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Mittwoch 20. Jnll 1027

Unterhaltung unö Wissen

Seilage Oes vorwärts

Sich betäuben... Novelle von Henry Poulaille . (Autorisierte Ueberfetzung aus dem Französischen von Lina Frenber.) (Schlusi.) Aergerlich unterbrach sie die Lektüre. Rasch, Susanne, deck' lieber den Tisch. Das sind alberne Ge- schichten.... Das ist dumml* Eines Tages, als die Aeltest« sich durchaus eine Zerstreuung verschaffen wollte, versuchte sie. ganz allein lesen zu lernen. Ueber ein Buch gebeugt, bemühte sie sich lange, das Geheimnis des Lesens herauszubekommen. Sie spannte ihren Geist auss äußerste an, und im Herzen hatte sie die Hoffnung, das Rätsel zp lösen. Die Schwestern konnten es ja so gutl'.... Trotz der Heftigkeit ihres Verlangens blieben die Buchstaben stumm. Sie begriff nicht, durch welchen Zauber die aneinanderge- eihten Zeichen m so wunderbaren Geschichten Leben gewinnen rannten. Erkläre mir die Buchstaben," bat sie eine der Schwestern.Er. kläre sie mir, damit ich wie du lerne, ganz allein zu verstehen, was man in den Büchern sieht." Das Kind versuchte, ihr seine Kenntnisse zu vermitteln. Es war ein schwieriger Versuch. Sie sagte ihr die Namen der Buchstaben: Das ist eina", dos ist eine"...* Die Groß« wiederholte fügsam: Das ist eina", das ist eine"..." Buchstabier«sehen", ganz allein." Es ging nicht, sie verwechselte alles. Alle Buchstaben sahen einander so ähnlich, sie bemerkt« die Verschiedenheiten nicht, die zwischen dem einen und dem anderen Buchstaben bestehen. Und es u>ar ihr doch so leicht erschienen..... Sie mußte ihre Unfähigkeit eingestehen und weinte. Die andere Klein« wurde ungeduldig. 3ch kann dich das nicht lernen.... In der Schule würdest du es lernen...." Mama braucht mich." Du wirft doch nicht heulen, Dummchen," schalt die Mutter, die der Szene beigewohnt hatte. Sie konnte auch nicht lesen. Das hatte sie nicht am Arbeiten gehindert. Nur darauf kommt es im Leben an. Lern ' lieber arbeiten... Sieh' mich an."

Eines Abends, an einem Löhnungstage, kam der Mann nicht heim, am nächsten Tage auch nicht und am übernächsten auch nicht. Ganz vage beunruhigte sich die Frau. Die Woche verging, ohne daß er kam. und noch mehr Tag« verflossen. Endlich, noch zwei Mona- ten, erfuhr sie, daß er mit zwei Kameraden auf einem Schiff nach Amerika gegangen wäre. Sie empfand weder Freud « noch Schmerz darüber. Freilich hatte sie das nicht verdient, aber die Lage wurde dadurch nicht verändert. Man mußt« sich eben noch ein bißchen mehr abquälen.... Da dam ihr die Idee, ihr« Aelteste, ihr« Susanne, die dreizehn Jahre all war, unterzubringen. Die Kleinen konnten jetzt schon ohne Begleitung in die Schule gehen und Susanne führte sie eher au» Gewohnheit dorthin! Wenige Tage später kam der Frau zu Ohren, daß, nicht weit entfernt, Lehrmädchen in einer Kautschuksabrik eingestellt wurden. Harte Arbeit, ungesund«, aber die Armen haben nicht das Recht, zu wählen, und je mühseliger ein« Arbeit ist, desto weniger Zeit bleibt zum Nachdenken. Das Elend war das Los ihrer Kinder, wie es das ihrige gewesen war. Sie muhten sich beizeiten daran gewöh- nen. um später nicht zu sehr darunter zu leiden. Ohne Aufschub begab sie sich in die Fabrik. Nach einigen Schwierigkeiten willigte der Werkmeister ein. den Versuch zu machen. Die Mutter hatte, ganz glücklich darüber, den Heimweg eingeschlagen. Unterwegs jedoch dachte sie daran, daß der Haushatt nicht ganz vernachlässigt werden könnt«, und so beschloß sie, daß die Zweit« die Aelteste im Hause ersetzen sollte. Susanne teilt« die Suppe au«, als die Mutter eintrat. Dies« warf einen zärtlichen Blick auf das Mädchen und dachte dabei: Morgen wird Marie dieses Amt haben, bis auch st« das Haus mit der Fabrik vertauschen wird." Susanne gab der Mutter einen Kuß. Du hast Besorgungen gemacht, Mamas" Zu chrem großen Erstaunen ließ sie die Mutter nicht von sich. So blieben sie einige Minuten, ohne zu sprechen. Susanne hatte unklar verstanden, daß sich etwas ereignet hatte, was ste betraf. Was aber? Sie erfuhr es bald. Die Mutter strich ihr über die Haar« und sagte plötzlickr Meine kleine Susänne..... du sollst arbeiten." Oh!" rief das Kind aus.Wann?" Morgen." Ohl Liebste Mamnnl Eine große Freude kam über sie. Arbeit! Das war die Zer- streuung, die sie von ganzem Herzen ersehnte. Da« war es, was sie in der Schule gesucht hätte das notwendige Vergessen der unermeßlichen Langeweile, die ste verzehrt«. Jung eingefangen« Sklavin, beugte ste sich dem Joch, das sie niemals mehr abschütteln würde. Me ihrer Mutter, würde ihr zweifellos ein Leben in einem lichtlosen Heim zufallen. Morgen würde sie den ersten Schritt auf dem Weg« nach Golgatha machen. Sie war nicht im- stände, zu erkennen, daß die Arbeit, die sie so begeistert auf sich nahm, nur eine dornenreiche Knechtschaft war. Für sie war die Fabrik Lärm, Vergessen ihrer Oual im Lärm, Vergessen ihres trübseligenZu Hause", und der Kränkungen, denen sie bei den Kaufleuten ausgefetzt war. Es war wie«in Rausch, der sich ihr bot.-- oh Freude!... Schon beherrscht« sie der Ge- danke, sich zu betäuben.... Sich zu betäuben!.... Herr Sistig. Von HansOttoHenel. Wie du kennst nicht Herrn Giftig? Saas das nicht so laut, wenn du nicht willst, daß man dich »u jenen unsozialen Geschöpfen recbnet. denen ihr-läwst oder ihre sm-be keinen Blick auf den Mitmensiben gestaltet. Oder bist du mit unverwüstlichen Nerven begab!? Nun. die meinigen sind hoch sreguentiert. und jede Begegnung mit Herrn Giftig oersetzt

sie in schmerzauslösende Schwingungen. Ich leide unter der All- gegenwart dieses Zeitgenossen und sehe nicht ein, warum ich meinen Schmerz nicht auf die Hälfte reduzieren soll, indem ich ihn mit dir teile. Wehre nicht ab durch die Bemerkung, daß du keinen Wert darauf legst, von Herrn Giftig gekonnt zu werden. Längst kennt er dich, wie überhaupt nichts seinem Blicke entgeht, was einer Be- grunzung wert ist, und geschähe sie auch nur auf Distanz. Eure Be- kanntschaft wird nun nicht mehr einseitig bleiben. Herrn Giftig triffst du morgens schon auf der Straßenbahn. wenn er dir, der du bescheiden in der Ecke der Plattform stehst, gewichtig auf den Fuß tritt mit der nicht sehr freundlichen Bemer- kung:Müssen Sie denn gerade im Wege stehen?" Er ist es auch, der den Schaffner bei Bezahlung des Fahrscheins anknurrt:Ihr

Unter Juristen.

Lazarus Giftige doch ein bedauernswerter Mann sei. Mit einem s o mißratenen Jungen, der es nicht einmal zum Klassenprimus bringe wie sein Vater! Mit einem solchen Dienstmädchen, das sich all- täglich von dem betrügerischen Bäcker altbacken« Brötchen auf- schwatzen lasse! Mit dieser Katze, die schon wieder--Emma, wollen Sie nicht endlich die Pfütze wegwischen, oder soll hier eine Prioateisbahn gefrieren?" Und mittags bleibt dir über die Nach- barschaft kein Zweifel mehr, denn dann ist im ganzen Hause zu hören, daß kein Mensch in der Stadt solchenHundefraß" schlucken muß, ivie Herr Kistig. Nun �a, mit dieser Frau! Die Frau wirst du selten hören, höchstens nachts, wenn Herr Giftig vom Abendschoppen nach Hause kommt und leine Frau aus dem Bett ruft, weil es nach Gas röche oder nach Katze, oder weil in die Aermel des Nachthemdes immer noch keine Stufen genäht worden seien. Und solltest du was ein Erkennen deiner Nachbarschaft rapid beschleunigen müßte Wand an Wand mit einem Menschen schlafen, der jede Nacht zu Bette steigt mit dem Seufzer:Hätte mich doch meine Mutter im ersten Badewasser ersaufen lassen", dann kannst du Gift darauf nehmen: dieser Weltbeind das ist Herr Giftig._ Das andere Potsdam . Von Hubert Laskar i. Der Name Potsdam ist uns heut« Symbol all der Kulwrbarbmei und Geistesverflachung, der militaristischen Krastmeierpose und natio- nalssttschen Ueberheblichkeit, die der deutsche Spießbürger mit und ohne Adelsprädikat aus derherrlichen" wilhelminischen Zeit in die deutsch « Republik hinübergeretdet hat. Man muß schon fürchten, einer entrüsteten oder ironischen Ablehnung zu begegnen, wenn man den Nachweis versucht, daß die Vorstellung dieser Stadt als der Hochburg von Fridericus-Rummel und schwarzweißroter Verblödung höchst ein- seittg und zum großen Teil unzutreffend ist. Aber es gibt wirklich noch ein ganz anderes Potsdam, das man freilich nur entdecken kann, wenn man über alle Erscheinungen deutsch - nationaler Potsdämlichkeit hinwegsieht und sich lediglich als kunst- genießerischer Betrachter in das Bild dieser Stadt vertieft. Man wird dann ein Meisterwerk von Städtebaukunst und von Komposition eines Stadtbildes in die Landschaft von überraschenden, einzigartigen Reizen finden. Das gilt weniger von den Bauten und Parkanlagen von Sanssouci , mit deren Besichtigung der Fremde, der zum Besuche der Sehenswürdigkeit Potsdam herbeieilt, sich in der Regel begnügt, als vielmehr von der Stadt Potsdam selbst. Wahrscheinlich werden auch die weitaus meisten Berliner, denen die friderizianischen Lustschlösser wohlvertraut sind, kaum ahnen, welch ein städtebauliches Juwel sie in ihrer nächsten Nachbarschaft haben. Die kunstgeschichtlichc Literatur über Potsdam ist ja wahrhaftig nicht gering. Aber zu einer Würdigung der Schönheit und Eigenart von Potsdam bedarf es gar keiner gelehrten Stiluntersuchungen und auch nur sehr meniger historischer Erinnenmgen. Man braucht nur ein gewisses Gefühl für architektonisches Künstlertum, um überall in Potsdam die nachhaltigsten Eindrücke zu gewinnen. Freilich wird sich

Verstehe gar nicht, wie die Wiener Arbeiter sich über eine simple Tatbestandsfrage so erhitzen konnten. )a, wenn es um eine ernsthafte juristisch eSlreit- frage gegangen wäre wie z. V. die Wirkung der Jnter- cession eine» selbstschuldnerischen Bürgen auf das Erlöschen des Erfüllungsanspruchv au» Verträgen auf Leistung an einen Dritten!"

müßt doch gar kem Schamgefühl haben, wenn ihr trotz ai, Prozent Dividende zwanzig Pfennig für die einfache Fahrt ver- langt." Du kannst Herrn Giftig auch im dicksten Straßengewühl nicht übersehen, weil er dir seinen hinten hinausgetragenen Schirm in Bauch und Paletot spießt und deinen darauf bezüglichen Undank mit den Worten quittiert:Schon wieder«in Krotoschiner Bauer, der harmlose Passanten belästigt." Es ist jener Herr, der, wenn ihm am Waldplatz ein Fuhbällchen in zwanzig Meter Entfernung vor- beiflitzt, die spielenden Knaben anfährt:Ihr Lümmels, fetzt euch doch lieber auf die Hosen, statt hier sittlich zu verwahrlosen." Und du wirst Herrn Giftig bestimmt in jenem Unbekümmerten erkennen, der dir im Hoteleingang die Drehtür auf die Nase sausen läßt und ob deines schüchtern geäußerten Erschreckens die sachliche Frage bereithält, ob er vielleicht dein Portier sei. Im Restaurant oder im Cafe wirst du Herrn Giftig unter Tausenden heraushören. Es fällt ihm nicht ein, die Großmannssucht der Angestellten mit der AnredeHerr Ober" zu kitzeln. Mit be- wundernswerter und deutlicher Einfachheit ruft er:Sie Kellner!" Und wenn ihm der Kellner nicht in den Mantel hilft, weil er gerade an einen anderen Tisch zum Abrechnen gerufen wird, dann winkt Herr Giftig erzieherisch, indem er beim Verlassen des Lokals dem dienernden Geschäftsführer abwinkt:Der Gruß macht das Kraut nicht fett, mein Lieber! Erziehen Sie lieber ihre Kellner zum Höf- lichen Benehmen gegen die Stammgäste. Zum Beispiel, der Ober Nummer sechs na. ist mir egal, denn in den Saftladen komme ich nicht wieder." Im Eafe aber erteilt er die unumgängliche Rüge schon beim ersten Schluck Kasse«, wenn er hören muß, daß der Junggeselle" gerade anderweitig gelesen wird:Das will ein an- ständiges Cafe sein? Da drüben sitzt ja schon wieder ein Weibs- bild. Und da soll man seine ehrbare Tochter mit herbringen?" Nun kennst du Herrn Giftigs Stimm« ungefähr schon, und darum wird er dn- jetzt auch in deinem Hause auffallen. Ob er. neben dir, über oder unter dir wohnt früh neun Uhr wirst du ihn zum erstenmal hören, wenn er im Schlafrock herausschlurft und dem Briefträger Tag um Tag verspricht, daß er sich über ihn beim Postminister beschweren werde, weil die Neeseritzer Abend- zeitung erst mir der zweiten Post komme. Ein Weklchen später hat er es mit den Dienstmädchen, weil die ihr« Teppich« so spät halb zehn Uhr vormittags bearbeiten. Eine Ausnahm« macht er Dienstags, wo er des vorausgegangenen Kegelabends wegen bis elf Uhr schläft und dann um zwölf beim Hausmeister Beschwerde einreicht, daß man in diesem Hause die Teppiche zu nachtschlafender Zeit klopfe. Ob Herr Giftig unter dir wohnt, wirst du merken, wenn du abends um neun noch Klavier spielst. Dann nämlich polkt er mit dem Besenstiel an die Deck« und schickt dir am anderen Tage einen Schutzmann ins Haus wegen nächtlicher Ruhestörung. Und wenn du erkunden willst, oh- er über dir wohnt, brauchst du mittags gegen eins nur einmal den Kopf zum Fenster hinauszustecken. Daß Herr Giftig um diese Zeit sein« Fensterblumen begießt, wirst du an deiner Glotze spüren und, falls du darüber ein Wort verlauten läßt, an seiner treffenden Festttellung, daß nur rohe und egoistische Menschen keine Blumen leiden könnten. Wenn Herr Giftig neben dir wohnt, so müßtest du darüber, falls du nicht ganz gefühllos bist, in Gewißheit sein. Dann wirst du schon zeitig am Morgen durch die dünnen Wände hören, daß er.

der Laie, der sich kein sicheres ästhetisches Urteil zutraut, gern einer uverläfsigen Führung anvertrauen. Die wird er am besten in dem cschmackvollen, mit zahlreichen»klaren Tiefdrucktafein und wunder-

önen Zeichnungen von Paul Scheurich ausgestatteten Büchlein Spaziergang in Potsdam " des bekannten Romandichters GeorgHermann(Rembrandt-Verlag, Berlin -Zehlendgrf) finden. Der Verfasser, der in seinem Roman.Heinrich Schön jr." ein so anschauliches und echtes Bild des Potsdam der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts entwirft, und der sich in die Reize dieser Stadt mit der ganzen Liebe des begeisterten Kunstfreundes vertieft hat, ohne sich nennenswert um historische Einzelheiten ihrer Entstehung zu kümmern, führt uns in ganz zwanglosem, fesselndem, leicht humo- rtstischem Plauderton« durch die Straßen von Potsdam und weiß uns dabei so lebendig und überzeugend auf ihre Schönheiten aufmerksam zu machen, daß wir geneigt sind, auch selbständig auf Dinge zu achten, die er nicht ausdrücklich nennt. Besonders wohltuend berührt uns dabei, daß der aufrichttge Demokrat Hermann jede monarchistische Verhimmelung entschieden ablehnt.Der Militarismus ", bekennt er, auf dem Potsdam als Inhalt beruhte, und der ihm nach außen hin seine Note gab, und der es noch heute zum Symbol macht für die, die sonst taub und blind für Potsdams Schönheit sind, war mir von je höchst unangenehm und unbequem. Und ferner habe ich nicht erst jetzt, da das billig ist, sondern vordem, da es noch nicht so wohlfeil und alltäglich war, oft in Zeitungen gegen das gekämpft, was der wilhelminische Ungeschmack in Schlössern, an Denkwälern, und mehr noch in den Gärten und an den Brücken versündigt hatte." Auch an zahlreichen anderen Stellen übt Hermann scharfe Kritik an hohen- zollernschem Banausentum, erkennt an:Wo z. B. immer Wilhelm II. in Sanssouci auch nur eine Hand rührte, da hat er etwas verpatzt." Aber daneben ist Hermann glücklicherweise auch feinsinnig genug, Kunst und Politik nicht miteinander zu verwechseln. Natürlich sieht Potsdam heute auch abgesehen von Straßen- bahnen, Autos und ähnlichen Errungenschaften unserer Zell nicht mehr so aus wie vor IVO oder gar 150 Jahren. Das Antlitz einer Stadt muß sich ja den sich wandelnden Wohn-, Verkehrs- und In- dustriebedingungen anpassen, und darüber hinaus hat der moderne, von keinen ästhetistfcn Gesichtspunkten berührt«Merkantilismus" speziell in der Potsdamer Innenstadt, wo sich das Geschästsleben hauptsächlich konzentriert, viele Kulturwerte ohne zwingende Not- wendigkeit zerstört und dadurch diesen Straßen das peinlich physiognomielose Aussehen einer beliebigen märkischen Provinzstadt verliehen. Aber selbst hier stehen noch die niedrigen, altmodisch würdevollen Häuser aus Potsdams Blütezeit. In anderen Stadt- teilen vollends hat sich das Bild eines vergangenen Kulturzeitalters bis heut« noch mehr oder weniger rein erhalten, und Georg Hermann hat wohl nicht Unrecht, wenn er etwa von einem Gäßchen, das den Namen Spornstraße führt, sagt:Wenn man da am späten Nach- mittag hineingeht und einen Augenblick anhält, braucht man nicht mehr die Augen zuzumachen, um im Jahre 1770 zu sein." Worin beruhen denn aber die so eindrucksstarken Reize desan- deren Potsdam "? Man braucht dabei keineswegs nur an einzelne hervorragende Repräsentationsgebäude, an Kolonnaden und Obelisken von Knobelsdorfs und ähnliche architektonische Herrlichkeiten zu denken. Man beachte vielmehr die gesainten Rauniwirkungen, Straßenbilder, Platzgliederungen, Durchblicke und Abschlüsse! Man vergleiche die gediegene Materialvorwendnng mit der scheußlich un- soliden Kleistevei, deren sich das Bauhandwerk in den letzten Jahr- zehnten so oft schuldig gemacht hat! Man versenke sich einmal in den Anblick der Proportionen der Häusersaisadcn mit ihrem plastischen Schmuck, ihren mit so starkem Formgefühl eingegliederten Treppchen und Toren und ihren sigurenreichcn Giebeln! Man betrachte da» anmutige Zusammenspiel von-Architektur und landschaftlicher Um- gebung, etwa bei der Rotdornallee vor dem Militärwaisenhanse oder gor bei der holländisch anmutenden Dreiheit von Häusern, Bäumen und Wasser am Kanal! Noch viele andere solche Schönheiten wird der ausnierksame Wanderer bei einem Spaziergang durch Potsdam entdecken. Ueberall in der Welt gibt es schöne Gegenden und Städte. Nur nationalistische Borniertheit wird im eigenen Lande alles schöner und besser finden als bei anderen Böllern. Aber zu einer wahren welt- bürgerlichen und internni'iv-nlen Gesinnung mi'd me» gerade dann erst gelangen, wenn man sich ein Auge und ein Herz für die künstle- rischen und kliltlirgcschichtiichen Werte der engeren Heimat bewahrt.