in ni
Donnerstag
17. Februar 1927
Unterhaltung und Wissen
Beilage
des Vorwärts
Zu Heinrich Pestalozzis 100. Todestag
I.
Heut, an seinem hundertsten Todestag, wird es Pestalozzi gehen, mie den meisten großen Geistern, wenn sie hundert Jahre tot find. Kein Verband, der auf Kultur Anspruch erhebt, wird es sich nehmen laffen, die innere Berechtigung seines Programms durch einige Zitate aus Pestalozzi tiefer zu begründen. Und dann werden die föstlichsten Widersprüche zutage treten:
T
Die christlich unpolitischen Elternverbände werden mit vieler Innigkeit die zahlreichen Stellen zitieren, in denen Pestalozzi von dem Segen der reinen Häuslichkeit als der Grundlage aller Erziehung spricht, wo er den in Gottesliebe. verwurzelten Baterfinn als den leitenden Geist in dieser preist, mo er in tieffter Frömmigkeit sein Leben und sein Werk Gottes Segen anheim stellt, wo er in schweren Augenbliden Gott für seine Erhaltung und feine Erfolge dankt. Die Vertreter einer weltlichen Erziehung können ihnen mit ebensovielen Stellen dienen, wo er sich gegen die Religion in der Hand der herrschenden Riaffe: als ein elendes Dienstmittel ihrer Schieftöpfigkeit und ihrer Herzlosigkeit und ein Lückenbüßer ihrer elenden Polizei und ihrer Staatsmängel" wendet. Gie werden vielleicht das bittere Wort aus den Nachforschungen wiederholen:„ die Briefter stehen in diesem Zeitpunkt in jedem Streit der Macht gegen das Volk auf der Seite der ersten, und sie können nicht anders, sie stehen in ihrem Dienst, fie essen in demselben dann immer ganz das Brot der Macht und nicht mehr das Brot des Boltes, und was man auch immer mit vieler Höflichkeit dagegen ein zuwenden beliebt, so bleibt, so lange die Welt steht, das Sprichwort: Wes Brot ich esse, des Lied ich singe, bei allen Menschen wahr, die gerne essen." Sie fönnen auch darauf hinweisen, daß Bestalozzi, weil er das Wesen der Religion in das Leben selber legte, den Religionsunterricht als solchen in seinen Anstalten nicht erteilen ließ.
"
uch die politischen Parteien fönnen sich je nach ihren Grundsägen für Bestalozzi begeistern. Der Monarchist hält fich an Pestalozzts Berehrung der aufgeklärten Despoten, von denen allein er Förderung seiner menschenfreundlichen, volfserzieherischen Pläne in größtem Maßstab erwartete, der Demokrat an die große Reihe seiner Schriften von seinem Jugendversuch Agis über seine Revolu tionsschriften, vor allem Ja und Nein", bis zu seinen Nachforschungen", wo er als Vertreter des Volkes und der Boltsrechte auftritt. Mit Recht beruft der letzte sich auf die Tatsache, daß der Ehrenbürger der französischen Revolution auch praktisch sich in den Dienst der helvetischen Republik gestellt hat. Der Sozialist tann fogar auf die später zu besprechende Grundtendenz der Lebensarbeit des großen Schweigers hinweisen, die auf die Hebung der sozialen Berhältniffe der armen, heimarbeitenden Landbevölkerung seiner Heimat hinzielle. Der Besitzende wird sich gern damit beruhigen, wenn Bestalozzi sagt:„ Der Arme muß zur Armut und zu solchen Fertigfeiten und lebungen gezogen werden, die ihn in seinem fünftigen Leben ruhig und zufrieden machen können. Die Fertigkeiten, die Brot schaffen, die gewöhnlichen Uebungen des Landes, darin er wohnt, das ist es, was am meisten in ihm entwickelt und gebildet werden muß." Benn er also dem Armen biegsame Anschlägigkeit, folgfame nachgebende Bescheidenheit" beibringen will, und ihm auf Grund solcher Bescheidenheit als Ersag die Erhebung zu der Kraft der inneren wahren Höhe" verspricht, so kann der oftelbische Junter fich mit solcher Sozialpädagogik schon aussöhnen. Und doch wird ihm der Angehörige der han barbeitenden Klasse entgegen halten, daß derselbe Mann durch sein Prinzip der Boltsbildung diefe überhaupt erst auf sichere Grundlagen gestellt und dadurch der Arbeiter. klaffe die Möglichkeit zum Aufstieg gegeben hat. Denn die Waffe des Geistes, die er ihr brachte, ist das stärkste Mittel der Revolutionierung. Schließlich rücken auch die Lehrer an. Der reattionäre Lehrer nimmt rein äußerlich das Wort„ Methode" herüber und entdeckt als Großtat Bestalozzis die Erfindung eines lernbaren Unterrichtsverfahrens, hinter dem man ja in der Tat dessen ur sprünglichen, tiefen Sinn jahrzehntelang vergessen hatte. Mit Triumph stellt er fest, daß der Stanjer Brief an der Stelle, wo der Lehrer der Lehrer von den Erziehungsmitteln spricht, den Satz enthält:„ Wenn sich indeffen Härte und Roheit bei den Kindern zeigte, so war ich streng und gebrauchte förperliche Züchtigung. Der pädagogische Grundsay, mit bloßen Worten sich des Geiftes und Herzens einer Schar Kinder zu bemächtigen und so den Ein drud förperlicher Strafen nicht zu bedürfen, ist freilich ausführbar bei glücklichen Kindern und in glücklichen Lagen; aber im Gemisch meiner ungleichen Bettelfinder bei ihrem Alter, bei ihren einge wurzelten Gewohnheiten und bei dem Bedürfnis, durch einfache Mittel sicher und schnell auf alle zu wirken, mar der Eindruck förperlicher Strafen wesentlich, und die Sorge, dadurch das Bertrauen der Kinder zu verlieren, ist ganz unrichtig." Demgegenüber fann der Lehrer, der in der vorderen Front des heutigen Schultampfes steht, für jede Etappe diefes Kampfes und für jede For derung sich auf Geist und Bort des Schweizer Pädagogen berufen. Lieft man deffen eigene Schilderung von Leben und Arbeit während der glücklichen Zeit in Ifferten, wie die Lehrer untereinander und
mit den Schülern lebten, so glaubt man sich in ein Landerziehungs.| Erziehung der Armen zu Menschen, Bolfshebung durch Bolksbildung, heim der Gegenwart versetzt. Bergleicht man das erste Armen haus auf dem Neuhof mit den modernen russischen Arbeitsschulen, so findet man eine verblüffende Aehnlichkeit, die bis in Einzelheiten der Formulierung hineinreicht. Und die tiefere Betrachtung der Methode" und der Erziehungsmittel gibt dem Schulreformer Recht gegenüber dem äußeren Schein, den der Reaktionär für sich bean spruchen darf.
Benn solche Gegenfäße aus Pestalozzi herausgelesen werden fönnen, so dürfte ein Uneingeweihter zu der Ansicht neigen, daß fie in Bestalozzi felber begründet find. Sie liegen jedoch nur in dem Geist des Lesers, der je nach seiner Einstellung sich ein Stück herausreißt, das ihm paßt und eben dadurch deutlich zeigt, daß er von der Bildung, die unser pädagogischer Denter fordert, feinen Hauch verspürt hat. Nur mer glaubt, mit Worten etwas beweisen zu können, die als„ Blütenlese" aus dem Lebenswert eines bedeutenden Menschen herausgeriffen werden, wer nicht den kritischen Abstand hat, um ihn in seiner Totalität auf dem Hintergrunde seiner Beit zu sehen, fann es versuchen, ihm nach irgendeiner Seite eine falschverstandene Aktualität zu geben. Pestalozzi würde diese Leute Maulbraucher" nennen.
II.
Wo ist also das Zentrum feines Lebens, und das heißt auch, feiner Behre? Denn beide sind eins, wie bei wenigen Menschen. Das Grundmotiv ist, daß er der Armut der Landbevölkerung helfen will. Schon in seiner Jugend hat er bei seinem Großvater, dem Defan Pestalozzi, in Höngg , einen tiefen Eindruck von der Not des Boltes empfangen. Er stellt m einem autobiographischen Fragment den Eindruck gegenüber, den die Kinder auch des niedrigsten Volkes bis ins fünfte und sechste Jahr auf ihn machten, wo sie sich harmLos ihres Lebens freuen und wie Engel blühend aufwachsen", und den anderen, wenn sie nach ein paar Jahren in gedoppeltem Fabrifelend und Schulelend" den Ausdruck von Harm und Gram, von Unwillen und Leiden auf ihrer Stirne tragen. Dann jammerte ihn die Baumwolleneinseitigkeit und Schuleinseitigkeit, deren ge. doppelte Engherzigkeit dem Volt des Landes am Herzen nagte." Er suchte nach Hilfsmitteln gegen das bürgerliche Gittenverderben, gegen die Folgen des taufmännischen Reichtums, des auswärtigen Militärdienstes und des inneren Hoheits- und Staatsschwindels". Als er später auf dem Neuhof saß, da erschütterte ihn das Elend der bei den Bauern von den Gemeinden verdungenen Kinder; ich fah die erbrückende Härte des Eigennutes, die diese Kinder fast alle durchgehends an Leib und Seele, faft dürfte ich sagen, zugrunde richtet; wie viele... zu keiner Menschlichkeit, zu keinen Sträften fich selbst und dem Vaterland emporwachsen können". Dieser soziale 3mpuls führt ihn zunächst im Sinne seiner Zeit zu dem Gedanken, durch) rationelle Landwirtschaft den Taglöhnern in größerem Umfang Beschäftigung und Verdienstmöglichkeit zu beschaffen, aber nach dem Scheitern seines Experiments auf dem Neuhof entdeckt er in der Erziehung seines eigenen Sohnes feine eigentliche Berufung.
|
-
-
wird der große Sinn seines Lebens. lleber all seinen späteren Plänen und Erfolgen hat er diesen Gedanken nie aufgegeben. Als er nach der anstrengenden Arbeit in Stans , die ihn todkrant machte, auf dem Gurnigel Erholung suchte, da bricht er fast 20 Jahre nach seinem ersten Versuch im Neuhof in die Worte aus: Ich hatte noch nie eine so weite Aussicht gesehen, und dennoch dachte ich bei diesem Anblick mehr an das übelunterrichtete Bolt, als an die Schönheit der Aussicht." Und gegen Ende seines Lebens will er 50 Jahre nach seinem gescheiterten ersten Versuch aus dem Erlös feiner Werke wieder auf dem Neuhof eine Armenanstalt errichten, die dann allerdings nicht dort, sondern in Chindy entsteht.
Rousseau hatte seinen Emil den zerstörenden Wirkungen des gesellschaftlichen Lebens entzogen, um ihn abseits allein unter den Einflüssen seiner unverbildeten Natur zu einem neuen Menschen heranwachsen und heranbilden zu lassen. Dieses Berfahren kann für den Erzieher der Armen nicht in Frage kommen. Denn sie find an ihre Berhältnisse gefettet. Sie find gezwungen, selbst für die Befriedi gung ihrer Bedürfnisse zu arbeiten. In diesem Leben selber müssen also die Elemente gefunden werden, an die ihre Bildung anknüpfen fann. Sie müssen ihre täglichen Pflichten als Handarbeiter üben und doch zugleich lernen, sich über diesen engsten Kreis zu erheben und ihn zu be herrschen. Ich mußte," sagt Pestalozzi in der Beschreibung der Grundgedanken seiner Armenanstalt auf dem Neuhof,„ für die armen Kinder, die ich zu mir ins Haus nahm, Arbeit und Bildung zur Arbeit suchen. Aber ich wollte nicht nur dieses, ich wollte während und durch ihre Arbeit ihr Herz erwärmen und ihren Geist entfalten. Ich wollte sie nicht bloß unterrichten, ich wollte, daß ihr Leben und Tun sie selbst unterrichte und beim Selbstunterricht zum Gefühl der inneren Würde ihrer Natur erhebe.. Ich wollte
eine genugtuende Bildung zum Feldbau, zur häuslichen Wirtschaft und zur Industrie vereinigt umfaffen." Beinah noch flarer hat er im Rückblick auf Stans seine Absicht formuliert, daß er„ das Lernen mit dem Arbeiten, die Unterrichts- mit der Industrieanstalt" verbinden und beides ineinanderschmelzen wollte.
Dabei muß man bedenken, daß es sich damals bei der Industrie der Landbevölkerung um Heimarbeit im Baumwoll- und Seidenspinnen handelte, daß aber die beginnende Zusammenfassung in Manufakturen auch schon die Arbeit außerhalb des Hauses bedingte. Damit hörte die Familie schon in gewissem Umfange auf, eine Arbeits- und Erziehungsgemeinschaft zu sein. Und die Fülle der verwahrlosten Kinder, für die das Haus nicht mehr sorgen fonnte, und die Deffentlichkeit noch nicht forgte, erregte immer wieder Pestalozzis innerstes Mitleid.
Trommer
Kein Wunder, daß daher der Gedanke eine gewisse zentrale Stellung in seiner Erziehungslehre bekommt, man müsse die häus. fiche Erziehung in ihren reinen Segensträften wieder beleben, um dem armen Bolte aufzuhelfen, dem die geschilderte Entwicklung das häusliche Glück immer mehr zu nehmen drohte. Aus der Er. fahrung seiner bürgerlich behüteten Jugend ist er in diesem Punkte ein romantischer Bourgeois geblieben, der die Zwangsläufigkeit der industriellen Entwicklung nicht begriff und darum nicht verstand, die pädagogischen Folgerungen daraus zu ziehen. Unwillkürlich denkt man an parallele Entwicklungen unserer Zeit im fernen Osten. Auch Machatma Gandi, der indische Bolkserzieher, versucht denselben Weg, um seinem geliebten Wolfe zu einem inneren Neuaufbau zu verhelfen.
Doch fonnte Pestalozzi felbst schon sich mindestens der Tat. sa che nicht verschließen, daß es zu seiner Zeit eine Menge Haushaltungen gab, die nicht mehr fähig waren, Kinder durch Teilnahme an der alltäglichen Arbeit zu bilden. Für diese richtete er seine Anstalt ein, aber er hat sie immer nur als„ Lückenbüßer" betrachtet, und ihren Sinn darin gesehen, wie er das noch in bezug auf seine leßte Anstalt in Chindy sagt. daß hier Arme als Arme erzogen, zur Erziehung und zum Unterricht für die Armen gebildet werden" follten. Das sollen nach seiner Meinung nicht etwa Lehrer in Erziehungsanftalien, sondern die zufünftigen Bäter und Mütter werden, die die Erziehungskräfte des Hauses und der Familie neu aufbauen.
Daher sind seine Erziehungsanstalten völlig durchdrungen von dem patriarchalisch- familiären Geist der Liebe. Pestalozzi ist der Bater und alle anderen Mitglieder meines Hauses" sind seine Kinder. In solcher Sphäre, allein durch die stete Gewöhnung an die Stimmung und die Ordnung des Haushalts, die auch durch väterliche Strafen erzwungen werden muß, nicht durch Lehren und moralische Deklamationen, bildet sich nach seiner Meinung der Charakter des Jugendlichen. Aus diesem Zusammenhang erklärt sich die vorhin aufgeführte Anschauung über die Zulässigkeit der förperlichen Züchtigung ebenso wie die über die Sinnlosigkeit des bloßen Religionsunterrichtes. Aus diesem Zusammenhang versteht man auch den traurigen Zerfall, der von 1808 an in Ifferten durch den Streit der führenden Lehrer Schmid und Niederer um sich griff. Ein Bau, der so start auf patriarchalische Gefühle gegründet