Nr. 29844. Jahrg. Ausgabe A nr. 152
Bezugspreis:
Böchentlich 70 Pfennig, monatlich 3,- Reichsmart voraus zahlbar. linter Kreuzband für Deutschland , Danzig , Gaar- und Memelgebiet, Defterreid), Litauen , Lugemburg 4,50 Reichsmart, für das übrige Husland 5,50 Heichsmart pro Monat.
Der Borwärts" mit der illustrierten Sonntagsbeilage Boll und Zeit" fowie den Beilagen Unterhaltung und Wissen". Aus der Filmwelt", Frauenstimme",
Der Kinder freund". Jugend- Borwärts"," Blid in die Bücherwelt" und Kulturarbeit" erscheint wochentäglich zweimal, Sonntags und Montags einmal.
Sonntagsausgabe
Vorwärts
Berliner Dolksblatt
15 Pfennig
Anzeigenpreise:
Die einfpaltige Sonpareillegeile 80 Pfennig. Reklamezeile 5.- Reichsmart. Kleine Anzeigen" das fettgebrudte Wort 25 Pfennig ( zulässig zwei fettgedrudte Worte). jedes weitere Wort 12 Pfennig. Stellengesuche das erste Wort 15 Pfennig, tebes weitere Wort 10 Pfennig. Worte über 15 Buch. staben zählen für zwei Worte. Arbeitsmarkt Seile 60 Pfennig. Familienanzeigen für Abonnenten
Beile 40 Pfennig.
Anzeigen für bie näch ft e Shimmer müssen bis 4 Uhr nachmittags im Hauptgeschäft, Berlin SW 68, Linden. ftraße 3, abgegeben werden. Geöffnet von 8½ Uhr früh bis 5 Uhr nachm.
Sonntag, den 26. Juni 1927
Auf Grund einer telephonischen Mystifikation Daudet , de Left und Semard aus dem Gefängnis entlassen!
Paris , 25. Juni. ( Eigener Drahtbericht.) Der Führer der franzöfifchen Royaliften, Léon Daudet , der sich seit Jahren in Frankreich einer gewissen Narrenfreiheit erfreut, hat der französifchen Regierung eine neue Komödie- gespielt. Er ist vor taum einer Woche unter Aufgebot fast der gesamten Pariser Polizei und der berittenen Munizipalgarde verhaftet worden, um im Gefängnis eine Strafe, die ihm wegen Beleidigung zuerkannt war, abzubüßen. Am Sonnabend nachmittag ist es Daudet dank einer sehr geschickten Mystifitation, der der Gefängnisdirektor zum Opfer gefallen ist, gelungen, aus dem Gefängnis zu entweichen Der Gefängnisdirektor wurde in der Mittagsstunde von einem Unbekannten telephonisch angerufen, der sich ihm als 3nnenminister Sarrauf ausgab und dem Direktor die Weisung gab, Léon Daudet und den Führer der„ Action française"- Berbände, de Lest, der ebenfalls zur Strafverbüßung im Gefängnis
|
Nachricht in die Zelle von Deleft. Inzwischen hatten die Camelots du Roi vor dem Gefängnis eine Kraftdroschte vorfahren lassen. Der Gefängnisdirektor begleitete die beiden Entlassenen bis zur Schwelle des Gefängnisses. Sie bestiegen das Auto und fuhren davon.
Ein Ministerrat zusammengetrommelt. Paris , 25. Juni. ( WTB.) Zur Beratung über die Affäre Daudet ist in aller Eile ein Kabinettsrat unter em Borsitz Don Poincaré zusammenberufen worden, der um, 7 Uhr abends zufammentrat.
Die Agentur Havas stellt übrigens fest, daß Daudet und der Geschäftsführer der Action Française" in einer Kraftdroschte aus dem Gefängnis fortfuhren, die der Gefängnisdirektor für sie holen
-
Banflonto: Bant ber Arbeiter, Angestellten
und Beamten, Balftr. 65; Diskonto- Gesellschaft, Devoktentake Lindenstr. 3.
Parteien sterben schwer.
Gibt es politischen Selbstmord?
In einem Teil der Rechtspresse stellt man sich über das Ergebnis der außenpolitischen Debatte im Reichstag recht zufrieden. Die Linke, so heißt es da, hätte gehofft, die Deutschnationalen würden diesmal wieder wie damals, als die Regierung Luther- Stresemann nach Locarno ging, aus der Reihe tanzen und der Bürger blod würde zu Fall kommen. Die Deutschnationalen aber hätten fehr richtig gehandelt, indem sie eine fluge Mäßigung an den Tag legten und sich auf diese Weise die Möglichkeit einer weiteren Einwirkung auf die Regierungsgeschäfte des Reiches offenhielten.
Diese Art der Argumentation geht von falschen Voraus fegungen aus. Soweit wir sehen, sind auf der Linken der artige Berechnungen nicht aufgestellt worden. Was besonders die Sozialdemokratie betrifft, so fönnen wir sagen, daß diese zwar selbstverständlich den Sturz des Bürgerblods wünscht, daß sie aber ihre Hoffnungen nicht auf Streitigkeiten innerhalb der bestehenden Regierungskoalition gesetzt hat. Ein Zerfall des Bürgerblods fönnte ihr höchstens in dem fönnte, das sie allerdings von ganzem Herzen herbeisehnt, nämlich die Entscheidung des Bolles über die Politik, die in den letzten Monaten getrieben worden ist.
faß, fofort aus der Haft zu entlaffen. Der Fälscher hatte ungemein Mordüberfall auf Reichsbanner. Sinne zupaß kommen, als er das Ereignis beschleunigen
gefchidt operiert. Um feinen Verdacht aufkommen zu laffen, hatte er zu gleicher Zeit die Freilaffung des ebenfalls im Gefängnis figenden kommunistischen Parteisekretär Sémard verfügt und dem Gefängnisdirektor noch besonders anempfohlen, um Straßendemonftrationen zu vermeiden, die drei Personen möglichst schnell und unauffällig zu entlassen. Der Gefängnisdirektor gehorchte und den drei Gefangenen wurden unverzüglich die Türen
des Gefängniffes geöffnet.
Der Polizeipräfekt von Paris und das zuständige Minifterium erfuhren die Entlaffung erst durch die danach erfolgte Mitteilung der Strafanstalt, daß Daudet und die beiden anderen aus dem Gefängnis entlaffen und in Freiheit gefeht worden waren. Die Be
mühungen der Polizei, der drei Gefangenen wieder habhaft zu
werden, find bis Sonnabend abend ohne Erfolg geblieben.
Wie der tolle Streich gelang.
Paris , 25. Juni. ( WTB.) Auf der Redaktion der Action Française", deren Mitglieder um eine Flasche Champagner verfammelt sind, um die Befreiung Léon Daudets zu feiern, wird über die Art und Weise, wie man die Mystifikation, durch die Daudet aus dem Gefängnis befreit wurde, durchführte, folgendes ange geben: Gegen 1 Uhr mittags begab sich ein Camelot du Roi ( Straßenhändler des Königs, so bezeichnen sich die franzöfifchen Royalisten selber mit Stolz. Red. d.„ V.") in das Ministerium des Innern. Elf andere Mitglieder der royalistischen Jugendorganisation verteilten sich auf elf Cafés, die in der unmittelbaren Nähe des Ministeriums gelegen sind, und
verlangten jämtlich gleichzeitig die Telephonverbindung mit dem Ministerium des Innern,
um die Telephonverbindung zu blodieren. Der Camelot, der sich ins Ministerium des Innern begeben hatte, ließ sich von dort aus(!) eine Verbindung nach dem Gefängnis geben und den Gefängnisdirektor ans Telephon bitten, dem er mitteilte: 3m Ministerrat ist die Freilassung von Léon Daudet , Deleft, dem Geschäftsführer der Action Française" und dem Generalsekretär der Kommunistischen Partei, Sémard, beschlossen worden. Ich bitte Sie, um Kundgebungen zu vermeiden, die drei Jnhaftierten jofort unauffällig aus dem Gefängnis zu entlassen."
Der Unterdirektor des Gefängnisses, der dieses Gespräch entgegennahm, gab seiner Verwunderung darüber Ausdrud, daß man den Kommunisten freilassen wolle; über die Freilassung
Daudets war er nicht erstaunt.(!) Der Camelot du Roi antwortete ihm in energischer Weise: Sie haben sich darum gar nicht zu kümmern. Es liegt ein formeller Beschluß der Regierung vor. Sie haben den Befehl, den ich Ihnen erteilt habe, sofort auszuführen. Sie werden in Kürze Aufklärung erhalten. Für den Augenblid beGaligen Sie sich damit."
Hierauf wollte der Direktor des Gefängnisses sich vergemissern und rief das Ministerium an,
dessen elf Leitungen befeht waren,
so daß er nur eine Berbindung und zwar die mit dem Camelot du Roi erlangte. Der Direktor erfiärte, man habe soeben vom Innenminifterium telephoniert und die Freilaffung von Daudet und Gemard angeordnet. Er möchte sich vergewissern, ob die Nachricht richtig ist. Der Camelot du Roi antwortete:„ Ich selbst habe den Befehl des Minifters übermittelt, beeilen Sie sich. Ich bin der Unterdirektor feines Privatfabinetts und wenn der Befehl nicht sofort ausgeführt wird, werde ich dafür verantwortlich gemacht. Das faun ju Unannehmlichkeiten führen, denn die Presse ist bereits von der Tatsache unterrichtet."
Daraufhin begab sich der Direktor sofort in die Zelle Daudets, der sehr überrascht war,
vor Erregung zu meinen begann und den Gefängnisdirektor
umarmte.
Dieser forderte Daudet auf, möglichst schnell seine Kleider zu paden und das Gefängnis zu verlassen. Darauf begab er sich mit der gleichen
Auf der Fahrt zum Gautag nach Frankfurt ( Oder) wurde ein Reichsbannermann von Völkischen erschossen, andere schwer verletzt.
Frankfurt a d. D., 25. Juni, 23% Uhr abends.( Eigener Drahtbericht.) Wie wir soeben erfahren, wurde auf Mitglieder des Reichsbanners Schwarz- Rot- Gold in der 21. Abendstunde in dem Dorfe Ahrensdorf ein Ueberfall verübt. Ueber den Vorgang erfahren wir folgendes: Als in der 21. Abendstunde ein Caftfraft1 wagen, besetzt mit. 70 Kameraden des Reichsbanners Schwarz- Rot- Gold" des reisvereins Erfner, das
Dorf Ahrensdorf passierte, versuchten Stahlhelmer einen hinter dem Auto auf einem Fahrrad fahrenden Reichsbannermann abzudrängen. In demselben Augenblid, als die Reichsbannerleute ihrem Kameraden zu Hilfe eilen wollten, tamen Bewohner des Dorfes Ahrensdorf, das als völkische Hochburg bekannt ist, bewaffnet Ahrensdorf, das als völkische Hochburg bekannt ist, bewaffnet herangestürmt und schossen blindlings auf die Reichsbannerleute. Ein Kamerad Bieh aus Ertner wurde durch Bauchiußiofort getötet, während sechs bis acht andere Kameraden schwere und leichtere Berlegungen davongetragen haben. Der Candrat des Kreises Lebus , der sofort hiervon benachrichtigt wurde, hat die Untersuchung angeordnet, während sogleich ein Ueberfallkommando zur Ueberfallstelle eilte. Ueber das Befinden der verletzten Kameraden fann zur Stunde noch nichts gesagt werden.
Freispruch im Grosavescu- Prozeß.
Bien, 25. Juni. ( Eigener Drahtbericht.) Um% 12 Uhr wurde der Wahrspruch der Geschworenen im Gattenmordprozeß Grojavescu verkündet. Die Geschworenen verneinten einstimmig die Frage auf Mord und bejahten einstimmig die Frage auf Tofschlag. Von den Zufahfragen wurde die Frage auf momen. fane Sinnesverrüdung mit neun Stimmen verneint, die Frage auf Sinnesverwirrung mit acht Stimmen bejaht. Das Urteil, das einen Freispruch bedeutet, wurde mit großem Jubel im Auditorium aufgenommen.
ließ und die in den Gefängnishof einfuhr, damit die beiden angeblich Begnadigten unbemerkt das Gefängnis ver. laffen konnten. Im Laufe des Nachmittags hat Justizminister Barthou nicht nur mit dem Polizeipräfekten, sondern auch mit dem Generalstaatsanwalt verhandelt.
Alle Linksparteien für politische Amnestic. Paris , 25. Juni. ( EP.) Die von den Sozialisten ausgearbeitete Petition an den Präsidenten der Republik zugunsten der Freilassung der politischen Gefangenen ist bis jetzt von den Sozialisten, den Radikalen, den Sozialistisch- Republifanern, der Radikalen Linten( Fraktion Loucheur), den Links radikalen, somit von allen Mitgliedern des früheren Lints fartells unterzeichnet worden. Im Senat ist die Petition von den Sozialisten, den Radikalen und den Sozialistisch- Republikanern unterzeichnet worden. Die Unterzeichnung erfolgte nicht individuell, sondern im Namen der Fraktionen durch deren Borstände.
Eine kritische Grenze.
Warschau , 25. Juni. ( Eigener Drahtbericht.) Eine polnische Telegraphenagentur meldet aus Stolpce, einem Städtchen an der polnisch- russischen Grenze, daß dort ein eigens aus Rußland hingeschicktes fommunistisches omitee der Tat" besteht, dessen Aufgabe sei, Mitglieder des polnischen Grenzschutzes fowie der pol nischen Bolizei zu überfallen und auf russisches Gebiet zu schleppen. In der legten Zeit sollen tatsächlich zwei derartige Berschleppungen vorgekommen sein
Gerade aber weil die derzeit regierenden Parteien dieses Ereignis nicht wünschen, sondern vielmehr bestrebt sind, Neuwahlen foweit als möglich hinauszuschieben, werden sie sich untereinander vertragen, so lange es nur irgend geht. Die Wahrscheinlichkeit besteht, daß der Bürgerblock bis alt den Wahlen im Herbst nächsten Jahres bleiben wird. Die Abrechnung wird dann nur um so gründlicher sein.
*
letzten Freitag die Politit Stresemanns, das heißt Die Deutschnationalen haben bei der Abstimmung am die Erfüllungspolitik von Locarno und Genf , geded t. Sie haben sich damit einverstanden erklärt, daß die geschleiften Ostfestungen von ausländischen Offizieren besichtigt werden. werden. Sie haben im Auswärtigen Ausschuß dem Kriegsgerätegesetz zugestimmt, das von der Bot schafterkonferenz diftiert ist und das den Zweck verfolgt, die Entwaffnung Deutschlands bis zum letzten zu vollenden. Wären sie nicht durch die Freude an der Macht und durch die Hoffnung auf höhere Bölle in der Regierung festgehalten, so würden sie alle diejenigen, die tuin, was sie jetzt selbst tun, Vaterlandslose und Landesverräter nennen. So aber versuchen sie ihre Anhänger im Lande über diese Tatsachen hinwegzutäuschen, indem sie versichern, daß Strefes mann diesmal doch in einem ,, neuen Ton" gesprochen hätte. Nun, Herr Stresemann fährt jetzt nach Oslo , der Hauptstadt Norwegens , um sich für den Nobel- Friedenspreis zu bedanken, und er wird dort feine deutschnationalen Hörer haben. Warten wir ab, welchen Ton er dort anschlagen wird.
Uebrigens, als Herr Stresemann im Reichstag mit seiner Rede fertig war, gab es wohl einigen Beifall bei der Volks= partei und im Zentrum, doch bei den Deutschnationalen rührte sich meder Mund noch hand. Die eisige Stimmung fiel allgemein auf, fie wirkte geradezu demonstrativ. Erst nachträglich hat man sich darauf besonnen, daß in der Redz des Außenministers ein ,, neuer Ton" entdeckt werden müsse, wenn die Blamage der Deutschnationalen nicht allzugroß werden solle. Also: die Politik Stresemanns hat sich zwar nicht geändert, man hat ihm aber einen ,, neuen Ton" beiEin deutschnationaler Erfolg!
gebracht.
*
Angesichts solcher Ereignisse erhebt sich immer wieder die Frage: Wie halten die Anhänger, die Wähler einer Partei so etwas aus?
Wer gewohnt ist, die politischen Vorgänge mit leidenschaftlichem Interesse zu verfolgen, steht da immer wieder vor einem Rätsel. Nach seiner Meinung müßte die Hälfte dessen, mas sich die Partei leistet, schon genügen, um ihr den letzten Anhänger zu vertreiben. Und dennoch lebt sie weiter und fann bei Wahlen sogar noch gewisse Erfolge erringen!
Im August 1924 stimmten die Deutschnationalen zu 50 Prozent für das Kernstück der Dawes- Gesetze, das Eisenbahngesez, und verhalfen ihm dadurch zur notwendigen 3meidrittelmehrheit. Ohne diese Tat der Deutschnationalen hätte der Dawesplan, auf den die deutschnationale Presse so wahnfinnig schimpft, niemals in Kraft treten fönnen Bei der Abftimmung hielten alle Deutschnationalen die roten Neinkarten in der rechten Hand, die Hälfte gab zugleich mit der linken weiße Jatarten ab. Später wurde dokumentarisch erhärtet, daß dieses ganze Manöver auf einem Handel beruhte, bei dem die Volkspartei den Deutschnationalen vier Ministersitze versprochen hatte.
Kann eine Partei so etwas aushalten? Die deutschnationale Partei fonnte es, denn bei den Wahlen, vier Monate später, tehrte sie mit 111 Mandaten in den Reichstag