Nr. 88 ♦»».Jahrgang
1. Beilage ües Vorwärts
dlenstag, 22. Februar 1927
Trockenwohners Ende.
Richtige Trockenwohnerei kennen wir ja nun schon lange nicht mehr: Wer heule das unglaublich große Glück hah eine Wohnung zu bekommen, der hält sie fest— sie mag aussehen wie sie will. Heute denkt kein Mensch daran, gerade dann eine Wohnung zu oer- lassen, wenn sie anfängt behaglich und gemütlich zu werden, und vergessen fast ist die nomadische Gewohnheit der echten Trocken- wohner. die vor dem Kriege alle Jahre mindestens einmal umzogen. Stets wohnten sie in eben erbauten Häusern, möglichst„mit allem Komfort der Neuzeit", und sie sparten trotz der häufigen Umzüge immer noch erheblich an Miete, denn stets wohnten sie mehrere Monate so gut wie umsonst. Ihre Gegenleistung war eben das ..trockenwohnen", denn es war so gut wie unmöglich, mit den früher üblichen Mitteln em Haus wirklich auszutrocknen. Die offenen Kokskörbe, diese primitivsten Oese», beseitigten gerade die schlimmste Nässe der rohen Mauern, aber der Verputz blieb noch lange feucht und band schlecht ab. Die Kokskörbe entwickelten zwar reichlich oft Kohlenoxydgas und wurden darum schließlich sogar polizellich ver- boten: aber die zum Binden des Putzes nötige Kohlensäure konnte erst nach und nach von den Herden. Lampen und Lungen!�r .Trockenwohner" geliefert werden. Auch die verbesserten Kols- öfen, die dann in Gebrauch kamen, halten nicht viel größeren Nutz. effekt, und nur die Wohnungsnot trieb die Menschen in die eben fertiggestellten, oft noch feuchten und gesundheitsgefährlichen Woh- nungen.— Gest kurzer Zeit ist nun aber auch hier in Berlin ein neues Versahren in Gebrauch, das aller„Trockenwohnerei" ein für allemal ein Ende bereitet. Das„Druck-Umluftverfahren" trocknet einen Neubau in wenigen Tagen derart aus, daß sofort all«
Handwerkerarbeiten im Innern in Angriff genommen werden können, und die Räume sind dann sofort bewohnbar. Das Ber - fahren selbst Ist sehr einfach. In das vollständig abgedichtet« Haus werden zwei dicke Rohre geleitet, die von einem fahrbaren Koks- rost heiße Luft in den Bau leiten. Der Wagen enthält den Rost und einen Ventilator, der durch einen Elektro, oder Dieselmotor betrieben wird. Dieser Ventilator bringt durch seine Saugwirkung auf die Außenluft den Koks zu vollständigster Verbrennung und verhütet damit das Entstehen von Kohlenoxyd, diesem giftigen und heimtückischen Gas. So haben die Verbrennungsgase dieses Koksofens eine» Temperatur von ISO» Grad Celsius, und sie müssen darum, bevor sie in den Bau geleitet werden, durch Zuführung von Frischluft aus eine Temperatur von 12S Grad herabgesetzt werden. In den abgedichteten Häusern herrscht nun durch die ständige Zuführung der heißen Luft Ueber» druck, und so wird diese schließlich durch die an sich ja porösen Wände herausgepreßt, und der ständige Luftwechsel trocknet so alles Mauerwerk in kürzester Zeit aus, man rechnet S— 4 Tage pro 1000 Quadratmeter umbauter Fläche. Gleichzeitig aber sorgt der große Kohlensäuregehalt der Abgase(ein 30mal höherer als in der frischen Luft) dafür, daß aller Putz abbindet, das heißt er besorgt das Ge- schüft, das früher die Lunge des„Trockenwohners" übernehmen mußte. Das Recht auf die Ausbeutung dieses Patentes hat eins Firma aus Hannover erworben, und es sind in und bei Berlin schon mehrere große Häuserkomplexe und Siedlungen nach dem neuen Verfahren ausgetrocknet worden.
Die Strafakten ües Hanküirektors Kunert. IV2 Jahre Zuchthaus für ehemalige Justizbeamte. Neben den schon zweimal abgeurteilten Iustizbeamten Pahlke und Rossel nahmen in dem am Montag vor dem Schöffen- gericht Mitte eröffneten Aktendiebsiahlsprozesses auf der Anklage- dank auch Karl Hübner , der bis zu seiner Verhaftung Bureau- Vorsteher bei Rechtsanwalt Dr. Ludwig Meyer gewesen war, und der Bankbeamte Siegfried Peiser Platz. Diese vier An- geklagten sind beschuldigt, mit dem flüchtigen Bankdirektor Kunert zusammengewirkt zu haben, um dessen Strafakten zu beseitigen. Es handell sich hierbei um den umfangreichsten aller Aktenbeseitigungs- fälle, denn es sind nicht weniger als zehn Bände Akten ver- schwunden.« Gegen Kunert hatten drei wichtige und umfang- reiche Strafsachen geschwebt. Von der einen wurde das Fehlen von zwei Bänden Akten und der Handakten festgestellt, von der zwetten, bereits durch Amnestie erledigten Sache, fehlen vier Bände, von der dritten ein Hauptband und die Handakten, so daß gar nicht ermittelt werden konnte, um was es sich handelte. Außer- dem fehlte ein Band Akten aus einem Strafprozeß gegen Kunert im Jahre 1013, in dem er wegen Betrug zu O Monaten Gefängnis, 600 M. Geldstrafe und 3 Jahre Ehrverlust ver- urteilt worden war. Im ganzen also zehn Bände. Die Angeklagten Rossel und Pahlke haben Kunert nicht gekannt, sondern sind mit ihm nur durch Vermittlung von Hübner in Verbinduno ge- treten. Zuerst hat Hübner einen Band zu dem Bankdirektor Kunert gebracht und einen Scheck über 300 M. von Kunert erhalten. Als Rossel Hübner weitere Bände brachte und sie zur Billa Kunerts fuhren, habe Rossel gesagt, jetzi müsse aber ein Tausender heraus- springen. Kunert aber habe wiederum nur 300 oder 400 M. ge- geben. Hübner habe ihnen auch stets erklärt, daß Kunert, nachdem er einmal die Akten erhalten hatte, sich nicht mehr habe sprechen lassen Der Vorsitzende stellte fest, daß Peiser schon in den Iahren 1012 bis 1014 im Stra,- verfahren gegen Kunert wegen Wechselschiebungen als dessen Eni- lastunaszeuge aufgetreten ist: Peiser gab an, daß er Kunert seit jener Zeit jahrelang nicht gesehen habe. Im Februar 1025 sei seine Firma in das Haus Kunerts, Schloßplatz 1, eingezogen, und er habe Kunert dadurch wiedergetroffen. Dieser habe ihm bald gesagt, daß es ihm daran liege, sein Vorleben zu vertuschen. Er sei im Aufsichtsrat der Motorenwerke Mannheim , und der Vor- sitzende Fonfö habe erfahren, daß er vorbestraft sei. Man habe ihm drei Wochen Frist gelassen, sich zu erklären, anderenfalls aus- zuscheiden. Da er Großaktionär sei, habe er nicht Lust, das Amt niederzulegen und möchte die Vorstrafakten und die Akten über die eingestellten Strafverfahren beseitigt sehen. Peiser will ihm geraten haben, die Vorstrafen löschen zu lassen. Kunert war aber der Meinung, daß das monatelang dauern würde. Darauf habe er Kunert gesagt, daß er einen gewissen Hllbner kenne, der mit Gerichts- sekretären bekannt sei. Er bestreitet, daß er vorher schon 00» Kunert 500 M bekommen habe, um einen Kriminalossistenten für diese Sache zu gewinnen. Das Schöffengericht verurteilte Iustizinspektor Pahlke und Justiz- obersekretär Rossel wegen Aktenbeseitigung und Beiteebung zu je 1 Jahr 6 Monaten Zuchthaus, 300 M. Geldstraf« oder weiteren 30 Tagen Zuchthaus und 3 Iahren Ehrverlust, Bureau- Vorsteher H ü b n e r und Bankbeamter Peiser wegen Beihilfe zur Anstiftung der Bestechung und AUenbeseitigung zu je sechs Monaten Gefängnis. Außerdem wurde auf Einziehung der Bestechungsgelder erkannt. Hübner wurde die Untersuchungsliaft angerechnet und er wurde aus der Haft entlassen. Peiser blieb in der Strafsache wegen einer in seinem Interesse vorgenommenen Aktenbeseitigung weiter in Haft. Die Märzmiete. Das städt'fche Nachrichtenamt teilt mit: In Berlin weicht die für den Monat März 1027 zu zahlende gesetzliche Miete gegenüber der Miete für die vorigen Mona!« in geringem Umfange dadurch ab, daß neben der im übrigen unverändert bleibenden Miete im Monat März nur 100 proz. Gemeindezuschlog zur staatlichen Grundver- mögeusstcuer an Stelle von bisher 150 Proz. auf die Mieter noch dem Verhällnis der reinen Friedensmieten umgelegt werden können. Diese Umlage, die im allgemeinen nur geringe Beträge aus- macht, ermäßigt sich also um ein Drittel.
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Gerichtstag. von Fred Bckrence. Copyriiht 1925 fcy Panl Zsolnay. Wie»
Mit Empörung merkte ich, daß Andr6 höhnisch lächelte. Die Verzweiflung meiner Mutter schmerzte mich mehr, als die Krankheit des Vaters. „Warum hat er uns denn nicht verständigt?" fragte ich leise. „Er wagt es nicht, stell' dir nur einmal vor, daß er seit drei Jahren kein Lebenszeichen von sich gegeben hat. W i r müssen die ersten Schritte tun, Jacques: wenn er stirbt, bevor wir ihn wiedergesehen haben, würde ich mir ewig Vorwürfe machen." 3ch zog sie an meine Brust und küßte sie auf die Stirn. Andr6 blickte uns mit spöttischem Ausdruck an. „Mama, liebste Mama, was auch immer geschehen möge, du darfft dir niemals Vorwürfe machen, du hast mehr getan, als deine Pflicht war, du hast dich für ihn geopfert." Ich hörte ganz deutlich, wie Andrs hinzufügte:„Und uns mich." „Aber nicht wahr, du fährst nach Lyon ? Du mußt fahren, ich könnte ja selbst hin, aber es ist besser, wenn du zuerst mit ihm strichst." „Es versteht sich nur von selbst," meinte Andr6 höhnisch, „daß der Stellvertreter dem Chef des Hauses Rechnung legt." Ich hieß Andn* schweigen. „Ja, die Wahrheit hört n'emand gern." „Kannst du nickit einen Urlaub nehmen und morgen fahren?" fragte die Mutter. „Das'wäre möglich, denn der Direktor wollte gerade jetzt einen meiner Kollegen nach Lyon in unsere Filiale schicken, ich werde ihn ersuchen, mich an seiner Stelle hinfahren zu lassen, wenn ich ihm den Grund sage, wird er wohl ein- willigen." „Das ist ja herrlich." rief meine Mutter begeistert. „Ja. ja, nur Mut, Geschäft ist Geschäft," spottete Andr�. .„Küsse ihr herzlich statt meiner und sag' ihm, daß ich ihn lieb habe," fügte dje Mutter hinzu. Ich ging ins Speisezimmer und deutete meinem Bruder, mir zu folgen. „Was willst du denn?" sagte er ganz laut. „Nichts."
„Warum machst du mir also hinter Mamas Rücken ein Zeichen, daß ich mit dir ins andere Zimmer gehen soll? Wenn du mir etwas zu sagen hast, kannst du mir es ebenso gut hier sagen, oder soll ich einen Frack anziehen nebenbei bemerkt habe ich gar keinen— damit der gnädige Herr die Gnade hat, mir Audienz zu gewähren?" „Kleine Schlange," murmelte ich und ging hinaus ohne zu antworten. Nach einigen Augenblicken kam er ins Zimmer, unter dem Vorwand, etwas in einem Buch nachschlagen zu müssen. ,Lllso, was wolltest du mir sagen?" „Ich weiß wirklich nicht, wie ich mit dir sprechen soll, du behandelst mich immer als Feind." Er lachte, ich fuhr fort: „Und doch wäre es jetzt von größter Wichtigkeit, daß wir beide im Einverständnis handeln. Wie du siehst, ist Mama ganz außer sich: warum hast du ihr die Zeitungsnotiz ohne irgendeine Vorbereitung gegeben? Du hättest es mir' sagen sollen imd wir wären schon aus einen Ausweg verfallen. „Du lieber Gott, das Schlimmste, was geschehen kann, wäre, daß er stirbt. Und dann sind wir ihn für immer los," sagte er ruhig und mit lauter Stimme. Ich schloß die Tür. „Sprich leiser, die Mama könnte dich hören. Du glaubst wirklich das Schlimmste wäre, wenn er stürbe? Da täuschest du dich, das Schlimmste, was geschehen könnte, wäre seine Rückt hr nach Hause." „Danke schön für diese Aussicht." „Und wenn wir nicht einig sind, kann es noch so kommen!" „Aber er wird ja draufgehen." „Bitte, gebrauche keine derartigen Ausdrücke: ich habe ihn ja auch nicht gern, aber er ist doch unser Vater." „Aha, jetzt bist du wieder der Feine." „Keine Streitereien. Glaub mir nur, er wird nicht sterben Kannst du dir denn vorstellen, was seine Rückkehr für uns bedeutet? Weißt du, was es Mühe und Arbeit ge- kostet hat, bis es uns endlich gelungen ist, halbwegs anständig zu leben?" „Jetzt könnte er uns eigentlich schon in Ruhe lassen. Tante Olga hat es immer gesagt:„Zuerst hat er euer Ver- mögen aufgegessen, und schließlich wird er sich von euch er- halten lassen" Ich wasche meine Hände in Unschuld." „Du kannst leicht reden." „Aber was soll ich denn dabei tun?"
„Mama wird sicherlich wollen, daß er sofort zurück- kommt..." „Nun, da werden wir eben Einspruch erheben; schließlich und endlich ist's ja unser Haus und nicht das Haus dieses Herrn." „Hör' schon einmal mit dem Höhnen auf! Es ist viel wichtiger, daß- wir friedlich über das beraten, was für alle das beste ist." „Nichts wäre mir lieber, und wenn ich mir's überlege, so habe ich ja nichts gegen dich," erwiderte Andrs. Wir drückten uns die Hände. „Wenn es nichts anderes wäre, als ihn hier krank zu haben, in Gottes Namen; die Last könnten wir schon er- tragen. Mama würde dann wenigstens beruhigt fein, aber alles andere, was drum und dran hängt." „Ja, was denn?" fragte er. .Du weißt nicht, welches Leben wir bei der Großmutter sjeführt haben; Streitigkeiten, Schulden, unaufhörlich Geld- forderungen." „Doch, ich weiß es. Tante Olga hat ss mir oft erzählt." „Abgemacht, wir halten zusammen." „Erlaube, daß ich dir einen Rat gebe: Sei nicht zu herz- lich mit dem Vater; eine gewisse Kühle kann gar nicht schaden; soweit ich mich an mein Elternhaus erinnere, hat er sich gerade nicht sehr zärtlich gegen uns benommen: feine Hand hat ihn verteufelt oft gejuckt, und er hat uns bewiesen, daß wir nicht aus Glas sind." Taufrnd fürchterliche Erinnerungen stiegen in mir auf. Ich sah mich wieder„dort" nackt, blutig, mit Dünger bespritzi. Und als hätte Andrä meine Gedanken erraten, fügte et hinzu: „Ich wäre ohne die Tante natürlich auch ganz einfach „Gemeindekind" geworden, so wie du. Und wenn dieser Herr uns auf Kosten anderer hat erziehen lassen, so soll er nur auf Staatskosten sterben" „Du hast ganz recht; aber lassen wir diese Erinnerungen, denn wenn ich daran denke bekomm« ich eine fürchterlich« Wut. Jetzt müssen wir beide zusammenhatten." In diesem Augenblick riei uns die Mutter zmn Essen. Niemand sprach während dar Mahlzeit, jeder hing seinen Ge- danken nach. Kaum waren wir fertig, als die Patin kam. Sie holte meine Mutter und die Kleinen zu einem Spaziergang ab. In ein paar Worten teilte man ihr alles mit. (Fortsetzung folgt.)