Abendausgabe
Str. 115 44. Jahrgang Ausgabe B Nr. 57
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10 Pfennig
Mittwoch
9. März 1927
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Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands
Zuchthausantrag im Jürgens- Prozeß.
22 Jahre Zuchthaus gegen Jürgens, 1 Jahr Gefängnis gegen die Ehefrau.
Im Jürgensprozeß stellt Oberstaatsanwalt Jordan folgende| fönlichen Vorteiles willen gesagt, daß die Strafe in diesem Falle Strafanträge: nicht schwer genug sein könne. Acht Monate feien deshalb dafür die mindeste Buße.
Gegen Frau Jürgens wegen Meineids unter der Ermäßigung des§ 157 und unter Berücksichtigung ihrer starkverminderten Zurechnungsfähigkeit die zuläffige Mindeststrafe von 5 Monaten Gefängnis, wegen des Betruges an Oberregierungsrat Falch 3 Monate Gefängnis, Betrug an Landgerichtsrat Joachim 1 Monat Gefängnis, an der Kreissparkasse 2 Wochen Gefängnis, wegen des Kolberger Versicherungsbetruges 4 Monate Gefängnis, wegen des Stargarder Bersicherungsbefruges 4 Monate Gefängnis, zufammen zuziehen auf eine
Gesamtstrafe von 1 Jahre Gefängnis,
die durch die erlittene Untersuchungshaft als verbüßt zu betrachen jei. Der Haftbefehl gegen Frau Jürgens fei aufzuheben.
Gegen Jürgens beantragte der Oberstaatsanwalt mit der Begründung, daß, wenn ein Richter in so gehobener Stellung, wie der Angeklagte, einen wissentlichen Meineid leiffe, die Min. deftstrafe von 1 Jahr Zuchthaus nicht ausreiche, wegen des Meincides zwei Jahre Zuchthaus, wegen der Kolberger und Stargarder Versicherungsbetrugsfälle je 8 Monate Ge. fängnis, wegen der falschen Anschuldigung in drei Fällen je 3 Monate Gefängnis und wegen des verfuchten Betruges gegenüber dem Oberreichsanwalt 8 Monate Gefängnis, zusammen. zuziehen auf eine
Gesamtstrafe von 2 Jahren 6 Monaten Zuchthaus, auf die 1 Jahr Untersuchungshaft anzurechnen sei. Ferner beantragte der Oberstaatsanwalt gegen Jürgens Berluft der bürgerlichen Ehrenrechte auf die Dauer von 5 Jahren, fowie auf Erfernung der Eidesunfähigkeit und der Bekanntmachungsbefugnis. Zum Betrugsverfuch gegenüber dem Oberreichsanwalt betonte der Antlagevertreter, daß diefer Fall beinahe am schwersten wiege, denn Jürgens habe im Dienste dieser Behörde hauptsächlich gestanden und ihr in einer Art und Weise die Unwahrheit um feines per
Delhi , Anfang Februar. Diesmal haben wir Glüd! Joshi hat vier Karten erobert, mit denen wir Zutritt erlangen zur ersten Sigung, die Indiens Abgeordnete im neuerbauten Sandtortenpalast abAlles, was Jürgens über die Forderungen aus den angeblichen halten. Und die Debatte geht auch nicht um die Wahl der Schulden Kugels gesagt habe, sei völlig unglaubwürdig. Schließlich Tapetenfarbe für die Fraktionszimmer, sondern wird den habe er auch beschworen, daß er nicht wisse, welche Zahlungen von heißesten Gegenstand berühren, der aus dem Feuer der indider Evaporatorgesellschaft ausgegangen seien, obgleich die Gesellschen Politit herausgeholt werden fann: die politischen fchaft 16 Tage vorher in einem Schreiben, das er eingestandener. De portierten und die Bengalische Verordnung, fraft maßen gefannt habe, alle diese Bahlungen aufgeführt habe. Nicht deren ein politisch tätiger Inder morgens um fünf Uhr in Kalvorsichtig, wie er selbst behauptet habe, sondern zweideutig, habe tutta aus seinem Bett geholt und auf Jahre hinaus nach sich Jürgens bei seiner eidlichen Vernehmung ausgedrückt, genau so Birma verschickt werden kann, ohne jemals zu erfahren, zweideutig, mie gegenüber der Beamtenzentralbant. Er fel des Meineides in zwei weiteren Fällen fchuldig, in denen ihm der Schutz des§ 157 nicht zur Seite stehe, ebenso wie er sich des Betrugsvergehens an dem Reichsjustizfiskus dadurch schuldig gemacht habe, baß er beim Oberreichsanwalt den Antrag auf Ent. fchädigung für den ihm bei den angeblichen Einbrüchen erwachsenen Schaden gestellt hatte. Dann stellte der Oberstaatsanwalt die bereits wiedergegebenen Anträge.
Nach einer Pause begannen die Plädoyers der Verteidigung. Als erster Anwalt sprach der Verteidiger des Landgerichts. direktors Jürgens, Justizrat Dr. Werthauer, der zunächst Kritik an der Beweisführung des Oberstaatsanwalts übte. Nicht den leifeften Beweis habe der Herr Oberstaatsanwalt dafür erbracht, daß das Ehepaar Jürgens die Täter feien. Erst als der Untersuchungsrichter wegen des angeblichen Versicherungsbetruges schon den Haft befehl habe aufheben wollen, da sei erst die Staatsanwaltschaft mit dem alten, halb vergessenen Erbschaftsprozeß der alten Frau Kugel gegen Frau Jürgens gekommen und habe unter Berufung auf dieses Berfahren Fortdauer der Haft verlangt. Wie jeder Erbschaftsprozeß unter Verwandten, so sei auch dieser mit den schwersten Anwürfen geführt worden. Mit aller Gewalt habe man versucht, den zweiten Ehemann der Frau Jürgens in den Rechtsstreit hineinzuziehen. In neun Jahren sei dieser Prozeß nicht zu Ende geführt worden.
Stresemann- Zaleski- Konferenz.
Verwaltungsarbeit des Rates.
V. Sch. Genf , 9. März.( Eigener Drahtbericht.) Die heutige Gigung des Rates war noch fürzer als die gestrige. In fnapp 25 Minuten wurden sechs Punkte der Tagesordnung erledigt; und auch die vertrauliche Sigung im Anschluß daran dauerte nicht viel meniger. Der relativ wichtigste Gegenstand war die Ueberreichung es Berichts einer Sachverständigenkommission über den Mädchenandel. Dieser Bericht ist das Ergebnis einer unparteiischen drei ührigen Enquete, die besonders in Lateinamerika geführt wurde. Die Kosten in Höhe von 75 000 Dollars waren vom amerikanischen Bureau für Sozialhygiene getragen worden. Zum erstenmal ſeit Bestehen des Völkerbundes nahm ein Amerikaner, Dr. Snow , als Borsitzender der Sachverständigentommiffion am Tisch des Völker. bundsrates Platz und gab auch eine kurze Erklärung ab. Wenn auch der Bericht auf die tieferen sozialen Ursachen der Prostitution und des Mädchenhandels nicht eingeht, so bietet er immerhin eine jolche Fülle von authenischem Tatsachenmaterial, daß alle Zweige der internationalen Frauenbewegung und die Parallelausschüsse aller Länder sich mit ihm beschäftigen sollen.
Burzeit fonzentriert sich das Hauptinteresse auf die deutschpolnischen Verhandlungen, die heute nachmittag endlich durch eine erste Begegnung Stresemanns mit Baleffi eingeleitet werden sollen. Eine englische oder französische Vermittlung dürfte nur noch in Frage kommen, wenn sich große Schwierigkeiten ergeben sollten. Wenn es gelingt, durch diese Genfer Besprechungen die Wieder. aufnahme der unterbrochenen Handelsvertragsverhandlungen zu ermöglichen und zugleich über die polnische Ausweisungs pragis beruhigende Zusicherungen zu erlangen, dann werden die Genfer Tage für Deutschland und für Europa nicht ganz vergeblich gewesen sein. Sonst dürfte ihr politisches Ergebnis recht mager sein. Auf der einen Seite ist das bebauerlich, besonders was die Erfüllung der deutschen Wünsche im West en betrifft. Anderer feits ist es erfreulich, daß es Chamberlain offenbar nicht gelungen ist, andere Mächte außer Italien in das Netz seiner antirusfischen Pläne zu verstricken. Diese Gefahr gilt als abgewendet, ba auf allen Seiten der Wunsch besteht, England und Rußland ihren Streit unter sich austragen zu laffen Daß dieser Wunsch dem englischen Außenminister wohl bekannt ist, geht schon aus seinen Morten auf dem gestrigen Preffeempfang hervor, wonach England mur deshalb seine schlechten und anormalen diplomatischen" Beziehungen mit Sowjetrußland nicht vollständig abgebrochen habe, um nicht andere Mächte in Berlegenheit zu bringen.
Zurückhaltung in der Räumungsfrage geboten.
V. Sch. Genf , 9. März( Eigener Drahibericht.) Strefes mann tut flug daran, Zurückhaltung zu üben. Sollte er jemals im Zweifel darüber gewesen sein, daß die inter nationale Atmosphäre für die Erfüllung der deutschen Räumungswünsche wesentlig ungünstiger geworden ist, so
ist er sich jetzt auf jeden Fall darüber im flaren, nachdem er am Sonntag sowohl mit Briand wie heute nachmittag mit Bandervelde fich lange unterhalten hat. Und wenn die dem Außenminister Nahestehenden sich noch immer nicht dazu entschließen können, den Grund dieser Verschlechterung zuzugeben, wenn sie noch immer bestreiten, daß die Bildung der Rechtsregierung die Hauptursache dieses Stimmungsumschwunges ist, dann fann man nur dem Auswärtigen Ausschuß des Reichstages empfehlen, Herrn Strese mann nach seiner Rückkehr zu befragen, was ihm Briand und Bandervelde trotz aller gebotenen diplomatischen Zurückhaltung darüber zu verstehen gegeben und im einzelnen ausgeführt haben. Schließlich haben die deutschen Volksvertreter, insbesondere die Abgeordneten der besetzten Gebiete, das Recht, zu erfahren, moran sie sind und wie sich die Einbeziehung der Partei West arps in die Regierung außenpolitisch ausgewirkt hat.
Dreimächtekonferenz gegen die Seerüstung Amerika lädt England und Japan ein. Washington, 9. März.( WTB.) Coolidge hat England und Japan zu einer Dreimächtekonferenz über die Einschränkung der und Japan zu einer Dreimächtekonferenz über die Einschränkung der Flottenrüftungen eingeladen.
und
In Washington wird dazu erklärt: Wenn die Regierungen von London und Tofio, die bisher noch nicht geantwortet haben, den Vorschlag Ameritas annehmen, werden Frankreich Italien wahrscheinlich aufgefordert werden, Vertreter als Be obachter zur Konferenz zu entsenden. Man glaubt, daß die neue Einladung der Bereinigten Staaten teine bestimmte For mel für die Festsetzung einer Höchsttonnage für Kreuzer, Torpedo bootzerstörer und Unterfeeboote enthält. Auf der Genfer Konferenz follen die Möglichkeiten einer Berständigung geprüft werden.
Im Weißen Hause wurde erklärt, Präsident Coolidge fel der Meinung, daß die bisher von auswärts eingegangenen Aeußerungen über feinen Verfuch, einen Erfolg des Planes einer Dreimächte. tonferenz erhoffen laffen.
Der Fall Machan.
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Frau Kolomak aus der Haft entlassen. Bremen , 9. März.( Eigener Drahtbericht.) Heute mittag ist die Verfasserin des Tagebuches Bom Leben getötet" der Magarete Machan, Frau Kolomat, auf Antrag ihres Verteidigers aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Man hat die der fchweren Kuppelei verdächtigte Frau Kolomat, die Mutter von vier Kindern ist, fast sechs Wochen wegen Fluchtverdachtes und Verduntelungsgefahr in der Untersuchungshaft festgehalten
warum.
gängen stehen wegweisende indische Polizisten, den Turban Um elf Uhr vormittags treten wir ein. In den Wandelauf, fonft in englisch Khafi gekleidet. Erotischer sehen Wächter, Boten und Pförtner aus: lange purpurrote Röde, weit über die Knie reichend, der obere Teil mit goldenen Schnüren und Stickereien reich verziert, desgleichen der Turban. Und im breiten, gelbroten Lendengurt in goldener Scheide, mit goldenem Griff das lange Gurthamesser. Noch bunter ist es auf der Tribüne Inder im weißen Hemd, Schal und dhoti", dem Beinkleid, das halb Rod, halb Hose ist, wechseln mit europäisch Gekleideten beider Hautfarben ab. Die Frauen figen getrennt an beiden Enden der halbrunden Galerie; nochmals getrennt( vielleicht zufällig) nach Rasse: Gruppen englischer Damen, daneben Reihen von Eurasierinnen der anglo- indischen Mischraffe, die zwischen ihren beiden Erzeugervölkern ein entwurzeltes, wenig glückliches Dasein führt. Diese hier gehören zur wohlhabenden Oberschicht, sind malerisch angezogen mit goldgerandeten Geidenkleidern und weit herabhängenden Kopftüchern, und geschmückt mit breiten goldenen Armspangen. Stammechte Inderinnen fehlen, bis auf eine- Naidu, die Dichterin, die viel politisch wirkt und im Lande einen großen Namen hat. Diese Debatte schien ihr wichtig genug, um von Bombay aus anderthalb Tagereisen bis hierher zu unternehmen.
Auch drunten die Arena des Redetampfes ist farbiger als die des Reichstags. Die Swarajisten erscheinen zumeist in der Nationaltracht und tragen die kleinen meißleinenen Gandhimüßen, denen unserer Maurer und Anstreicher ähnlich, seltener den Turban. Weder bei ihnen, noch bei der Fraktion der Nationalisten sieht man viel europäische Kleidung. Häufiger schon ist sie bei Jinhas Unabhän gigenpartei, wo eine Anzahl Feze die vorwiegend mohammedanische Führung verraten.
Meine Musterung wird unterbrochen; der Präsident des Hauses erscheint. Wie sein Kollege im englischen Unterhaus trägt er die weiße Krausperüde und den phantastischen Umhang.
Ehe die Reden beginnen, müssen wir Kleine Anfragen" und deren Beantwortung mitanhören. Die Fragen kommen meist von den Swarajbänken. Der Bertreter der Regierung, ein Engländer, beantwortet sie frisch, wie sie aus den Lippen kommen. Manchmal wirft er mit der Flinkheit eines Kabarettfomiters in der Friedrichstraße mit lafonischer Kürze einen Sarkasmus hin, der die Halle der ,, Bolksvertre tung" mit einem Echo des Gelächters erfüllt.
Jetzt verkündet der Mann mit der Berücke eine eingegangene Resolution auf Abschaffung der bengali. schen Berbannungsordonnanzen, deren Begründung die Debatte eröffnen foll. Der Antragsteller, ein Swa dunkler Hautfarbe, in dessen schwarzer Schädelmasse von hier oben aus tein Einzelzug der Gesichtsbildung zu erkennen ist. Nur die weißen Zähne sieht man bliken, wenn er die Lippen öffnet- schade, daß dem Blig nicht Donnermorte folgen. Er rebet zaghaft, schwach, mit monoton heller Stimme; spricht von der Allmacht der Polizei, niederträchtigem Spionentum und Lodspizzeln, von schuldlosen und sittlich hochstehenden Opfern dieser Erbärmlichkeit. Seine Argumente sind gut, aber marschieren ordnungslos. Gelangweilt fißen die Bertreter der Regierung und der weißen Fraktion, denken vielleicht an Besoldungsreglement, Textilfabriken und Teeplantagen und geben sich nicht die geringste Mühe, ihre Indifferenz zu verbergen.
rajist, erhält das Wort. Er ist ein Inder von madrassisch
Pandit Motilal Nehru , der ehrwürdige, weißhaarige Frattionsführer, steht auf und begründet den von ihm gestellten Eventualantrag, falls die Aufhebung der Verbannungsverordnungen nicht beschlossen werde, molle bas Haus die Freilassung der Häftlinge beziehungsweise Einleitung gerichtlicher Berhandlung gegen sie beschließen. Seine Hautfarbe ist kaum dunkler als einige fonnegeschmorte Gesichter der Plantagen- und Baumwollfraktion. Mit der enganliegenden Soutane und dem langen scharfgeformten Schädel fönnte man ihn für einen tatholischen Domherren halten. Ein Redner eigentlich ist auch er nicht, aber was er fagt, ist feiner gesetzt els die Rede seines Swarajgenossen. Er spricht vom..hochfahrenden britischen Imperialismus, der das indische Bolt verftlant" und läßt gelegentlich sogar die weiße Fraktion aufhorchen.
Diese findet sogleich Entschädigung für die erlittene Lang weile.