Nr. 94 ♦ 44.�ahrgang
1. Seilage ües vorwärts
Ireitag, 25. 5ebruarl927
Em Strafrichter vor Strafrichtern. Die Vernehmung des Landgerichtsdirektors Jürgens.
Ein Landgerichisdirektor auf der Anklagebank! Man durfte neu- gierig fein: Wie wird das werden? Und man darf nach dem ersten Lcrhandlungstage wohl sagen: Es mochte sich ganz gut. Solch ein Gejühl der Sicherheit wünschte man auch jedem anderen Angeklagten. Ist das überhaupt ein Angeklagter, der hier vor Gericht seine Er- klärungen gibt? Der militärisch stramme und bewegliche Fünfzig- jährige mit dem Kahlkopf und kleinem Schnurrbart, immerfort zwischen seinem Platz und dem Richtertisch hin- und herpendelnd, die Hand in der Hosentasche oder in die Seite gestemmt sich verteidigend. verkehrte ganz kollegial mit dem Herrn Vorsitzenden: Land- gerichtsdirektor mit Landgerichlsdirektor. �Passen Sie auf, Herr Vorsitzender." ruft er ihm zu oder:.Verstehen Sie mich.".Sie brauchen es mir gar nicht vorzuhalten." Dann wieder:.Wollen Sie mir bitte vorhalten. Herr Vorsitzender.".Sehen E!« bitte mal nach, Herr Vorsitzender. ".Nicht wahr, sehen Sie.".Vielleicht merkt sich das der Herr Berichterstatter." So frei kann sich nur jemand im Gerichtssaal bewegen, der sich hier heimisch fühlt— selbst auf der Anklagebank. Es gab nur einen Augenblick, da der Landgerichts- direktor wohl ungefähr die gleichen Empfindungen hatte, die auch sonst Angeklagte befallen— er saß da noch auf der Anklagebank hinter der Barriere, nämlich, als der Cräffmingsbeschlusi mit der Aufzählung der ihm zur Last gelegten Handlungen vorgelesen wurde-, da oerfärbte er sich ein wenig, rieb verlegen-nachdenklich sein Kinn und senkte tief seinen Kopf. Im nächsten Augenblick gab er aber schon mit fester und lauter Stimme sein« politische Erklärung ab: Das ganze Verfahren sei nur eine Hetze seiner politischen Feinde, er und sein« Frau seien Opfer von Irrtümern. Sollte sich das be- Wahrheiten, dann um so besser für ihn und die Justiz. Dorläuslg heißt e» allerding« abwarten. Frau Jürgens hatte gestern keinen leichten Stand. Ueder manche Punkte konnte sie keine ge- nügende Erklärung geben. Auch sie will Opfer der politischen Hetze sein. Aus Ihrem Mund« klang die Behauptung noch naiver als aus dem Munde ihres Gatten. Im übrigen verlief die Gerichtsoerhand- lung ziemlich eintönig. Heute kommen die Zeugen binsichtlich des Meineides an die Neihe.
Nach der Mittagspause wurde Landgcrichlsdiretwr Jürgens vernommen. Der Angeklagte ist in dem zweiten Erdschgjtsprozeß, den die alt« Frau Kugler gegen die Schwiegertochter angestrengt hatte, als Zeuge vernommen worden. Dainals sagte er aus, dah er bei der Heirat über das Vermögen seiner Frau nicht orientiert gewesen sei. Er habe nur geniertt, daß sie u n- gewöhnlich viel Schmuck besaß, der wohl«inen Wert von 2 5 000 Mark gehabt haben muß. Von dem Rechtsanwalt des verstorbenen Kugler habe er aber erfahren, daß die Vermögens- läge des ersten Manne, seiner Frau eine sehr schlechte gewesen sei, daß Kugler zum Schluß Schulden hinterlassen habe. Er selbst, so sagte Jürgens damals als Zeuge, habe nicht gewußt, daß seine Frau von der Evoporatorgesellschast kZ0 OOE Mark erhalten habe, da er sich um die Bankgeschäste seiner Frau niemal» gekümmert habe. Vors.: Es wird Ihnen inm. zur Last gelegt, daß Sie''- unter Eid die unrichtige Behauptung «usgeslellt hoben. Sie hätten das Vermögen Ihrer Frau nicht ver- fallet. Der Erlös der Kasseler Villa sei in Wertpapieren augelegt worden. Zahlungen von der Evoporatorgesellschnst seien nicht ein- getroffen. Schließlich haben Sie behauptet, daß die Juwelen Ihrer Frau zum größten Teil gestohlen seien. Airgekl. Jürgens: Ich hörte, daß Kugl« in Kassel als reicher Mann gegolten habe, daß aber merkwürdigerweise nach seinem Tode nichts mehr vorhanden gewesen sei. Ich habe mich damals um die Vermägensoerhälinisse meiner Frau nicht gekümmert und habe ihr erklärt, wen» sie Ver- mögen habe, sei es gut, sie solle es selbst verwalten. Ich wußte »ur. daß sie Schulden hatte und von allen Seiten bedrängt wurde. Ueber dem Vermögen meiner Frau schwebte auch die Rachlaßver-
waltung und deshalb ließ ich sie allein wirtfchasten. Ich habe meiner Frau ein separates Konto eingeräumt, habe ihr meine eigene Vierzimmerwohnung zur Verfügung gestellt, habe ihr mein Sparguthaben übertragen und die Kaution bewilligt, habe ihr auch das ganze Geld aus dem Kasseler Hausoerkauf gelassen. Ich habe unter Eid die reine Wahrheit gesagt. Von Schulden in dem jetzk bekannten Amsange habe ich erst 1926 als Landaerichtsderektor In Berlin erfahren, als die Gläubiger in mein Dienstzimmer kamen. Es kam deshalb mit n, einer Fron zu scharfen Auseinandersetzungen. In dem Streit zwischen der alten Fmu Kugler und meiner Frau in Kassel sollte ich als Zeuge vernommen werden. Der Beweisbeschluß des Kasseler Gerichts hat mir bestimmt vorher nicht vorgelegen. Nach der Ver- nehmung habe ich dem Rechtsanwalt Wiejer den Haushalt in Star> gard und den Nachlaß zur Befriedigung' der Giäubiger zur Ver- fügung gestellt. Davon, daß Klagen der Bankfirma Pieiser pnd der Dresdener Bank gegen mich schwebten, habe ich erst vom Präsi- denten des Landgerichts III erfahren, als schon bei mir Haussuchung abgehalten worden war. Die Klagen waren meiner Frau während meiner Düsseldorfer Tätigkeit zugestellt worden, und al» ich sie des- halb zur Rede steilie, gab sie zu, sie habe mir diese Klagen«r- schwiegen und hätte sie selbst bezahlt: es handele sich um Schulden, die noch von Kugler stammten. Frau Jürgens: Mir tst es peinlich, daß mein zweiter Mann hier derart gegen meinen ersten Gatten auftritt, der ein sehr tüchtiger und gewissenhafter Mensch gewesen ist. Wenn mein jetziger Mann von der Kuglerischen Schuldenwirtschast spricht, so st i m m t d a s n i ch t. Vors.: 1919 besaßen Sie rund 250 000 M., und im Jahre 1920 haben Sie bei Freunden und Bekannten rund 400 000 M. ausgenommen. Wo sind denn diese sehr erheblichen Gelder geblieben? Frau Jürgens: Dieses Kapital hat die Inflation ge» fressen. Vors.: Dos stimmt nicht, denn die Valutaverluste habe ich natürlich auch berücksichtigt. Angekl. Jürgens: Unsere Konten waren von Ansang an getrennt. Mein Konto war absolut in Ordnung. Landgerichtsoirektor Bombe hielt dann Frau Jürgens vor. daß ihre Schulden beim Bankhaus Pfeifer ständig gestiegen seien. Wie erklären Sie sich da»? Frau Jürgens: Das weiß ich auch nicht. Ich habe so viel Gutes getan, und dann erwartete ich ja auch aus dem Ausland Beträge. Vors.: Wußte Ihr setziger Mann davon? Frau Jürgens: Nein, ich habe ihn von allem ferngehalten. Angekl. Jürgens: Sehen Sie, Herr Vorsitzender, daß ist ia der Kernpunkt des ganzen Drama». Ich als Jurist beantworte die Vriefe, die ich tatsächlich bekomme, sofort und mache mir entsprechende Vermerke und Kopien, aber was hier die Anklage behauptet, das fällt einmal alles zusammen, denn meine Frau hat Mir diese Briefe alle vorenthalten. Wo das Geld geblieben ist. weiß ich auch nicht. Ick) muß den Herren einmal klar vor Augen führen, daß dieser Kontrast zwischen meinem K o n t o und dem meiner Frau der Ursprung des ganzen Drama» ist. Meine Frau sagte immer, die Schulden stammten von ihrem ersten Mann. Vors.: Ist dos richtig? Frau Jürgens: Wenn mein Mann es sagt, dann wird es auch so sein. Vors.: Nun haben wir aber hier. Herr Jürgens, eine Quittung aus Kassel , die für Sie von Ihrer Sekretärin Latt unterzeichnet worden ist. Diese Quittung lautet über«inen Betrag von 4Z00 Mark, den die Eooporatorgesellschaft an Sie überwiesen hat. Angekl. Jürgens: Ich babe daran absolut kein« Erinnerung. Schließlich aber meinte er, sich zu erinnern, einmal persönlich bei Generaldirektor Litwin von der Eoaporatovgesellschast gewesen zu sein, da diese eine Bürgschaft für seine Frau übernehmen sollte. Ob seine Frau etwa hinter seinem Rücken Zahlungen von der Eoapo» ratorgesellschaft erhalten habe, könne er nicht sagen. Frau Jürgens erlitt gegen 2 Uhr nachmittags einen Schwäche- ansall, und auf Antrag des medizinischen Sachverständigen mußte die Verhandlung daraufhin abgebrochen werden. Der Prozeß wird am heutigen Freitag morgen 9 Uhr sortgesetzt.
Oer Hombenanschlag bei Sonneck. Drei Angeklagte schwer belastet. Unter ungeheurem Andränge des Publikums begann gestern früh vor dem erweiterten Schöffengericht Mitte unter Vorsitz von Amtsgerichtrot M a r g g r a f die Verhandlung gegen die drei Angeklagten, die beschuldigt sind, am 10. März 1926, abends um?�10 Uhr, den Bombenanschlag auf das Iuwelengeschost von Richard Bonneck in der Schönhauser Allee 43, Ecke Donzigcr Straße, unter dem Hochbahnviodukt verübt und zwei Paar Brillant- ochrringe im Werte von 50 000 M. xerauvt zu haben. Als die Täter sind angeklagt die Händler A l s r e d Josse und Willi Josse, beide Brüder, sowie deren Sttesbruder, der Kaufmann Otto Berndt . Der letzlere wird beschuldigt, die Brillanten verkauft zu haben. Der geschädigte Juwelier ist nicht wieder in den Besitz der geraubten Gegenstände gelangt. Die drei Angeklagten, die mehrfach vorbestraft sind, bestreiten ihre Schuld und die vom Staatsonwoltschostsrat Latte geführte Anklage stützt sich daher auf einen umfangreichen Jndi- zienbeweis. Der Angeklagte Otto Berndt , ein Mann von 42 Iahren, ist Ende vorigen Jahres auch bei einem Ehedrama, in dem er den Mittelpunkt bildete, genanM worden. Er war der Liebhaber der Frau des Kaufmanns Bruno Borcherdt, der die Frau in der Wohnung ihres Geliebten Berndt in der Mulackstraße überraschte und niederschoß. Borcherdt, zurzeit in Untersuchungshaft, wird seinem Rivalen jetzt vor Gericht gegenüberstehen, denn er ist einer der wichtigsten Belastungszeugen. Die Tat selbst wurde in der Are verübt, daß vor dem Juwetenladen zwei Feuer- werkskörper zur Explosion gebracht wurden. Unter dem Schutz der Rauchentwicklung und der Panik der»»ch allen Richtungen geflüchteten Etraßenpassanten hatte einer der beiden Titter, nach der Anklage Aisred Josse, mit einem in einem Stück blauer Schurze eingewickelten Feldstein und einem Husetsen die große Fensterscheibe eingeschlagen und die in der Auslog« in ausfälliger Weise ausgestellten werwollen Lrillanlohrringe geraubt. Willi Josse stand dabei mit einer Aktenmappe im Toremgang. Die Täter find durch einen anderen Ausgang nach der Danziger Straß« entflohen. Di« Angeklagten haben iich nach der Tat durch große Geldausgaben verdächtig gemacht. Der ältere der beiden Brüder. der Zljührige Alfred Josse, erklärte zu der Anklage:„Ich bin vollständig unschuldig und weiß von der ganzen Sache nichts." Der Angeklagte Willi Josse ist erst 25 Jcchre alt und hat bereit» ein langes Strasregister hinter sich. Auch er erklärte:„Ich habe keine Ahnung von dem ganzen Ding." Der dritte Angeklagte Berndt erklärt:„Es kommt gar nicht in Frage, daß ich mit dieser Sache etwas zu tun habe" Unter den VÄaslimgsmomeMen gegen die Brüter Josse spielt ein grauer Wintermantel mil Fischgrätenmuster eine wesentliche Rolle. Diesen Mantel soll Willi Josse getragen haben, wahrend er bestrettet, daß er ihm gehöre Er verweist auch daraus, daß der Mantel ihm zu groß sei. Der Schneidermeister Markowitz will den Mantel wiedererkennen. Eine Zeugin. Frau Witter bekundet, daß sie eine Treppe über Grete Josse, der Schwester der Angeklagten, wohne. Am Morgen nach der Tat kam Grete zu ihr hinauf, um die Zettung einzusehen. Sie sprachen über den Bom- benanschlag und Grete sagte ihr, sie möchte einen Augenblick hin- auskommen. Auf dem Trevpenslur sagte Grete:„Du mußt mir dein Ehrenwort geben, kein Wort weiter zu erzählen. Den Ein- bruch bei Bonneck haben meine Brüder gemacht. Die Schürze, in die der Stein eingewickelt war, ist von meiner Mutter. Mir hat das mein« Schwester Emma gesagt." Bor Ge- ricsst bestritt Grete Josse, über chre Brüder eine derartige Acußerung «macht zu haben. Sie oerstehe nicht, wie Frau Witter zu dieser Angabe komme. Dann äußerte sich San.-Rat Dr. Leppmann über den Geisteszustand des Angeklagten Alfted Josse. Der Sachverständige kennt Josse sehr genau, da dieser sich seit 1917 fast jährlich einmal In der Jrrenanstatt aufgehalten hat. Der Angeklagte ist a e i st i g zurückgeblieben, hat häufig hysterische Tobsucht?- a n f ä l l e und zeigt einen erheblichen Grad geistiger Minderwertig- keit. Als Zeuge wurde darauf der Strafgejangene Hermann L ü b- b e r t aus der Irrenabteilung vorgesührt. Der Zeuge hat bei der Polizei eine rnnjangreiche Aussage gemacht, in der er angab, daß sich Alkrqd Josse über Einzelheiten b« der Tat bei seiner Rückkehr von der ersten Bernehmrmg den Gefangenen gegenüber ausführlich oerbreitet habe. Jetzt will der Zeuge nicht wissen, daß der Ange- klagte sich selbst als Täter bezeichnet habe. Vors.: Ee nützt nichts,
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Die alte Geschichte. Drei Tage nach der Rückkehr des Vaters brachte der Briefträger einen Zahlungsauftrag auf siebenhundert Franken. Die Mutter fragte mich ganz entsetzt:«Was soll ich hm?" ..Zeig' es ihm und weigere dich, zu zahlen. Ihr kebt in Gütertrennung, die Wohnung lautet auf deinen Namen, jetzt oder nie ist der Augenblick, daß du dich auf deine Rechte berufst." ..Das stimmt." Sie verweigerte die Annahme. Nach einigen Tagen kam ein neuer Zahlungsauftrag an sie vom selben Gläubiger. Sie hatte den Mann niemals gesehen, ja sie kannte nicht einmal seinen Namen und wußte gar nicht, um was es sich handelte. Als sie den Vater befragt«, gab er ausweichende Antworten: Es fei eine Unverschämtheit, dieser Herr habe ihm vor drei Jahren die Hälfte der Summe geliehen, das sei Wucher und ähnliches mehr. Er machte gar keine Einwendungen, als die Mutter sich weigerte, zu zahlen. Zwei Tage darauf bekam sie eine Vorladung zum Friedensrichter, ich begleitete die Mutter in das Amt. Man bewies ihr schwarz auf weiß, daß sie am 15. November 191. cmen Wechsel in der Höhe von fiinshundert Franken unterschrieben hatte. „Aber das ist ja unmöglich, Herr Friedensrichter, vor drei Jahren hatte ich keine Ahnung, wo sich mein Mann aufhielt." „Prüfen Sie gefälligst diese Unterschrift, gnädige Frau, aber ich erlaube mir die Bemerkung, daß Ihr Bestreiten eine Klage auf Unterschriftenfälschung und Betrug nach sich ziehen müßte, entweder gegen den Gläubiger oder den/ Schuldner. Bitte, überlegen Sie genau, bevor Sie Ihre Aussage abgeben." Sie sah mich an.' Ihre Augen hatten den stahll/arten Blick aus den bösen Tagen. Sie neigte sich über die Unterschrist und sagte, sich an mich wendend, mit lauter Stimme:„Merkwürdig, ich habe es voll- ständig oergesien. Herr Friedensrichter, es ist meine Schrift, ich beschränke mich darauf, die Summe von siebenhundert Franken zu bestreiten, ich anerkenne sie nicht." „Dazu haben Sie das Recht, gnädig« Frau." Der Friedensrichter grüßte sie sehr höflich und begleitete
sie zur Tür. Als wir auf der Treppe waren, sagt« sie mir mit zusammengepreßten Zähnen:„Das ist wirklich eine Nieder- trächtigkeit: es ist natürlich seine Schrift. Mein armes Kind, ich fürchte, unser gutes Herz hat uns einen schlechten Rat gegeben." „Unverschämt." murnreUe ich,„was sollen wir denn jetzt tun?" „Ich weiß keinen Ausweg, die Sache wird sich jetzt in die Länge ziehen, wir können nicht zahlen und die alte Geschichte beginnt von neuem. Wieder werde ich bei jedem Läuten zusammenfahren, wieder werde ich mich vor den Nachbarn, dem Hausmeister und allen fremden Menschen schämen müssen. Und ich hatte doch schon gehofft, daß diese Demütigungen endlich vorüber sind." Als wir nach Haufe kamen, versicherte sie mir:«Ich werde ihm jetzt schon meinen Standpunkt klar machen." „Es ist aber bereits drei Jahre her." wagte ich einzuwenden. „Und wenn es vor zwanzig Jahren geschehen wäre! Es ist und bleibt eine Gemeinheit." Mit energischen Schritten ging sie ins Schlafzimmer. Der Vater lag zu Bett. Ich hörte ihre gereizte Stimme:.Jacques, das ist wirklich zu arg.. Bald beruhigt« sie sich. Endlich nur noch ein undeutliches Murmeln. Eine Viertelstunde später kam sie zu mir, in ihren Augen standen- Tränen. Ich wußte, daß sie unterlegen war. „Er hat so viel durchgemacht, ich muß dir alles sagen." Und sie erzählte mir eine Geschichte, die sie selbst nicht verstand. Damals mußte er Hunger leiden, in seinem Elend hatte er sich an einen Freimd gewendet, der ihm fünfhundert Franken vorstreckte, unter der Bedingung, daß Frau Valcourt mit unterschriebe, er hatte ihre Unterschrift gefälscht, ohne zu wissen, was er tat: er war damals wahnsinnig, verstört, wollte mit diesem Geld nach Paris gehen, wo«ine wunderbare, ganz einzige Anstellung ihm angeboten worden war, aber er mußte ordentlich gekleidet sein, in einem anständigen Hotel wohnen. „Nun siehst du ein. daß die Liebe zu uns ihn alles hat vergessen lassen" so schloß meine Mutter ihren Bericht. „Und konnte er diese Stelle nicht bekommen?" „Er hätte sie fast bekommen, aber mächtig« Feinde..." „Mächtige Feinde? Wer denn?" „Ich weiß es nicht, er spricht ja immer so geheimnisvoll, er behauptet, daß er es mir später einmal sagen wird." „Sonderbare Geschichte," meinte ich.
„Jedenfalls," versicherte sie mir— jetzt war sie wieder ganz gefaßt—„ist es das letztemal, daß ich mächtigen Feinden, die ich gar nicht kenne, weichen werde."> In einer plötzlichen Aufwallung fiel ich ihr um den Hals: „Mama, bitte, versprich es mir. Schau, jetzt hat er uns eine schöne Geschichte eingebrockt, Gott weiß, wie wir uns aus der Patsche ziehen werden." Die Mutter fuhr sich nüt der Hand über die Stirn. ,L>u bist ein braver Junge, ich werde dir von nun an alles erzählen, auch wenn es der Bater nicht erlaubt, für mich war es nych immer am besten so."? Ich öffnete den Mund, um eine Erklärung zu verlangen. die Mutter schloß ihn mir mit einem Kuß. Dann ging sie in die Küche, wo die Patin das Mittagessen bereitete., Die Patin, die über die große Liebe, die meine Mutter dem Vater entgegenbrachte, ganz gerührt mar, kam jeden Tag, inn„einige Handgriffe in dm Wirtschaft zu tim". wie sie sich ausdrückte. Die Mutter nahm diese Hilfe für ihren Gatten an, w den traurigsten Zelten hatte sie für sich alles abgelehnt. ,L>as ist etwas anderes," meinte sie zu ihrer Entschuldi- gung.„früher Ntten wir Mangel, heute handelt es sich nur um die Arbeit." Die Patin war ei,»e. sehr wertvolle Hilfe. Zeitig am Morgen schickte sie ihr Dienstmädchen zur groben Arbeit irnd das Mädchen blieb bis elf Uhr. Nachmittags kam sie selbst, immer ruhig, immer fröhlich, ein gutes, nachsichtiges Lächeln verklärte ihr Gesicht. Seitdem mein Vater wieder zn Hause war, holte sie die beiden Kleinen ad, behielt sie den ganzen Nachmittag bei sich und brachte sie abends müde und fröhlich zum Essen zurück. Zweinial wöchentlich, Mittwoch und Sams- tag, aß die Patin bei uns. Dann gab es immer eine kleine Ueberraschung, etwas Feines, das meine Mutter helmlich zu- bereitet hatte. Alle waren ihr zugetan. Sie erschien uns zugleich als Tante, Freundin imd erwachsene Schwester. Sie stand im selben Alter wie meine Mutter, war«ine aiunutige Brünett« mit braunen Augen, vollen Lippen, einer Stumpf- nase. Man konnte ihr« einstige Schönheit erkennen und noch innner sah sie fein und anziehend aus. das gerade Gegenteil einer alten Jungfer. Damals wurde sie ein wenig stark und sagte lachend zu meiner Mutter, daß die Rollen vertauscht wären. Mit sünfundvierzig Jahren hatte sie keinesweg alle Eitelkeit abgelegt, war tadellos gekleidet, gefiel den Leuten und wußte es auch. (Fortsetzung folgt.)