Abendausgabe Nr. 375 ♦ 44. Jahrgang Ausgabe B Nr. 185
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Zcntralorgan der Sozialdcmokrati fchen parte! Deutfcblands
Das Reichsbanner bleibt überparteilich
Ergebnisse der Bnndesvorftandssitzung.
Magdeburg , 10. August.(Eigenbericht.) Ueber die am Dienstag abend, den S. August, in Magdeburg abgehalten« Bundesvorstandssitzung des Reichsbanners Schwarz- Rot»Gold berichtet Bundesvorstand: An der Bundesvorstandssitzung nahmen alle Bundesvorstands- Mitglieder aus den verschiedenen Parteien teil. Lundesoorsitzender ch ö r s i n g gab einleitend einen Ueberblick über die jüngsten Er- eignisse, legte noch einmal die Gründe dar, die ihn bewogen haben, sein Amt als Oberpräsident niederzulegen. Er schilderte die Loge, aus der heraus er sich zu feinem sogenannten Wiener Aufruf be- rcchtigt und verpflichtet fühlte, würdigte die gegen den Aufruf vor- gebrachten Bedenken und oersicherte, er habe sich überzeugt, daß der Austritt des Reichskanzlers Marx aus dem Reichs- banner ein Schritt des Reichskanzlers und nicht des Partei- f ü h r e r's Marx gewesen ist. chörsing erklärte, er werde an der überparteilichen Grundlage des Reichsbanners nicht rütteln lasten. Das Reichsbanner dürfe nicht zum Anhängsel der in ihm vertretenen Parteien herabgedrückt werden. Er werde von sich au» alles tun, um auch bei dringenden Anlässen zu jedem Erlaß wichtiger Kundgebungen das Einverständnis aller Bundes- Vorstandsmitglieder einzuholen. Als Wortführer der Kameraden aus der Zentrumspartei sprachen die Reichstagsabgeordneten Ivos und Dr. Krohner, für die Demokraten Landtagsabgeordneter Dr. B o h n e r und Major
a. D. Hauff, für die Sozialdemokraten Höltermann und Krüger. Die eingehende in kameradschaftlichster Form geführte Aussprache ergab, daß es keine unüberbrückbaren Meinungsverschiedenheiten im Reichsbanner gibt. Alle Redner wünschten engste Fühlungnahme und ständige Ber- bundenheit in allen Organen des Bundes, um das Handeln des Reichsbanners jederzeit in Uebereinstimmung mit seiner Überpartei- lichen Grundlage zu bringen. Bon Kreisen, die dem Reichsbanner feindlich und fremd gegenüberstehen, ist behauptet worden, die organisatorische Struktur des Bundes bedinge ein Uebergewicht der Sozialdemokraten in der Führung. An Hand einer Aufstellung über die Zusammensetzung der Gauvorstände wurde nachgewiesen, daß Gaue, deren Mitglicderschaft weit überwiegend aus Sozialdemokraten besteht, von Gauoorständen geführt werden, in denen Demokraten und Zentrum die Mehrheit besitzen. Es wurde festgestellt, daß grundlegende organisatorische Veränderungen nicht notwendig sind, um die Ueber- Parteilichkeit der Führung zu sichern. In Vorschlägen über die Herstellung engerer Verbindung zwischen den Bundesvorstandsmit- gliedern begegneten sich die Redner aller Parteien. Ueber die Notwendigkeit, das Reichsbanner als überparteiliche Organisation aller deutschen Republikaner zu erhalten, werden in aller Oeffentlichkeit gelegentlich der Leipziger Bundesver- fassungsfeier Hörsing, Dr. Krohner, Dr. Wirth und AMon Erkelenz sprechen.
Appell an Sarah unü Za ßolette. Das Justizamt soll Beweise für die Unschuld Saceos und Banzettis haben! New Jork , 10. August. Das Derleidigungskomilee für Sacco und Vanzetti hat die Senatoren L o r a h und La F o l l e l I e telegraphisch aufgefordert. beim Präsidenten Toolldge zugunsten der beiden verurteilten zu intervenieren. Das Komitee behauptet, das Zustizdeparte- ment besitze Beweise für die Unschuld der beiden Italiener, lehne es aber aus rein politischen Gründen ab, davon Gebrauch zu machen. Aus diesem Grunde Hot sich dos Komitee an den Präsidenten Toolidge mit der Bitte gewandt, persönlich eine Untersuchung durchzuführen. Nach einer Meldung au» Boston ist dem Gouverneur Füller gestern ein Telegramm aus«om zuge- gangen, in dem ein ehemaliger Sekretär de, italienischen Konsulats in vcslon unter Eid versichert, daß Sacco an dem Tage, an dem das verbrechen in Dadham begangen wurde, auf dem italienischen Konsulat in Boston vorgesprochen habe. Der vor- sitzende des amerikanischen Gewerkschaftsbundes. Green, er- klärte, nach feiner Ansicht müsse ein neue» verfahren statt- finden, da die meisten Amerikaner davon über- zeugt seien, daß da, Gericht nicht alle für die beiden Angeklagten günstigen Zeugenaussagen berücksichtigt habe. Er habe ein Tele- ' gramm in diesem Sinne an Füller gesandt. Noch eine Bufjchubmöglichkeit. Füller will den Antrag erwägen. Boston, 10. August. Ein neuer Strafaufschub für Sacco und Vanzetti wurde gestern abend in Aussicht gestellt, als der Gouverneur erklärte, daß er den Antrag der Verteidiger auf Strafaufschub in Er- wägung ziehe. Gleichzeitig wurde mitgeteilt, daß die Sitzung des Exekutivrates statt am Donnerstag bereits heute abgehalten werden wird, da der Rat sich in der Frage eines Strafaufschubs zu äußern hat, falls Gouverneur Füller damit einverstanden ist. Die protestwoge. Amsterdam , 10. August. Eine große Anzahl amerikanischer Journalisten, die gegen- wärtig eine Europafahrt machen, wurden hier im Zusammenhang mit der geplanten Hinrichtung von Sacco und Vanzetti beschimpft und mit Steinen beworfen. London , 10. August. In der Voraussicht, daß die Hinrichtung von Sacco und Vanzetti in London eine Streikbewegung oder Unruhen auslosen könnte, hat die Polizei von London besondere Instruktionen erhalten. Alle beurlaubten Polizisten sind zurückberufen worden. Die Polizeioffiziere haben Befehl erhalten, ihren jederzeitigen Aufenthalt dem Hauptquartier mitzuteilen. Die Bewachung der amerikanischen Botschaft dauert an. Der gegenüberliegende Bürger- steig ist gesperrt worden. vombrowa(Westpolen), 10. August. Gestern und vorgestern gab«» Im Kohlengebiet große Kund- gedungen der Arbeiterschaft: sie verliefen durchgehend ruhig, da die massenhaft aufgebotene Polizei nicht zu stören versuchte. New Jork , 10. August. Die New Jorker Sacco-Vanzetti-Demonstrationen erreichten ihren Höhepunkt mit einer um 4 Uhr nachmittags beginnenden Versammlung auf dem Unionplatz, an der sich etwa hundert» tausend Personen beteiligten. Die Polizei war auf den benachbarten Häuserdächcrn stationiert. Es wurden Flug- blätter verteilt, in denen Coolidge und Füller aufgefordert werden,
die Hinrichtung zu verhüten. Zwischenfälle haben sich nicht er- eignet. Bomben in Bnenos-Aires. Buenos Aires , 10. August. Heute früh explodierten hier zwei Bomben, die eine bei dem Justizgebäude, die andere am Bahnhof von Lelez-Sarssield bei Buenos Aires . Die Rache im Hesängnis. Ein Kommunist schlägt den Gesandtcnmörder nieder. Warschau , 10. August.(Eigenbericht.) Der Mörder de, Sowjetgesandten Wojkosf ist im Gefängnis zu Graudenz , wo er feine Strafe verbüßt, während des Spazier- gang» im hos von einem gleichfalls strafgcsangenen Kommunisten mit einem Eisenstock schwer verletzt worden. Der Täter bezeichnet sein vorgehen ausdrücklich als Vergeltung für den Gesandtenmord. Da dieser Kommunist Jude ist, wird seine Tat von den polnischen Reaktionären sicher zu judenheherischen Zwecken aus- gebeutet werden. Pilfudskis Grobheit nicht ans die MinderheitsvSlker ausgedehnt. Warschau , 10. August. (OE.) Die Kalischer Rede Pilfudskis, die soviel Aussehen erregt hat, findet bei den nationalen Minderheiten eine günstigere Beur- teilung als bei vielen polnischen Parteien. Pilsudski hat sich nämlich in dieser an Ausfällen und Angriffen so reichen Rede j e d e r s e i n d- seligen Aeußerung gegen die Minderheiten ent- halten und sogar einige wohlwollende Bemerkungen über sie eingeflochten Die deutsche.Kattowitzer Zeitung* bemerkt dazu, daß eine solche Stellungnahme Pilsudskis an sich zu begrüßen wäre, wenn nicht die Praxis gelehrt hätte, daß gelegentliche freund- liche Aeußerungen führender polnischer Politiker bisher i m m e r nur Worte ohne Taten geblieben feien, wie besonders das Beispiel Oberschlesiens so deutlich zeige.
Süöchina im tzaöer. Aber Tschangtsolin im Vormarsch. kanlon, 10. August.(Chines. Nachr.-Agentur.) General Tschang Fakui, der„eiserne General*, die letzte Stütze Hantaus, hat sich jetzt ebenfalls der Nankingregierung zur Verfügung gestellt und wendet sich gegen die Kommunisten. Die kommunistischen Generäle von Nantschang, Hauptstadt der Provinz Kiangsi, hatten sich der Meuterei des Generals De Fing gegen Nanking angeschlossen, sie wurden aber von General Tschang Fakui vernichtend geschlagen und suchten nach Kanton zu entkommen. Der Chef des Generalstabes des 8. Hauptquartiers in Kanton, General Tschi Schen stellte sich aber mit seinen Truppen entgegen und warf sie zurück. Nach anderen Meldungen aber haben die Nankingtruppen das Nordufer des Jangtse wieder an die Truppen Tschangtsolins verloren..,
Potsdam muß flaggen! Aber es geht an den Staatsgerichtshof. Der Potsdamer Magistrat hat soeben folgenden Beschluß gefahl: Da die Flaggennolverordnung oerkündet ist, muß der Potsdamer Magistrat nach den Anweisungen der Regierung auch die Fahne der Republik zeigen. Der Magistrat beschließt jedoch zum Schuhe de» Selbstverwallungsrechtes den Staalsgerichts- Hof anzurufen.
Organisierte Selbsthilfe. Ei« Beitrag zur Doppelzüngigkeit der deutschen Unter« nehmer. Iv den Kundgebungen der deutschen Unternehmer über Aufgaben und Ziele der Sozialpolitik kehrt mit regelmäßiger Selbstverständlichkeit die Forderung wieder, daß Sozialpolitik die S e l b st h i l f e nicht ertöten dürfe. Diese These ist ein unentbehrlicher Bestandteil jener„gesunden" Sozialpolitik, zu der sich die Bereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände und der Reichsverband der deutschen Industrie auf der In- dustrietagung 1924 bekannt haben. Hier verkündete Ernst von Borsig den aufhorchenden Unternehmern: Durch die Sozial- Politik darf der Drang, in erster Linie sich selber zu helfen, nicht ertötet werden. Der Berlaß auf fremde und auf Staats- Hilfe führt zum Niedergang der Schicht, die damit die eigene Initiative und Verantwortung preisgibt. Noch schärfer formulierte Geheimrat Duisberg, der führende Mann des Chemie-Trufts, diese Forderung auf der Dresdener Mitgliederversammlung des Reichsverbandss der deutschen Industrie im September vorigen Jahres. Er fabulierte davon, daß bei schlechterer Lage der Wirtschaft eine sozial« Last auf die andere getürmt, ein sozialpolitisches Gesetz an das andere gereiht wird: das Schlimmste dabei sei jedoch, daß dadurch die schon weit geschwächte Selbständigkeit und Selb st Verantwortlichkeit des einzelnen immer mehr untergraben wird. Mit dem Pathos des gut» versorgten Geheimrats erklärt« Geheimrat K a st l auf der gleichen Tagung: Dadurch aber, daß der Staat und seine Ein- richtungen immer mehr zu einer reinen Bersorgungs» a n st a l t für Millionen Menschen aller möglichen Kategorien wurden, wird die Empfindung der eigenen Verantwortung des einzelnen für sich und feine Familie vollkommen zerstört. Diese neuentdeckte Unternehmerliebe für die„Selbsthilfe" ist von besonderer Art. Sie meinen gar nicht die wirkliche Selbsthilfe, sondern die Unterwerfung der Arbeiter»nd An- gestellten unter die Botmäßigkeit der Unternehmer. Deshalb: hemmungslose Förderung des Werksgedankens, wie sich Duisberg. in Dresden ausdrückte. Auch dieses Stichwort fiel bereits auf der Industrietagung 1924. Generaldirektor V ö g l e r sprach hier von der verbrecherischen Hetze gegen„unsere" Werksgemeinschaft. Was sind diese Deklama- tionen anderes als das Feldgeschrei gegen die wirklichen Selbst- Hilfe- Einrichtungen der Arbeiter und Angestellten: die Gewerkschaften. Der Kampf gegen Tarifvertrag und Schlichtungswesen, gegen Achtstundentag und Sonntagsruhe. gegen soziale Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenschutz, gegen Ausbau der Sozialversicherung usw. ist nichts anderes, wie ein Kampf der Unternehmer gegen die wirkliche Selbsthilfe. Die Unternehmer wollen die Arbeiter und Angestellten isolieren und ihnen einreden, daß alles Heil von der individuellen Selbsthilfe zu erwarten ist. Eine kollektive Verbundenheit lassen sie bestenfalls noch für den Betrieb gelten, weil auch dann noch die Unternehmerschaft unerschüttcrt bleibt. Daher die Begeisterung für die Werksgemeinschaft. Mit wirk- licher Selbsthilfe hat das aber nichts zu tun. In seiner Grundlegung der Sozialbiologie hat Rudolf G o l d s ch i e r sehr treffend die Doppelbedeutung der Selbst- Hilfe hervorgehoben. Er sagt da: „Das Prinzip der Selbsthilfe stellt, je nachdem man es auslegt und je nachdem man es in der Wirklichkeit zur Ausführung gelangen läßt, entweder das reaktionärste oder das revolu- tionärste Prinzip dar. Der revolutionäre Sozialismus zum Beispiel ist gleichfalls aufgebaut auf dem Prinzip der Selbsthilfe. Dieses wird erst reaktionär, wenn man es in doppelzüngiger Ge- sinnung vertritt, indem man alle Schäden nur durch rein i n d i v i- d u e l l e Selbsthilfe behebbar erachtet und zugleich dafür sorgt, daß die Selbsthilfe nicht wirksam zum Ausdruck gelangen kann." Die Unternehmer verwenden für sich die revolu- tionäre Methode und verweisen die Arbeiter und An- gestellten auf das reaktionäre Prinzip der individuellen Selbst- hilf«. Zum Glück kommt es nicht auf solche Unternehmer- deklamationen an. Nur will uns scheinen, daß die Arbeiter- klaffe mehr wie bisher die revolutionäre Bedeutung der organisierten Selbsthilfe begreifen muß. Insoweit hängt in der Tat der soziale Befreiungskampf von der Reife der organisierten Selbsthilfe ab. Diese findet ihren Ausdruck in den politischen, gewerkschaftlichen und ge- nossenschaftlichen Organisationen. Hier löst sich auch jener von den Unternehmern so häufig konstruierte Gegensatz von S t a a t s h i l f e und Selbst- Hilfe, der auch so gern auf das Gebiet der Sozialpolitik übertragen wird. Was ist Staatshilfe anderes als Ausdruck der politisch organisierten Selbsthilfe? Die Unternehmer haben sehr wohl begriffen, daß die Staatshilfe in ihrem Sinne ein unentbehrliches Mittel zur Aufrechterhaltung ihrer Klassenherrschaft ist. Deshalb sind sie für Staatshilfe,' soweit es sich um Steuer-, Zoll- und H�a n d e l s p o l i t i k handelt: sie lehnen ihn jedoch ab, sobald es sich um einen aus- reichenden sozialpolitischen Schutz der Arbeitskraft handelt. Selbst bann lehnen sie diesen Schutz ab, wenn er seinen Niederschlag in Tarifverträgen finden soll. Staats- Hilfe zum Schutze und zur Steigerung des Profits, individuelle Selbsthilfe, daß heißt praktisch: Schutzlosigkeit, sobald es sich um das wichtigste Gut einer Nation, um ihr organisches Kapital, nämlich ihre Arbeitskräfte handelt. Dieser Kampf der Unternehmer für die individuelle Selbsthilfe der Arbeiter und Angestellten ist im Grunde ge- nommen auch ein Kampf gegen jenen Teil der Reichs-