Einzelbild herunterladen
 
  
Nr. 7S» 44.?ohrgang viensiog,?5. 5ebruar IH27
Vergangenheit neben Gegenwart.
Ganz in der Nähe der Städtischen Oper in Chor. lottenburg, an der Ecke der Wall- und Spreestrahe, leigt ein langgestrecktes, ebenerdiges Giebelhäuschen, das sich in der vornehm gewordenen Umgebung armselig im Boden zu ver- kriechen scheint. Grohe, von grünen Läden flankiert« Fenster, deren Sims nur ein paar Hände breit über dem Aürgersteig liegt, eine niedrige, braune Tür, durch die man direkt in die Stube tritt, zwei aus dem unregelmäßigen Dachgiebel vorspringende Mansarden� fenster und ein paar mächtige Schornstein« mit altertümlichen Auf. sähen, deuten auf«ine bäuerliche Bevganeenlheit, auf jenes Dorf Lütz« oder Lützow  , das 400 Jahre lang ein selbständiges Gemein. wejen, erst 1720 zu Charlottenburg   geschlagen wurde, und das noch in einigen Bezeichnungen, wie.Am Lutzow' und.Lietzensce" weiter. lebt. Die zum Häuschen gehörigenWirtschaftsgebäude" lehnen heute eng zusammengepreßt an der hohen, kahlen Seitenwand des Nachbarhauses. Durch ein breites cholztor konnte man von der Straße her in den mit Ziegeln gepflasterten Hos einfahren. Alles ist noch vorbanden: Ein enger, dunkler Stall mit Ringen zum An. ketten des Viehes, ein Vorraum, der wahrscheinlich als Futterküche ftes Freskobild, dar- n und Häuschen, zu >fen, endlich ein Tauben.
diente und auf dessen Außenwand ein rälsel L..- -";,"" svs. Eine hohe Mauer läuft hinter dem Häuschen lang und endet
stellend eine Landschaft mit Straßen, sehen ist. Fachwerk mit geschnitzten Balkonki  schlag. Eine hohe Mauer läuft hinter dem als stämmiger Pfeiler in der Front der Spreestraße. Seit öl) Iahren befindet sich in den ehemaligen Stollungen eine.S p e z i a l- Heringshandlun«. Große Fässer mit Heringen in allen Größen füllen die Winkel des Hofes: das bescheidene Geschäft muß in der Umgebung einen gut«ingevürgerten Ruf haben, denn selten ist der düstere Verkaufsvaum ohne Kunden. Ueber eine ausgetreten« Türschwelle gelangt man ohne Uebergang in die gute Swbe. Haß. liche Flecken an der Wand oenaten die in dem alten Gemäuer steckende Feuchtigkeit. Von der Decke ist hier und da der Belog
abgefallen und läßt das Rohrgeflecht sehen. In her dunklen Küche kocht Großmutter, während die Tochter den Verkauf der Heringe besorgt. Beide fühlen sich in den alten Löchern wohl, die sie vom Magistrat gepachtet haben. In der letzten Swbe. die erst kürzlich vom Maurer restauriert wurde, steht mchts als eine groß« Wäsche- mangel, die den Bekannten zum Rollen der Wäsche zur Verfügung steht. Auf einer Hühnerleiter geht es zu den Mansardenz immerchen, die nur für Personen von kleinem Wuchs geschaffen zu sein scheinen. WW I HMMWWW eme
Sie stehen leer, denn die aktersschwache Decke würde
Be.
lastung von oben nicht mehr auehalten. Mit einer Art mitleidiger Verwunderung verläßt man den kleinen Bau, der mit feinen mmde- stens 150 Jahren die Entwicklung Charlottenburg  « vom Dorf zur Großstadt mitmachte und nun zwischen d«n hochaufgeschossenen Mi et- kasernen so weltverloren dasteht.
Berliner  , Sittlichkeitstag Es geht wieder auswärts! Di« verwahrlosten Berliner   erhatten ihren.S i t t l i ch k e i t s t o g". Es ist schon ein kurioses Unter. nehmen, das da die evangelsschen Frauenbünde und der Verband der Religtonslehrertnnen planen. Für den März propagiert das kleri« kole Gewissen allgemeine Sittlichkeit, in zwanzig öffentlichen Kund- wollen die vereinigten Seelenretter das verlotterte Publi-
um ins rechorische Fegefeuer nehmen. Wenn man es so hört. könnte es leidttch scheinen. Die Sanierung der Seelen ist ja schließ- lich kein SpezialProblem der Gesundbeterei, sondern eins der prakiifchrn sozialen Tat. Da ober liegt der Hund begraben, ehe er zu bellen begannl Gegen was schmettern die evangelischen Frauen- bündlerinnen ihre Keuschheitsfaniaren? Wehren sie sich mit ganzer Kraft gegen die schauderhaften Wohnungsoerhälinisse in Berlin   R. und O., protestieren sie im Namen dergefährdeten Sittlichkeit"
gegen das Elend der Arbeitermietskasernen, in denen das arbeitende Volk menschenunwürdig haust, wo Krankheit und Laster»mgchsn müssen, wenn die Faust der Satten und Gerechten   vier Personen zwingt, in einem Bette zu nächtigen? Wollen die Frauenbünde ihre mahnende Stimme erheben und Kampf ansagen den nichtswürdigen Praktiken einer asozialen, auf Höchstprofit spekulierenden Unter- nehmerschaft. die es mit Mißachtung des Achtstundentages bewirkt hat, daß zwei Millionen Volksgenossen das elementar« Menschen- recht auf Arbeit und Brot verwehrt wird?! Werden die Protestanten vom 7. März die mörderische Kriegshetze der Revancheverbrecher, im Ramen der Mütter, die zu Witwen, der Kinder, die zu Waisen wurden, anklagend verurteilen?! Nichts werden sie, das Programm der rührigen Damen ist schon fix und fertig. DieTägliche Rund- schau" weiß Bescheid. Gegen das Kino wird es gehen, gegen Bubikops, verkürzte Röcke und gegen den Alkohol, wobei sie nicht vergessen werden, für vermehrte Kinderzufuhr zu Ehren Seiner kommenden Majestät krästtg Reklame zu schlagen:Die Berechnung der halben Million Kinder, denen in einem Jahre in Deutschland  der Eintritt in die Welt nicht gewährt wurde, ist nicht entkräftet." Wie sie ernährt werden, stört die Guten nicht. Auch die Lösung de« soziale« Problems haben sie schon fix bei der Hand:den heilen- den Heiland". Nicht den sozialen Revoluttonär von Razareth, den sie seinerzeU ans Kreuz geschlagen haben. Einen ganz anderen haben sie sich zurechtgeschmiedet. Und den werden sie am 7. März vorbeidefilieren lassen: Zur Verdummung des geschundenen Volkes.
Der stäötistbe Ctat.
Der Berliner   M a g i st r a k befchäftlgle sich in einer Reihe von Sitzungen eingehend mtt der vorbereilung de« die». jährigen Ekaks. der möglichst noch im Lause diese» Monats der Stadtverordnetenversammlung unterbreitet werden soll. Au» den internen Beratungen sind von verschiedenen Zeitungen ziffernmäßige Angaben gebrocht worden, W« zu falschen Vorstellungen über die Lage des Etats führen müssen. Es ist richtig, daß in diesem Jahre der Ausgleich des Etat» außerordentlich schwierig werden wirb. Unter dem Druck des für die Geineinden außerordenttich ungünstigen Finanzausgleichs hat sich auch die Finanzlage Berlins   immer mehr verschlechtert. Die schwere Wirtschaftskrise bringt außerdem ein« stark« Anspannung der Ausgaben und erhebliche Ausfäll« an Einnahmen aus Steuern. Es bestehen infolgedessen die größten Schwierigkeiten im Etat, die einmalige» Ausgaben namentlich für die Bauaufgaben der Stadt so einzusetzen, wie es im Interesse der Bevölkerung unbedingt er- wartet werden muß. Vollkommen ungewiß sst sin Reichstag noch das Schicksal des neuen Finonzansgleichs. Hier können ganz erheblich« Ausfälle entstehen, wenn nach der Absicht der Rechts- Parteien die Getränke steuern wegfallen, die der Stadt all- jährlich Einnahmen von 15 Millionen Mark bringen, und wenn das Reich darauf besteht, daß die Garantie für die Umsatz- st euer in Fortfall kommt. Aus all diesen Gründen lassen sich die endgülttgen Ziffern des Etats noch nicht übersehen. Das aber steht schon fest, daß ein Gleichgewicht auf der Grundlage der bis- herigen kommunalen Steuern und Tarife nur er- reicht werden kann, wenn der Magistrat dabei bleibt, auf Ausgaben zu verzichten, die zu stark ins Gewicht fallen. Die Beratungen des Magistrats sind allerdings noch keine». weg» abgeschlossen. Sie werden sich mindestens noch bis in die nächste Woche hinziehen und erst dann wird man übersehen können, wie der Berliner   Etat nach den Magistratsvorschlägen aus- sehen soll. Die Zahlen, die in der Press« zum Teil genannt werden, sind jedenfalls vollkommen irreführend. Es handelt sich dabei fast immer nur um Augenblicksbilder aus dem Wechsel des ganzen der Etatsberawng, die bekanntlich nicht in einer Sitzung zum Abschluß gebracht wird. Daß die Finanzlage der Stadt außer- ordentlich angespannt ist, weiß man im übrigen allgemein. Der Etat wirt» nur ein deutlicher neuer Beweis dafür fein, daß die Gemeinden unter dem bisher beliebten Kurs der Reichsfinanzen, die ihnen obliegende« Auf- gaben nicht bewältigen können. Die Sladkverordnekenverfammlung hat ihre nächste Sitzung am Donnerstag um Uhr. In dieser Sitzung wird auch die am vorigen Donnerstag vertagte Abstimmung über die Bersiner Hafen Wirtschaft nachgeholt. Zu dem vom Ausschuß vor- geschlagenen Beschluß sind noch sieben Anträge gestellt worden» über die entschieden werden muß.
ig, Gerichtstag. von Fred Berence. Ceryrlrlrt 1925 br Paul Zsolnay  , Wie»' Am nächsten Morgen, als es noch im ganzen Hanfe still war, weckte mich die Mntter, indem sie mir über die Stirne strich:Jacques!" Ja, Mama." Hast du ihn gesehen?" Jawohl." Hat er geschlafen?" Ja." Wo?" ..Auf dem Teppich eures Schlafzimmers." Sie sah starr vor sich hin und murmelte ganz leise:Das ist fürchterlich, fürchterlich." Ich bitte dich, Jacques, steh' auf, bereit« ihm eine Taste Kaffee und sag ihm, daß ich ihn beschwöre, das Haus zu verlassen, bevor die Dlenftleute aufftehen. Geh' rasch, mein gutes Kind." Ich sprang aus dem Dett, schlüpfte in meine Hose, zog Pantoffeln an und bereitete ihm in der Küche eine Tasse Kaffee aus dem Spirituskocher. Er schlief noch immer so ruhig wie bei Nacht. Ich berührte seinen Arm, er östnete die Augen und erkannte mich. Was willst du?" Mama bittet d'ch, den Kaffee zu trinken und das Haus zu verlassen, bevor die Dieustleute ausstehen. Er lacbte eigentümlich. Die Dienstleu-e. die immer alles wissen und immer so tun müssen, als»üßten sie nichts." Ich reichte ihm den Kaffee, er trank ihn langsam, den Ellenbogen auf den Fußboden stützend Du hast den Kaffee wohl selbst bereitet, mm. sehr herrlich ist er gerade nicht." Er stand auf und preßte mich ganz verzweifelt an die Brust. Mein armer Kleiner, oft bin ich sehr ungerecht gegen dich gewesen, aber ich hob' dich ja so lieb, mehr als du glaubst; gib der Mama und Alice auch für mich«inen Kuß." Er suchte seinen Hut und fand ihn endlich. 1.«Ja richtig, kannst d» mir dreißig Centimes borgen,
damit ich mit der Tramway fahren kann? Ich habe keinen Sou in der Tasche." Meine Börse befand sich gerade in der Hosentasche. Sie enthielt vierundzwanzig Sous, die ich mir heimlich zusammen- gespart hatte. Ich steckte ihm das Geld in die Hand, er schob es in seine Westentasche und sagte gleichmütig:Nächste Woche schick' ich es dir zurück." Er umarmte mich nochmals, ließ ein leises Schluchzen vernehmen, das mich rühren sollte, und enssernte sich. Das Brot der Barmherzigkeit. Jetzt will ich das gemeinsame Leben mit der Großmutter beschreiben. Im Augenblick, wo ich mich an diese Arbeit mache, ergreift mich ein solcher Ekel, daß ich kaum die Kraft habe, fest zu sein. Aber trotz alledem muß ich diesen Schmutz noch einmal auf- rühren, denn von da an zeigten Pch bei mir die Erscheinungen körperlicher und moralischer Erschöpfung, die in meinem weiteren Leben nicht mehr ganz verschwinden sollten. Wenn ich das Tagebuch meiner Kindheit wieder lese, so muß ich immer von neuem fessstellen, daß die Luft, in der ich lebte, erstickend und verdorben war Ich litt fürchterlich und niein Herz wurde bitter. Alles, was geschah, war unnatürlich vergrößert und der belangloseste Vorfall nahm ungeheure Dimensionen an. Wie ich schon erzähst habe, waren Mutter und Groß- mutier verfeindet und verkehrten miteinander wie Feinde. Selbstverständlich stand ich vollkommen auf Seit« meiner Mutter und war über die Szenen, die chr die Großmutter machte, empört. Mr hielten nun schon so weit, sie für unser ganzes Unglück verantwortlich zu machen und den Dater freizusprechen, den wir im Heiligenschein des Märtyrers und des vom Unglück verfolgten sahen. In dieser Atmosphäre von Haß, Angst und Zwietracht kam mein kleiner Bruder zur Welt. Eines Tages, es war drei Tage nach der Geburt des Kindes,«eckte mich meine Großmutter blaß und zitlernd. Kleide dich rasch an und lauf zum Arzt. Der Mutter geht es sehr schlecht." Ich stürzt« zum Arzt. Er machte meiner Mutter eine Morphiumeinspritzung und versprach, am nächsten Morgen wiederzukommen. Während ihn die Großmutter hinaus- begleitete, lief ich ins Zimmer. Mama, hast du sehr stark« Schmerzen?"
Nein, jetzt ist mir besser, hör' gut zu." Sie machte mir ein Zeichen, ganz nahe zum Bett zu treten, ihre Stimme war schwach wie ein Hauch, ich mußte mein Ohr beinahe auf ihren Mund legen,..... mein Magen ist wie von Feuer verzehrt ... man hat mich vergiften wollen... bleib hier... laß mich nicht allein, sie will mich umbringen... Ihre Augen blickten irr, ich war zu Tode erschrocken: Ich küßte sie auf die Stirn und versprach ihr, sie nicht eine Minute allein zu lassen, bevor sie nicht ganz gesund wäre. Das Kind, das neben ihr lag, begann zu»einen, ich nahm es in meine Arm«, um es zu beruhigen. Da kam die Großmutter herein. Als sie mich sah, blieb sie betroffen auf der Schwell« stehen. Was machst du hier? Geh fort, man braucht dich nicht." Laß' ihn hier," sagte meine Mutter ganz leise,du bist müde, ruh' dich ein wenig aus." Das Mädchen wird hier wachen." Nein, ich will, daß Jacques bei mir bleib!." Aber das ist ja lächerlich, er ist noch ein Kinö. fit deinem Zustand." Laß' mir die Freude, du siehst ja. daß ich sterbe..." .Sie will sie vergiften, wenn ich nicht mehr im Zimmer bin. So dacht« ich, aber laut sagte ich zur Großmutter:Groß- mama bitte, laß' mich hier: du bist müde, glaub' mir, ich werde die Mama sehr gut pflegen." Das setzte ich in ironischem Ton hinzu, der ihr sicherlich sehr merkwürdig erscheinen mußte. Skr seid ja beide verrückt, ganz verrückt," aber sie gi»ß aus dem Zimmer. Das Kind hatte zu weinen aufgehört, ich legte es neben meine Mutter, die bald einschlief. Dann streckte ich mich auf dem Divan aus und nahm mir fest vor, die ganze Nacht kein Auge zu schließen. Ich war überzeugt, daß meine Kroßmutter leise heremschleichen und ein geheimnisvolles Pulver der Mutter ins Glas schütten würde. Der Morgen kam, ohne daß sich irgendetwas ereignet hätte. Meine Muttex schlief, ich blieb im Zimmer bis der Arzt kam, der die Krankt lange untersuchte und dann ohne ein Wort zu spreche» fortging. Im Hinausgehen bemerkte er mich und blickte mich verwundert an. Was machst denn du hier?" Meine Großmutter antwortete:Er will seine Mutter nicht verlassen, es sst ja lächerlich, er spielt den Kranken- Wörter." (Fortsetzung folgt.)