonungseffekten, Schwerter spricht
-
-
lassallisch in der Wucht der Antlage und in der Schärfe der Beweisführung. Zehntausend Menschen seine Organifation zählt siebentausend sation zählt fiebentausend brachte er zu unserer Begrüßung in einem Barfe zusammen, dessen Bäume als Galerie dienten und von Zuhörern dicht besetzt waren. Die Kinderstimme drang durch, begeisterte und entzündete. Und man hatte die unheimlich erhabene Vision eines fleinen Kinderhändchens, das totbringende, furchtbare elektrische Stromkräfte am leicht beweglichen Hebel der Schaltplatte dirigiert.
-
Die Unternehmer haben ihm wohl die beste Bestätigung seiner Erfolge- mit großer Mühe eine weit fleinere, gelbe Organisation entgegengesetzt. Ihre billigste und beliebteste Anklage, mit der auch wir gegen ihn eingenommen werden sollten, ist die Behauptung, Shiva Rao jei ein intellektueller Außenseiter, der von der Handwerkerarbeit nichts verstehe. Als ob in diesem Lande mit neunzigprozentigem Analphabetentum vorläufig eine andere Führerschaft bentbar wäre! Als ob nicht selbst in Deutschland erst ein Marg, Engels und Lassalle da waren, ehe ein Legien in so glänzender Weise die Idee proletarischer Selbsthilfe verkörperte! Als ob nicht auch in England liberale Philantropen die unvollkommenen aber notwendigen Vorläufer Reir Hardies waren!