Das Sozialprogramm des Zentrums. Ter Etat des Arbeitsministers vor dem Reichstag . Der Reichstag nahm gestern zunächst das deutsch-tür- tische Abkomme» ohne Aussprache in allen drei Lesungen an. Daraus wurde die zweite Beratung des chaushalts des Reichsarbeitsministeriums fortgesetzt. Abg. Beckcr-Arnsberg sZ.) behauptet, daß die Sozialdemo- kratie ihren ersten Arbesterschutzgesetzeistwurf im Reichstag mit Unterstützung des Zentrums eingebracht hätte. Als Dank dafür hätten die«ozialdcmokraten damals gegen den ZcntrumseMwurs Galen gestimmt. Die Sozialpolitik sei durch die christliche Arbeiter- bewegung sehr stark vorwärtsgetrieben worden, und sie habe auch heilte noch den Willen dazu. Das Zentrum nehme es sehr ernst mit der Durchführung der sozialpolitischen Leitsätze, die es für die Regierungsbildung ausgestellt habe, und es sei nicht anzunehmen, daß daran die neue Koalition scheitern werde.(Zuruf bei den Sozial- demokraten: Sie werden schon zurückweichen!) Die Bestrebungen, das Arbeitsmini st ertum aufzulösen und die Abteilung dem Wirtschaftsministerium anzugliedern, werde auf den entschie- densten Widerstand der Arbesterschaft stoßen. Die sozialpolitische Gesetzgebung der ersten Jahre beweise, welche wertvolle Arbeit das Arbestsministerium geleistet habe und wie not- wendig seine Erhaltung sei. Es müsse nunmehr endlich mehr getan werden, um das Wohnungsproblem zu fördern. Hätte man die vom Zentrum im vorigen Jahre gemachten Vorschläge zur Finanzierung des Wohnungsbaues befolgt, so wären wir heute weiter. Die freie Wirtschaft auf dem Wohnungsmarkt müsse- kommen, so- lange aber Mangel an Wohnungen herrsche, müssender Mieterschutz erhalten werden. Die heutige Spanne zwischen Reu» und Altwohnungen sei zu hoch, deswegen könne man an einer Mieterhöhung nicht vorübergehen, die Folge aber müsse eine Er- höhung der Löhne und Gehälter fein. Die Arbeitslosigkeit fei heule noch erschreckend hoch, deshalb müsse gegen das llebersiundenwesen mehr als bisher vorgegan- gen werden. Die Sonntagsarbeit müsse ganz beseitigt werden. Gegen die Entlassung älterer Angestellter seien gesetzliche Maß- nahmen zu schaffen. Das velriebsrätegesetz müsse verbessert werden. An die Spitze der Sozialreform müsse die Sicherung der Selb st Verwaltung gestellt werden. Di« von gewisser Seite gegen die Krankenkassen gerichteten Angriffe weist der Redner ent- schieden zurück. Abg. Thiel(5. Dp.) macht den Lorschlag, die Schulzeit um ein Jahr zu verlängern, um die Zahl der jugend- lichen Erwerbslosen zu vermindern. Im Arbeitsnachweiswesen müßten die Länder enger zusammenarbeiten. Das Schlichtungs- wesen dürfe man nicht aus der Hand de» Staate» nehmen, so wünschenswert auch auf diesem Gebiet die Selbstverwaltung sei. Der Redner behauptet dann, die Darstellung des Abg. Hoch über die Entwicklung der Sozialpolitik fei übermäßig einseitig gewesen. Der Besitzbürgerblock würde den Arbeitern angenehme Enttäuschungen bereiten(Na, na! bei den Sozialdemokraten.) Es sei das B e r» dienst der Sozialdemokratie, daß sie die Arbeiter auf- gerüttelt habe. Aber sie habe bei ihnen gleichzeitig das national« und das religöse Gefühl ertötet. Die Politik der Sozialdemokratie wird jetzt von den Kommunisten fortgesetzt, und sie selbst hätten darunter zu leiden. Der Redner zählt alle Sozialzesetze auf, gegen die die Sozialdemokratie gestimmt habe.(Zuruf von den Sozial- demokraien: Stammt das Material vom Reichsverband zur Be- kämpfung der Sozialdemokratie?) Der Redner erklärt schließlich- wir ständen vor einer neuen Epoche der Sozialpolitik, die nur mit der christlichen Weltanschauung zu meistern wäre. Abg. Rädel(Komm.) behauptet, daß die Haltung der Sozial- demokratie zu den heutigen trostlosen sozialpolitischen Verhältnissen geführt habe. Die Tätigkeit des Reichsarbeitsministeriums diene nur den Interessen der Unternehmer, die Sozialpolitik werde ledig- lich in dem Sinne geübt, daß die Arbeiter durch sie beruhigt werden. Um 4KUhr vertagt das Haus die weitere Beratung auf Mitt- wach, den S. März, nachmittags 3 Uhr. Rumänisches Recht. Mord an Jude« ist straffrei. Um Juden und sonstige Muß-Rumänen anderer Rationalität vom Besuch der Hochschulen fernzuhalten, müssen sie selbst nach vor- züglichem Schulerfolg im Gymnasium— eine„Baccalaurens'prüfung ablegen, bei der man sie dann meistens durchfallen läßt, damit sie nicht akademische Grade erlangen können. So geschah e, in Czerno- witz auch dem Juden David F a l i k. einem sehr guten Schüler, der sich durch» Gymnasium durchgehungert hatte und seine Mutter durch Stundengeben erhielt. In der Erregung über die böswillig« Vernichtung ihrer Laufbahn pfiffen die Durchgefallenen die Prüfer aus. einer davon wurde leicht attackiert. Mehrere jüdische Studenten wurden angeklagt, darunter— infolge einer besonderen Hetzbroschüre des Attackierten, eines Iossyer Pogromagitator»— Falik als Rädelsführer. Der Prozeß wurde nach mehrstündiger Dauer vertagt. Auf dem Korridor schoß der' eigens aus Jassy herbeigereiste Nicola« T o i u, ein LOjähriger Schüler jenes Professors. Falik nieder. Nach drei Tagen furchtbarer Leiden war Falik tot. 40 000 SEen jchen gaben ihm das Trauergeleite: Trauerbeflaggung war verboten, ebenso der Weg der Prozession eingeschränkt. Der Mörder Totu wurde vor das Schwurgericht nicht in Czernowitz , sondern in Europa noch etwas ferneren Kimpolung gestellt. Hundert« Studenten reisten dazu nach Kimpolung. warfen unterwegs die Juden aus den Zügen, übten solchen Terrorismu». daß zahlreiche jüdische Familien flüchteten. 1700 Rechtsanwälte boten sich als Verteidiger Talus an; unter den Zugelassenen war I l l i e» c u, der fteigesprochene Mörder des Iaflyer Präfekten Zelea-Eodreanu und der frühere Oberleutnant Morarescu, der am Dnjestr sich als Schlächter und Marterer jüdischer Utrainaflücht- linge bewährt hat und dafür freigesprochen worden war. Der Terror von Kimpolung siegte. Der Mörder Totu ist freigesprochen worden. Der Weg zu hohen Würden steht ihm offen. Bielleicht wird er einmal Gesandter seines edlen Heimatstaates bei einer zivilisierten Nation: solche Mordbuben repräsentieren dieses Rumänien unstreitig am würdigsten.
Zaschistijche Erpressung. Noldin und Riedl dürfen heim, wen« Südtirol alles schweigend dnlde« will! Bozen . 26. Februar.(TU.) Auf die Vorstellungen der beiden Südtiroler Abgeordneten Sternbach und Tinzl beim Bozener Prä- selten dürften hie beiden deportierten Südtiroler Dr. Roldin und Lehrer Riedl in der nächsten Zeit in ihre Heimat zurückkehren. Der Präfett erklärte sich zur Befürwortung des Gnadengesuches bereit, wenn ihm zugesagt würde, daß künftig bei inter - nationalen Kongressen und Veranstaltungen die Auf- rollung der Südtiroler Frage vermieden werde. Allem Anschein nach ist diese Zusage gegeben worden. Die beiden Abgeordneten sind mit der Befürwortung de» Präfekten nach Rom gereist, wo sie Mussolini empfangen wird. » Mögen auch die Südtiroler schweigen müssen es werden genug andere über die infame Knechtung dieses deutschen Landes durch die aufgezwungene Fremdherrschaft, besonder» i» ihrer jetzigen Verbrecherform, zu reden verstehen!
Die lebendige Tote. Der Fall Machan.- Eine Anklage gegen die Sittenpolizei.
Die Bürgerschaft des Parlaments der freien Stadt Bremen hat am Freitag in langer Sitzung über den Fall der Grete M a ch a n verhandelt. Da dieser Fall Machan-Kolomak durch verschieden« Episoden und Widersprüche so kompliziert ge- worden ist, daß Außenstehende sich kaum noch durchsind«», dürfte es sich lohnen, ihn im Zusammenhang zu schildern. Kurz vor Weihnachten erschien im Herder-Berlag, Freiburg , dem angesehensten katholischen Verlag, ein einfaches Buch von 230 Seiten.Vom Leben getötet. Bekenntnisse eines Kindes", heraus. gegeben von der Oberin des iksulinerinnenklosters in Haselünne , Mater Ignatia Brem«. Diese Oberin hatte dem Buch ein Vorwort mst auf den Weg gegeben, dos unzweideutig feststellte, daß es sich um nachgeprüfte Aufzeichnungen eines katholischen Mädchens von 15 bis 17 Iahren handelre, Margarete Mochan(in Wirklichkeit Lisbeth Kolomak, die älteste Tochter eines deutschpolnischcn Schusters aus Bremen und seiner Frau, der jetzt 41jährigen Plätterin Elisabeth Kolomak. geb. Scholz au» Magdeburg ). Das Manuskript war als echt erkannt worden und wies ausschließlich die SchriftzÜAe der Tochter auf. Die Mutter, die im Dezember vorigen Jahres zum Katholizismus übergetreten war(der Vater und samt- liche Kinder waren katholischy wurde unter dem Dorwand der Er- holung. aber in Wirklichkeit zur stillen Beobachtung, wachen- lang im Kloster zurückgehalten: man ertappte sie auf keiner Lüge, und erst noch allen möglichen Sicherungen und Kautel«» wurde die Veröffentlichung des Buches beschlossen. Da» Buch erschien also und machte nicht nur seinen Weg, sondern auch da» Schicksal der Familie Kolomak. Bon diesem Weg hatte dos Buch schon drei bis vier Wochen zurückgelegt und war auch schon in katholischen Zeitschriften be- sprachen worden, als in Bremen bekannt wurde, daß Ort der Hand- lung Bremen war(im Buch unter dein neutralen»Neuburg an der Elbe " kaschiert) und daß die jugendliche.Berfasserin" in Bremen am 1. Juni 1024 verstorben war.(Die echte Todesanzeige in,„Bremer Generalanzeiger" war bald gefunden worden!) »W e s e r- Z e i t u n g" und„Bremer Boltszettung" griffen am 7. Januar den Fall auf— erster« mehr seutlletonistisch, letztere mehr gefellschaftskritisch, unter Hinweis auf die kritikwürdigen Zu- stände bei der Sittenpolizei und in der städtischen Krankenanstalt. Mit diesem Artikel war der Kamps entbrannt, nicht nur um die künstlerisch« Leistung des Buches und di« Autorschaft, sondern auch um die sozialen Problem« die es gewaltig und tieftmsrüttelnd aufwarf. Statt daß nun die P o li z e i die Möglichkeit von technischen und persönlichen Fehlern zugab und Besserungen und organisatorische Reformen in Aussicht stellte, die auch in anderen Städten an der Tagesordnung sind, versteifte sie sich auf ihre.Unfehlbarkeit", drehte den Spieß um und beschuldigte die Mutter der.Kuppelei" und die Tochter der„gewerbsmäßigen Unzucht". Letzterer Vorwurf wurde durch die Polizeiakten bestätigt, wenn man ein fünfzehnjähriges Dmg, das m der Inflationszeit durch Kaffechausbefuch zu Herren- betanntschasten kam, mit diesem porographenschweren Begriff be- legen will. Es fiel auf. daß die Pollzsi eine solche tn brutale Warte gefaßte Erklärung schon tag» noch dem erste» Angrtffsortitel der„Bremer Volkszsitung" veröffentlichen konnte. Bald stellte sich heraus und die Polizei mußt« es wiederholt bestätige«—. daß sie als erste in Bremen von dem Erscheinen des Buche» unterrichtet war. ein Exemplar davon schon am 15. Dezember besaß und am 30. De- zembei bereits eine Prostituierte Gertrud W.(im Buch Lisbeth genannt), desgleichen später ihren Zuhälter polizeilich vernommen hatte. Die„Dolkszettung" hingegen hat von der Existenz des Buches erst amS.Ianuar Kunde erhalten. Eine klug« Polizei hätte auf die ihr bekannten Zusammenhänge sofort, erst recht nach der Vernehmung von Zeugen, aufmerksam gemacht und so von vorn- herein eine Irreführung oermieden. So aber spickte sie eine ungeschickte Erklärung nicht nur mit Brutalitäten, sondern auch mit Unrichtig- ketten, und mußte sich diese wiederholt nachweisen lassen. >» Inzwischen setzte sich in Bremen und quswäris die Diskussion über das Buch, seinen künstlerischen Wert und seine soziale Bedeutung fort. Niemand zweifelt« an der Echtheit der Aufzeichnungen. Plötzlich, am 10. Januar, erschien in d«n.Bremer Nachrichten " ein im Stil der Kitsch- und Schundromane geschiebener Brief einer Frau Grete Abt(in Wirklichkeit Z i e n e r). hie sich als intime Freundin der Frau Kolomak vorstellte und unter Anruf von Gott und allen Heiligen versicherte, daß sie den Staat und die Polizei retten wolle durch die Enthüllung, daß nicht die Tochter Margarete, die einen nicht einwandfreien Lebenswandel geführt hätte(sogar Dollars habe sie genommen— man denke bloß!!), sondern Srm kolomak das Tagebuch geschrieben habe, um die Ehre ihrer Tochter wiederherzustellen. Sie, die Frau Abt, habe selbst die Anregung dazu gegeben, jedoch nicht mit einem Buch gerechnet. Und nun denunziere sie die.F ä l s ch u n g". Unter dem Druck der Enthüllung und au» Angst vor dem Hohn der bösen Nachbarn(man müßte eigentlich hier ein Kapitel einschalten über die Tragödie des vielgerühmten bremischen Kleinhause», in dem die Nachbarn jedes Wort durch die Wände ablauschen und jeden Kochtopfgeruch einsaugen!), verließ Frau Kolomak da, Haus und versteckte sich einige Tage bei treuen Bekannten(eines Abends fand man sie zusammengebrochen auf dem Grab« ihrer Tochter). Am 20. Januar schrieb sie dann an einen Redakteur der„Bremer Volks- zeitung" und togs daraus auch an die Herqusgeberin. die Oberin Ignatia Brem« in Haselünne den Geständnisbrief. Dieser Brief brachte zum erstenmal Klarheit sowohl über dw Schreiberin als auch über die Motive der Fälschung. Sein Inhalt ist bis jetzt durch keine polizeiliche Vernehmung erschüttert worden- Er lautet: Bremen , den 20. Januar 1027. Sehr geehrter Herr Faust! Ihnen und allen denen, die es gut mst mir meinten, gestehe ich, daß ich das Tagebuch selbst geschrieben habe. Nicht allein das traurige Schicksal meiner Tochter, der Klatsch. die Verleumdung und die Vorurteile gegen uns und di« anderen Kinder gaben mir die Kraft, Erzähltes und Geschriebenes wieder- zugeben. Ich versetzte mich in die Natur meine» Kinde», das ich als Muster am' besten konnte. Alle ihre Vorzüge und ihre Schwächen durchlebte ich und kannte daher alles leicht auf» Papier bringen. Ich wußte kaum noch, daß mein Kind tot war. und so raffte ich nstch nach und nach aus, ohne je daran zu den» ken, daß das Geschriebene veröffentlicht werden könnte. Bei kleinen Mißverständnissen in der Schule, worunter die Kinder sich gekränkt fühlten, verteidigte ich sie dadurch, daß ich das Buch-dem Lehrer brachte und um volles Vertrauen bat. rrr. Dam» ging tt allein seinen Weg. Ich konnte es nicht mehr
unmöglich machen. Man wollte es ja benutzen zu einem guten Zweck Ich habe nur die Ehre meiner Tochter und der lebenden Kinder wahren wollen. Und als das Buch zum Wohl der heranreifenden Jugend dienen sollte, gab ich meine Ein- willigung zur Herausgabe." Die unter der Last der Ereignisse zusammengebrochene Mutter wurde dann zur Erholung ins Kloster Haselünne gebracht, bis sie am 28. Januar von zwei Kriminalbeamten von dort abgeholt und ins Bremer Untersuchungsgefängnis gebracht wurde, wo man sie unbegreiflicherweise heute noch. unter Kuppelei- o e r d a ch t zurückhält. Freitag mittag, den 28. Januar, betrat die Frau die Zelle des Untersuchungsgefängnisses: am Sonnabend darauf fuhr ihr Mann, dem man keine Silbe von der Verhaftung seiner Frau mitgeteilt hatte, noch ms Kloster, um seiner Frau Wäsche zu bringen. Die Verhaftung erfuhr er erst Montag durch die Zeitung! Die„mütterliche Lüge". Frau K. hatte die mütterliche„Luge " verbreitet, daß ihre Tochter Lisbeth an der Grippe gestorben sei. Begreiflicherweise wollte sie Lisbeths Geschlechtskrankheit vor den Verwandten, Bekonnten und Nachbarn verschweigen. Es gelang aber nicht gänzlich, da selbst neugierige Nachborn sie heimlich ins Krankenhaus verfolgt und festgestellt hatten, daß sie in die„Villa Sonnenschein" (so nennt sich mit einem grausam-euphemistischen Andruck die Ge- schlechtskrankenstation der Bremer städtischen Krankenanstalt) eintrat. Auch m der Schule hatte man in Gegenwart der jüngeren Geschwister der Lisbeth nichts Gutes über die tote Schwester erzählt. Die Mutter beschloß die Ehrenrettung ihrer Lieblings- tochter und brachle die ZNanuskrlpke dem Lehrer. Da» hätte Lisbeth zwischen ihren Heften und Büchern unterm Bett hinterlassen. Er möge lesen und sich überzeugen, daß ihre Tochter nicht schlecht war. Der Lehrer las, las und war nicht nur überzeugt, sondern auch erschüttert. Von der Mutter, die ihm di« Hefte übergeben hatte, unter der Verpflichtung, sie niemandem zu zeigen, hotte er sich die Erlaubnis, sie anderen an der Jugendpflege interessierten Personen zu zeigen. Die Mutter, das Ende vorausahnend, sträubte sich zu- nächst, gab aber schließlich ihre Einwilligung. So kam dos Manu- fkript in die Hände des Jugendrichters, der das IKjährigc Mädchen vor seinem Richterstuhl gehabt und im Glauben an seine Besserungsfähigkeit freigesprochen hatte, selbst nachdem die Polizei es schon im grünen Wagen ins Krankenhaus trans - portiert und es inmitten eines Dutzend gefchlechis kranker Dirnen der Salvarsankur zugeführt hatte. Der Jugendrichter war ebenfalls erschüttert: er erkannte die m o r a l i s ch e T r a g w e i t e des Buches, ließ davon acht Schreib- maschinenobschriften herstellen, die von Hand zu Hand wanderten, insbesondere unter den Fürsorgepflegerinnen. Ein Exemplar wurde gleichzeitig der Srlminalpolizel ausgehändigt, die also da» gesamte Material zwei Jahre vor Erscheinen de, Buches i« Händen hatte(in dieser Wschrift waren die Nomen und Straßen noch nicht Pseudonym!), ohne etwas zu unternehmen, weder zur Rechtfertigung der Polizei und de, Krankenhauses, noch zu Straf- Verfolgungen gegen di« Mutter oder sonstige Personen. Ein« katholische Fürsorgepflegerin, die mst der Oberin von Haselünne befreundet war, übersandte eine der acht Abschristen ins Kloster, von wo au» dann dos Buch—- nach vielem Zögern, jedoch ohne jegliche Umarbeitung bzw. Korrektur— an den Verlag von Herder(Frekburg) gelangte, der es zu Weihnachten herausbrachte. Die Schustersfrau ist eben nicht nur eine phänomenale Schriftstellerin, sondern auch Handschriften- Nachahmerin, die alle Theorien der Graphologen mnwirst! St« hatte sich in die Handschrift ihrer Tochter ebenso zu ver- senken vermocht wie in die S e« l e ihrer Tochter. Je klarer ihr im Laus des Schreibens diese Mädchenseele wurde, in welche die auf der Schattenseite des Lebens wandelnde Schusterssrau ihre eigenen Wunschträume oerankerte, um so flüssiger und ausgewachsener wurde auch die Handschrist dieser Tochtennutter oder Muttertochtcr. Zweifellos liegen hier noch ungeklärte Probleme, zu deren Lösung der Hinweis dienen mag, daß Frau Kolomak die Tochter eines Magdeburger Schusters, Vaters von 12 Kindern, ist, der im I r r e n- haus starb. Affinitäten an der Grenze von Genieund Wahn- sinn mögen auch bei Frau Kolomak festzustellen sein.— Sie schrieb vor Iahren einen natürllch unveröffentlicht gebliebenen Roman, den jedoch einer der Einlogierer zum Teil im Manuskript las, ohne daß er ihm imponierte. Der Roman, der jetzt vernichtet sein soll, trug den Titel„Das Schjcksal einer Ihren" und reflektierte die Eindrücke, dt« der jungen Frau Kolomak durch die Geisteskrankheit ihres Vaters eingeprägt wurden. Alles weitere ist auch durch frühere Meldungen des„Vorwärts" bekannt. Die sozialdemokratische Bürgerschastsftaktion reichte eine Interpellation ein, durch die die Bekanntgabe des amtlichen Untersuchungsergebnisses über die Beschuldigungen gegen Polizei und Krankenanstalt gefordert wird, desgleichen Reformmaßnahmen zur Verhinderung ähnlicher Vorkommnisse. Mit der BeaMwortung der Interpellation am letzten Freitag ist aber der Fall nicht zu Ende. Denn dann erst beginnt die tote Margarete lebendig zu werden: als EntHüllerin von Sesellschastszustanden, die dringend nach Abhilf« schreien: als Ruferin zum Schutze der gefährdeten Jugend, nicht durch Schmutz- und Schundgesetze, s andern durch einschneidende Reformen in der Wohlfahrtsjugendpflege: als Streiterin gegen das menschenunwürdig« System der Sitten- polizei, die mit Juchtcnsticfeln in Leib und Seele der Opfer der Prostitution tritt, straft und vernichtet, statt zu hellen und zu bessern. Auch die Dirne ist ein Mensch, erst recht die minderjährige, die letzten Endes auch vom Arzt noch gerettet werden kann, wenn er in ihr da, Menschenkind und nicht den Behälter für mehr oder weniger problematische Einspritzungen stcht. Alfred Faust , Bremen
Lebenslängliches Zuchthaus für Schröder. Die vom Schwur- gerickst Magdeburg dem früheren Handelsschüler Schröder wegen Ermordung des Kaufmanns Helling auferlegte Todesstrafe ist durch Erlaß des preußischen Staatsministeriums vom 26. Februar 1027 in lebenslängliches Zuchthaus umgewandell worden. Auch der Abgeordnete Seiffert ist aus der Deutschoölkischen Freiheitspartei ausgetreten und damit, wie die Abgeordneten Luden- dorff, Kub« und Dr. Best, parteilos. Veruardino Machado. der frühere Staatspräsident von Portu- gal. mußte auf Befehl der jetzigen Machthaber sein Land ver- lasse« und ist nach Spanien gegangen. Wachado ist 72 Jahre alt!