Abendausgabe
Nr. 127 44. Jahrgang Ausgabe B Nr. 63
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10 Pfennig
16. März 1927
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Abgekartetes Spiel?
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Die große Sensation, die im Fememordprozeß erwartet wurde, ist heute eingetroffen und war feine. Gestern schwirrten Gerüchte in der Luft: Geständnisse stünden bevor. Heute morgen legte im Namen feines Mandanten Fuhrmann Rechtsanwalt Hildebrandt Berwahrung dagegen ein, daß die Breffe derartige Gerüchte in die Melt setze. Und siehe da! Das Geständnis ist schnell gemacht und war gar feines. Fuhrmann will nun die Wahrheit sagen, diesmal bie ganze. Und er sagt sie:
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Der Hauptmann Gutknecht, sein Bataillonskommandeur, habe ihm eines Tages während eines Spaziergangs mitgeteilt, ilms sei ein Berräter; Fahlbusch würde mit dem Auto tommen; das Auto tam und Wilms war nicht mehr da. Das Geftändnis erfolgt erst nach eindringlichen Borhaltungen bes Borsigenden. Warum überhaupt erst jetzt?-Fuhrmann sagt es:
Ich gebe zu, daß ich vorher von der Tat gewußt habe. Aber ich habe nichts gewußt, weil Gutknecht mir ein guter Kamerad war und weil er monabelang in Untersuchungshaft gefeffen hat. Deswegen haben auch die anderen Angeklagten, die unschuldig find, das alles durchgemacht, nur weil sie Guifnecht, der aus innerster Ueberzeugung gehandelt hat, vor dem Todesurteil bewahren wollten.( Große Bewegung.)
Borf: Gutknecht hat dazu erflärt, Wilms müsse beseitigt werden? Fuhrmann: Jawohl, mehr hat er aber nicht gesagt. Nun ist alles so, wie es die Angeklagten brauchen: Fahlbufch, nirgends aufzufinden, ist der Mörber; Gutknecht, der sich in Britisch- Westafrita aufhält, der Anstifter. niederschmetternde Wendung für die Anflage.
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Eine
Dazu muß man noch den gestern wie ein Deus ex machina im Ge richtsfaal erschienenen Zeugen Lorenz halten, der heute nochmal ausgefragt wird. Hat er denn nicht auch vor dem Gericht das Geständnis des ebenfalls unerreichbaren Büsching ausgebreitet, der gemein fam mit Fahlbusch die Ermordung des Wilms bewerkstelligt haben joll? Alles flappt vorzüglich- zu vorzüglich, um glaubwürdig zu ſein. Beshalb sollte Gutknecht eigentlich dem Fuhrmann seine Absicht, Bilms zu beseitigen fundgetan haben, da Wilms ja nicht ihm, son dern Poser unterstand? Fuhrmann, der die Wahrheit fennt, foll mit ihr hinter dem Berge gehalten haben, obwohl er so die Köpfe feiner Rameraden gefährdete. Der Zeuge Lorenz läßt die Ange flagten ruhig monatelang unter dem Verdacht des Fememordes im Gefängnis fizzen, obgleich er die Wahrheit fennt. Der Zeuge Faß= mann, der den Angeklagten schwer belastet hat, widerruft im Gerichtssaal prompt feine Fuhrmann belastende Aussage ganz wie es dieser Angeklagte vorausgefagt hat. Der Zeuge hat gestern abend mit anderen Beugen gefneipt. Heute lieft
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man ihm die Lüge von der Stirn. Eine Verhaftung an Ort und Stelle wäre nicht allein gerechtfertigt, sondern würde auch sehr
gedächtnisstärkend für die anderen noch zu vernehmenden Zeugen sein, die im Flur des Gerichtsgebäudes einander Nachricht über Zeugenausfagen erteilen. Wir müssen alle noch zusammen. halten" ist ihr Wahlspruch. Fuhrmann foll unter allen Umständen gerettet werden, dieser Fuhrmann, der laut eigenem Geständnis ruhig mit seinem fleinen Mädchen getanzt hat, während am Kneiptisch der Todeskandidat Wilms faß.
Faßmanns Gedächtnisschwund.
Daß Wilms an dem Abend, der sein letzter werden follte, fehr betrunten war, befundete der Zeuge Faßmann, der im übrigen aber an plötzlicher Gedächtnisschwäche leidet. Er will nur noch wissen, daß Wilms in der Neuen Welt" von Fahl busch eine Ohrfeige bekommen habe mit den Worten:„ Du Schwein",
Fuhrmann weiter belastet!
und daß Fuhrmann mit einer Dame getanzt habe. Ob Fuhrmann aber mit dem Auto mitgefahren sei, wisse er heute nicht mehr. Der Vorsitzende hielt ihm aber vor, daß er in der Boruntersuchung aus. brücklich befundet habe, Fuhrmann habe mit im Auto ge effen. Der Zeuge blieb jedoch allen Ermahnungen und allen Hinweisen auf seinen Eid und fein verdächtiges Berhalten zum Troß bei seiner heutigen Darstellung, daß er von nichts mehr wisse. Ebenso will er sich auch nicht mehr an eine Bekundung erinnern, die er vor dem Untersuchungsrichter gemacht hat, nämlich, daß am nächsten Tage Fahlbusch seinen Koffer padte, daß auch Fuhrmann in ber Raferne erschienen fei. Der Beuge will sich nur noch erinnern, daß Fuhrmann ihn einmal geschlagen und dabei erklärt habe:
Wenn Sie die Gefchichte verraten, dann schieße ich Sie persönlich nieder!"
Nach Ansicht des Zeugen hat sich das auf die Geheimhaltung der Arbeitskommandos bezogen. Auf Borhalt der Staatsanwaltschaft gab der Beuge noch zu, daß er nach Schluß der gestrigen Berhand lung mit bereits vernommenen Zeugen über die ganze Angelegen heit gesprochen habe, bestreitet aber, daß dabei seine heutige Aus. fage festgelegt worden sei. Auf weitere Fragen gibt er an, daß ihm ein Gefreiter erzählt habe, er habe Wilms im Auto die Knochen zerbrochen, ihm dann einen Fangschuß gegeben und ihn dann im Walde verscharrt.
Sommerfeld belastet Fuhrmann.
Dann trat noch einmal der Zeuge Sommerfeldt vor, der feine belastenden Angaben gegen Fuhrmann noch einmal präzisierte und Fuhrmann auch durch neue Betundungen weiter belastete. Er betonte dabei, daß die Beweisaufnahme ihm verschiedene Dinge besser ins Gedächtnis zurüdgerufen habe. So erinnere er sich bei der Angabe des Beuven Lorenz, daß Büsching gegenüber Wilms einen Jiu Jitsu Griff angewandt habe, folgender Tatsache: Fuhrmann erzählte mir, Wilms lei auf der Fahrt nüchtern geworden, habe herausipringen wollen und gedroht, zu schießen. Darauf jei er mit einem Schuß in den Hintertopf getötet worden. Borf.: Hat Fuhr einem Schuß in den Hinterkopf getötet worden. Borf.: Hat FuhrJawohl, das hat er gefagt.( Bewegung.) Ich habe dann mann gejagt, Wilms fei betrunten gemacht worden? 3euge: Fuhrmann gefragt, ob er an der Sache beteiligt war, denn ich hatte eine gewisse Bermutung, die fich auf folgende Tatsache stüßte: An jenem Abend war Fuhrmann vom Essen aufgestanden und einen Augenblick hinausgegangen. Als er wiederfam, trug er Bivil und unter feiner Wefte fah ein Strid vor. Ich sagte zu ihm: Nanu, tannst du dir feine Hosenträger mehr leisten?" Darauf ermiderte er: Sei still, hier wird eine Sache gedreht." Diese Aussage wird mir hier besonders schwer, weil ich hoffte, daß Fuhrmann hier das felber eingestehen würde, aber weil ich das Emp: finden habe, daß er die Angeklagten belastet, und daß er das auch weiter tun wird, deshalb sage ich jezt alles.( Große Bewegung.)
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R.-A. Hildebrandt: Der Zeuge hat mit dem Berschweigen dieser gravierenden Tatsache seine Ei bespflicht wissentlich verlegt. Sehr richtig! und Bravorufe auf der Beugenbant.) Bors. ( sehr scharf): Der Beuge tann sehr wohl seine Aussage ergänzen. Eine solche Bemerkung wäre wohl erst nach Schluß der Verhandlung zulässig gewesen.
Die Fragen des Rechtsanwalts Hildebrandt, die wiederholt leb. hafte Heiterfeit im Zuhörerraum hervorriefen, gaben schließlich der Staatsanwaltschaft Beranlassung, gegen diese Art der Zeugenvernehmung zu protestieren. Auch der Borsigende betonte, daß der Berteidiger mit feinem Urteil über den Zeugen und der Art seiner Vorhaltungen sehr weit gehe.
Der Beuge schildert, wie er nach dem Eingeständnis Fuhrmanns bei der damaligen Unterredung auch v. Boser über diese Dinge befragt habe. Bofer habe einen Schreck bekommen, als er gehört habe, wie Wilms beseitigt worden sei.
Frankreich bleibt in China neutral.
Briand spricht vom chinesischen Freiheitskampf mit Sympathie. Paris , 16. März.( Eigener Drahtbericht.) In der Kammer antmortete Außenminister Briand auf die Frage eines sozialistischen Abgeordneten über die Haltung Frankreichs in China , daß die gegenwärtige Lage in feiner Weise eine Aenderung der bisherigen Haltung Frankreichs rechtfertige. Frankreich werde meiterhin zwischen den chinesischen Parteien eine absolute Reutralität einhalten.
nach Süden, Richtung Nanking- Shanghai, darstellen. Im Süden aber, dicht um Ranting, stehen die Raniontruppen, geftüßt auf die Idee der Nationalrevolution und auf beträchtliche Erfolge militärischer und moralischer Art.
Im übrigen werde die französische Republit in feiner Weise chinesischen den Freiheitstampf des Boltes ftören; würde jedoch die Sicherheit und das Leben franzöfifcher
Staatsangehöriger bedroht, so würde Frankreich gezwungen sein, feine Haltung zu ändern, aber bie chinesischen Wirren seien eine innere chinesische Angelegenheit, in die fich Frankreich nicht mische.
Mie Havas" aus Schanghai berichtet, betragen die zur Berftärfung der Polizei dorthin entfandien franzöfifchen Truppen un gefähr ein Bataillon anamitische und Rolonialtruppen.
Niederlage Wupeifus.
Das Hauptquartier des Generals Tschangtfolin meldet die Einnahme der Stadt Tihengisch au in der Provinz Honan . Das bedeutet eine Niederlage jener Truppen, bie zu Wupeifus Armee gehören und ein Hindernis für die Nordtruppen auf ihrem Weg
Das
Sofia , 16. März.( TU.) Hiesige Blätter berichten über das auftauchen englischer Agenten zur Anwerbung bulgarischer Freiwilliger für China und nennen die Namen mehrerer bereits angeworbener Unteroffiziere. Slowo"( Bort) verlangt behördliche Maßnahmen gegen solche Ausnügung der nationalen Notlage. Die englische Gesandt haft bestreitet die Richtigkeit der Angaben der bulgarischen Blätter und erklärt, daß sie den angeblich Angeworbenen das Bifum verweigern würde.
Ablehnung des Heeresetats im Parlament zu Delhi . New Delhi, 16. März.( MLB .) Die gefeßgebende Bersammlung hat mit 56 gegen 47 Stimmen den Heeresetat abgelehnt, um bagegen zu protestieren, daß die Umwandlung der Armee in eine nur aus Indern bestehende verzögert wird.
Riffe im Bürgerblock?
Widerstreit der Intereffen.- Endlose Beratungen, aber feine Einigung.
Der Bürgerblod verdankt seine Entstehung dem Wunsche der Großkapitalisten und Großagrarier nach Ausschaltung des Einflusses der unteren Schichten des Volfes auf die deutsche Politif. Man will die alte Bormachtstellung der Kapitalisten wiederherstellen. Aber so leicht, wie man sich das gedacht hatte, ist es nicht durchzuführen. Das heutige Deutschland ist nicht mehr der alte Obrigkeitsstaat, den eine vom Parlament unabhängige Regierung beherrscht hat. In der demokratischen Republif mit allgemeinem Wahlrecht liegt die entschei= dende Macht im Parlament. Infolgedessen sind auch die Parteien in viel stärkerem Maße als früher abhängig von der Stimmung ihrer Wähler. Da jede Partei, auch die Rechtsparteien, Millionen von proletarischen Wählern haben, müssen auch sie deren Interessen in gewissem Umfang Rechnung tragen, obwohl ihnen das stets außerordentlich unbequem ift.
In wie starkem Maße dieses innere Ringen zwischen den fapitalistischen Wünschen und den sozialen Erfordernissen die bürgerlichen Parteien beherrscht, zeigen die augenblicklichen Schwierigkeiten der Rechtskoalition, die durch zahllose interne Berhandlungen ausgeräumt werden sollen. Während in dem großen Plenarsaal die Redner der Parteien öffentlich miteinander diskutieren und sich in populären Bersprechungen zu überbieten suchen, gehen in feinen geheimen Konventifein heftige Kämpfe unter den Regierungspar teien vor sich. Der Schwerpunkt der Politik liegt augen blicklich in diesen interfraktionellen Verhandlungen zwischen den Regierungsparteien. Sobald die Reichsregierung eine Vorlage an den Reichstag bringen will, fucht sie zunächst eine Verständigung mit und innerhalb der Regierungsparteien herbeizuführen. Sie weiß, daß sie ohne diese Verständigung sich der Gefahr einer Niederlage ausseßt, zumal die Wirtfchaftspartei, ohne die die Rechtsregierung nur über wenige Stimmen Mehrheit verfügt, ein abfolut unzuverläffiger Bundesgefelle ist.
Eine der Vorlagen über die innerhalb der Regierungsparteien trotz vieler Berhandlungen immer noch feine Einigung erzielt worden ist, ist das Notgesetz über die Arbeitszeit. Hier geht der große Kampf zwischen der Deutschen Boltspartei, der Partei der Großkapitalisten, und dem 3entrum, das bei einem Nachgeben feinen Arbeiterflügel in eine schwierige Lage bringt. Daher fommen die Verhand lungen, die von beiden Seiten mit großer Hartnädigkeit geführt werden, nicht vom Fled, und es ist eine Spannung entstanden, die manchen begeisterten Anhänger des Besihbürgerblods daran zweifeln läßt, ob man die ersehnten Ziele erreichen wird. Auch bei der Erhöhung der Invalidenrenten ist der größte Gegensatz zwischen Boltspartei und Zentrum vorhanden. Die Reichsregierung anerkennt jetzt endlich, daß die Invalidenrenten erhöht werden müssen. Die Erhöhung soll insgesamt 120 Millionen jährlich betragen. Davon will das Reich ein Drittel tragen. Von den Oppositionsparteien wird dieses Rugeständnis als ungenügend abgelehnt. Nun geht der Kampf darum. ob und in welchem Maße das Reich feine Beihilfen zu den Invalidenrenten erhöhen fann.
Die Entscheidung darüber liegt zu einem wesentlichen Teil bei dem Reichsfinanzminister Dr. Köhler. Er muß bas Geld dafür zur Verfügung stellen, weiß aber nicht, woher er es nehmen soll. Denn die Borschläge der Regierungsparteien zum Finanzausgleich wer den die Reichstasse in ganz unvorherge sehener Weife belaften. Dr. Köhler hat sich damit einverstanden erflärt, daß die Ueberweisungen an Länder und Gemeinden von 2,4 auf 2,6 milliarden erhöht werden. Er ist damit einverstanden, daß die Getränkesteuern, die etwa 75 Millionen Mart bringen, beseitigt werden und er will Er fag dafür in Höhe von 20 Millionen aus der Reichstasse zugeftehen. Außerdem sollen die süddeutschen Staaten eine Aufwertung ihrer Ansprüche aus der Biersteuergemeinschaft um etwa 45 Millionen Mart erhalten Das ist alles in allem mehr als eine Biertelmilliarde Mart, für
die eine Deckung im Haushalt bisher nicht vorgesehen ist und durch die die Gefahr der Defizitwirtschaft des Reiches aufs
neue entsteht.
Man tann es den Regierungsparteien nachfühlen, daß ihnen diese ernste Lage einiges Kopfzerbrechen verursacht, ohne daß man sie deswegen zu bedauern braucht. Auch über die Neuregelung des Finanzausgleichs bestehen nämlich innerhalb der Roalition große Meinungsverschiedenheiten. Obwohl man einen gemeinsamen Antrag eingebracht hat, der die Regierungsvorlage in wesentlichen Bunften verändert, sind die Differenzen nicht beseitigt. 3um Beispiel will ein Teil der Regierungsparteien die Gemeindegeträntefteuern weiter bestehen lassen, wozum Beispiel will ein Teil der Regierungsparteien die Ge= gegen die Deutsche Volkspartei und die Wirtschaftspartei mit größter Energie Sturm laufen. Deutsche Boltspartei und Wirtschaftspartei wollen auch nur die Berlängerung des Provisoriums um ein Jahr, die Mehrheit der Regierungsparteien aber besteht auf zwei Jahre. Die gleiche Front zeigt sich in der Stellungnahme zu den Realsteuern: Boltspartei und Wirtschaftspartei wollen ihren zwangsweisen Abbau, die übrigen Regierungsparteien treten nur für eine in späterer Zeit vorzunehmende Reichsrahmen regelung ein.