Die Kammer des 11. Mai. Poincar6s Auflösungspläne. Paris . 20. August.(Eigenbericht.) Als vor einigen Monaten die Rechts preffe begann, die Notwendigkeit einer Kainmerauflösung nachzuweisen, hat die Linke diesen Feldzug keineswegs ernst genommen. In der Tat war er damals auch nicht ernst zu nehmen. Inzwischen haben sich jedoch gewisse Veränderungen in der innerpolitischen Situation vollzogen und die Möglichkeit einer Auflösung der Kammer vor Ablauf ihres bis zum Mai 1928 dauernden Mandats muß heute ins Auge gefaßt werden. Dreierlei Gründe veranlassen die Rechte, sich mit besonderem Eiser dafür einzusetzen. Einmal hofft sie dadurch im Lande den Eindruck zu erwecken, als ob die „Kammer vom 11. Mai" nicht mehr lebensfähig wäre, ferner ge- denkt sie auf diese Weise am sichersten unter der Leitung des Kabinetts Poincare in den Wahlkamps zu ziehen und schließlich nimmt man auf der Rechten an, daß der„st a b i l i s i e r t e Franken" um so größere Propagandadienste zu leisten vermag, je schneller es zum Wahlkampf kommt, d. h. ehe alle wirtschaftlichen Folgen der Stabilisierung fühlbar werden. In früheren Monaten stieß die Rechte, sobald sie sich für eine Kammerauslösung einsetzte, stets auf den Widerstand Poincares. Heute ist es Poincare, der die Eventualität einer Auflösung der „Kammer vom 11. Mai" zustimmen würde. Heute geht das Gerücht, daß Doumergue keineswegs mehr so abgeneigt ist, PoincarS zu folgen, falls er im Senat den Antrag zur Auflösung der Kammer stellt. Früher war auch eine erdrückende Mehrheit im Senat gegen die Auflölung, aber heute, da das Kreiswahlrecht wieder eingeführt ist,' gibt es viele Senatoren, die sich f ü r d i e A u f- l ö s u n g einsetzen. Andererseits gibt es allerdings auch Leute, die behaupten, Poincare habe die ganze Kampagne nur in Szene gesetzt, um die Kammer zu beschwichtigen und sie zu veranlassen, das Budget für 1928 ohne gründliche Prüfung, so wie es vom Finanzminister eingebracht wurde, gutzuheißen. Schon in der vor- aufgegangenen Legislaturperiode hatte Poincarä ein zweijähriges Budget annehmen lassen, um Zeit zu gewinnen. Seine jetzige Ab- ficht rechtfertigt er damit, daß das Budget in vollstem Gleichgewicht und dieses Gleichgewicht aufrechtzuerhalten oberste Pflicht des Finanzministers sei. Eine Gefahr hierfür sieht er aber darin, daß die Abgeordneten wenige Monate vor den Neuwahlen geneigt sein könnten, aus Gründen des Wählerfangs große Ausgaben zu be- willigen, ohne auch für die notwendigen Ennahmen zu sorgen. Um die sich daraus ergebenden gefährlichen Folgen für den Franken zu vermeiden, gibt es nach der Ansicht Poincares nur zwei Auswege: Entweder die Kammer läßt den Budgetentwurf unberührt, oder sie muß heimgeschickt werden, ehe sie den Entwurf umwerfen könnte. Auf der Linken erklärt man mit gutem Recht, daß mit derartigen Plänen eine verfossungsfroge von weittragender Bedeutung aufgeworfen wird. Diese Auffassung wird durch die Haltung der Rechtspresse vollauf gerechtfertigt. Es ist selbstverständlich, daß die Sozialisten, deren parlamentari- scher Führer Leon Blum zuerst auf den Ernst der von Poincare gehegten Pläne hingewiesen hat, sich vor einer Auflösung und vor einem plätzlichen Kampf nicht fürchten. Aber schließlich wird das Leben der.Lämmer vom 11. Mai" von der Hältung der Radikalsozialisten abhängen. Gegen ihren Willen und den ihrer Minister dürsten Doumergue und Poincarä die Auslösung kaum erreichen. Die ganze Ideologie der Radilaisozialisten richtet sich zweifellos gegen den Auslösungsgedanken und je eifriger sich die Rechte dafür einsetzt, desto stärker dürfte bis auf weiteres der Widerstand auf der Linken werden. Sollten allerdings auch die Radikalsozialisten eines Tages— was an sich erstaunlich märe— Vorteile in einer Auflösung der Kammer erblicken, dann dürfte es statt im Mai 1928 schon im Oktober oder November 19 2 7 in Frankreich zum Wahlkampf und dadurch zur Entscheidung über das gegenwärtige Regime kommen.
Schulfreihekt in DeutschlanÜ und polen . Ei« lehrreicher Vergleich. Der Zeitungsdienst des Deutschen Lehreroereins Zieht einen interessanten Vergleich zwischen der in Keudells Reichsschul- gesetz vorgesehenen geistlichen Schulaufsicht und der Regelung in Bolen. Es heißt da: Der Keudellfche Reichsschulgefetzentwurf hat im wesentlichen die Bestimmungen des bayerischen Konkordats in sich aufgenommen, jedenfalls geht er über den Kirch envertrog, den der bayerische Staat mit der pfälzischen evangelischen Kirche ab- geschlossen hat, erheblich hinaus. Was der katholischen Kirch« in diesem Entwürfe zugestanden wird, gewährt ihr nicht einmal der polnische Staat. Nach Art. 13 des polnischen Konkordats vom 19. Februar 192S darf der katholischen Jugend allerdings nur ein Religionsunterricht erteilt werden durch Lehrer, die von den Bi- fchöfen dazu ermächtigt sind, aber die Beaufsichtigung durch die zuständigen Kirchenbehärden erstreckt sich nur auf den Inhalt des Unterrichts und die M o r a l i t ä t des Lehrers. Kein Wort ist die Rede davon, daß die Kirche auch in den weltlichen Unter- richt hineinzureden hat. daß sie wohl gar bei den Lehrplänen. den Lern'oüchern bestimmend mitzuwirken hat. Es ist gewiß kein Ruhm für Deutschland , daß es in der Schulfroge der katholischen Kirche weiter entgegenkommt als der polnische katholische Staat. Der Vergleich ist besonders von Wert, da ja in Polen das t a- tholische Element weitaus überwiegt, was man von Deutsch - land nicht sagen kann. Thüringens Geistlichkeit für die Simultonsthule. Der Landeskirchenrot der thüringischen«vangeli- schen Kirche hat den Reichsinnenminister um Abänderung des Schulgesetzentwurfcs in dem Sinne ersucht, daß dem Thüringer Land die Gemeinschaftsschule erhalten bleibt. Es gibt also auch außerhalb des Zentrums und außerhalb Süd- Westdeutschlands kirchliche Kreise, die dem Keudellfchen Plan mit denkbar scharfer Ablehnung gegenüberstehen. Das ist ein Grund mehr für olle Anhänger eines freiheitlichen Schulwesens, das traurige Kompromiß des Rechtsblocks im Reiche entschieden zu bekämpfen.
Die Wasserkataftrophen. Auch in Armenien . Wie aus Moskau gemeldet wird, ist auch Sowjet- Armenien von großen Ueberfchwemmungen heimgesucht worden. Nach einer Mitteilung der armenischen Regierung sind 8 7 M e n- schen in den Fluten umgekommen. 2999 Pferde sind er- trunken.
Der Lehrer Passionsweg eines Erzieh Aus der Provinz Grenzmark wird uns geschrieben: Vor einigen Wochen brachten fast alle Berliner und Provinz- zeitungen lange Berichte über den unter sonderbarsten Umständen erfolgten Freitod des Lehrers Willi Rißmann, Berlin-Karls- Horst. Die einzige Zeitung, die nach den sozialen Hintergründen dieser Tat fragte, war der„Vorwärts". Der gesamte bürgerliche Blätterwald, der so läh aufrauschte, ist ebenso schnell verstummt. Weshalb? Nun, wenn hinter die Beweggründe zur Tat dieses Lehrers geleuchtet wird, so gewinnt die Haltung gewisser Schulräte, die für diesen Fall verantwortlich gemocht werden müssen, eine zum mindesten recht eigenartige Beleuchtung. Zum näheren Verständnis des Falles sei daher kurz der Lebenslauf dieses Opfers der sozialen Reaktion dargestellt. Willi Rißmann war das einzige Kind einer Berliner Beamten - familic. Nach Bestehen der üblichen Prüfungen wurde er im Welt- krieg« schwer verwundet. Trotzdem mußt« er bis zum 27. Lebensjahre auf Anstellung warten und erhielt diese erst auf eine Eingabe an das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung im Oktober 1923 im Regierungsbezirk Schneidemühl. Er wurde mit der vertretungsweisen Ver- waltung einer Lehrerstelle an der Schule in Obrawalde, Kreis Meieritz, beauftragt, die er bis 1. April 1926 verwaltete. Hier hatte er sich als geschickter und freundlicher Lehrer bald das Vertrauen der Gemeinde sowohl als auch der ihm anoertauten Jugend erworben. Der Vorsitzende des Elternbeirats, Landesinspektor Libor, widmete ihm für feine treue Arbeit einen Nachruf in der Meseritzer Kreis- zeitung und beklagte sich bitter darüber, daß die Schneidemühler Regierung den fähigen Lehrer nach Pottlitz, Kreis Flatow , versetzte. Ursache der versehung war eine Eingabe des Superintendenten Lohwasier in Meseritz , der den katholischen Lehrer von de.r paritäti- schen Schule durchaus oersetzt wissen wollte. Die Gemeinde hatte sich gegen jede Versetzung ausgesprochen. In Pottlitz arbeitete Rißmann ebenfalls zur vollen Zufriedenheit, bis er nach kurzer Zeit, am I. Juli 1926, nach Glumen, Kreis Flatow , oersetzt wurde. Rißmann war seit Jahren mit einer Prote st antin verlobt. Seine Mutter wandte sich an den zuständigen Geist- lichen, den Propst von Domanski in Zakrzewo, daß er mit allen Mitteln die Heirat mit der Protestantin verhindern solle, von Domanski erreichte, daß die Gemeinde sich gegen diesen Lehrer zur Wehr setzte. Da auch die Kinder in pas�ver Resistenz oerharrten, konnte R. überhaupt nicht unterrichten und bat die Regie- rung in Schneidemühl um weitere Instruktionen. Der Regierung?- und Schulrat M e s k e erklärte ihm, daß er auszuharren habe. Rißmann bekam in Glumen kein Essen. So mußte der schwerkriegsbeschädigte Lehrer stundenlange Radtouren machen, um sich überhaupt ernähren zu können. Seine Kriegsverletzung blutete infolge der Anstrengungen fortdauernd. Da entschloß er sich zur Heirat, um wenigstens seine Ernährung sicher- zustellen. Ter Pfarrer Domanski weigerte sich, die Trauung zu vollziehen. Um allem Streit aus dem Wege zu gehen, trat die Braut zum K a t h o l iz i« m u s über. Nun- mehr wurde Rißmann kirchlich getraut. Schon in Obrawalde hatte Rißmann sich zur 2. Lehrerprü- f u n g gemeldet. Am 11. Januar 1927 sollte Rißniann plötzlich die Prüfung ablegen. Eine widersinnigere Anordnung als diese kann man sich kaum denken Wie kann ein Lehrer, dessen Schüler den größten Teil der Zeit in passiver Resistenz verharrt hatten, etwa- leisten? Wie kann ein Lehrer, der als Großstädter keine Ahnung vom llnterricht an zweisprachigen Schulen hat— Glumen ist durchweg polnisch— nach so kurzer Tätigkeit zur Prüfung zugelassen werden? Ist das alles dem zuständigen Dezer- nenten, dem deutsch nationalen Regierungs- und Schulrot M eske nicht bekannt gewesen? Ergebnis der Prüfung: der schwer- kriegsbeschädigte, verheiratete Lehrer Rißmann fällt bei der Prüfung durch, obgleich er als ein durchaus befähigter Lehrer galt. Und nun kommt das geradezu grauenvolle Ende: Rißmann wird aus seiner Stelle entlassen und der Regierung Oppeln überwiesen. Oppeln stellt ihn nicht ein. Er ist gezwungen, mit seiner Frau nach Berlin zu den Schwiegcr- cltern zu gehen. Diesen liegt er stellungs- und beschäftigungslos mit seiner Frau im Hause. Alle Bemühungen, irgendwelche Arbeit zu bekommen, schlagen fehl. Aus eine Eingabe an den Zentrums- abgeordneten Gottwaldt ist bis heute keine Antwort erfolgt,
Wiener poiizeifchwinüel entlarvt. Grundlose Masscnverhaftunge«. Ununterbrochen oerhaftet die Wiener Polizei seit den zwei blutigen Julitagen Arbeiter in Masse wegen Teilnahme an wirklich vorgekommenen, oft aber nur behaupteter Ausschreitungen. Die Wiener Polizei hat zwar mit ihrem Vorgehen am 13. Juli die schärfste Kritik z. B. reichsdeutscher Polizeifachleute herausgefordert, ihr technischer Apparat ist von einem süddeutschen Polizeifachmann im„Berliner Tageblatt" unter Widerlegung aller Beschönigungen des Präsidenten Schober als höchst rückständig nachgewiesen wor- den— aber mit ihrem Spitzel- und Denunziantenwesen scheint die Schobersche Poli�eidirektion ihren noch kaiserlich-königlichen Vor- göngern nicht das Geringste nochgeben. Diesem und der Durchforschung aller in den Zeitungen erschienenen Photographien verdankt die Polizei die Objekte ihrer Verhaftungewut. Selbst wo die Beschuldi- gung nur zu einer Uebertretung eines Strasparagraphen ausreicht, werden die armen Teufel, oft genug nach Mißhandlungen und meist erst noch der äußersten Frist von 18 Stunden, dem Gericht„einge- liefert", das dann noch oft genug die Untersuchungshaft verhängt, obwohl sie bei Ilebertrctungen gar nicht verhängt werden darf. Und die Polizei veröffentlicht fast täglich Listen mit voller Namens- nennung der Festgenommenen und der Beschuldigung, die gleich schon als erwiesen hingestellt wird! Nicht wenig« der Verhafteten aber, bei denen es selbst zur Einlieferung an das Gericht nicht reicht, werden auf Grund des Polizeistrofrechts gleich verdonnert und. das Berusungsrecht an den Landeshauptmann von Wien — unseren Ge- nosien Bürgermeister Seitz— wird ihnen durch die Drohung, dann noch weiterbrummen zu müssen, abgelistet. Diese Mißbrauche haben die Sozialdemokratische Partei zu dem öffentlichen Aufruf veranlaßt, alle derartigen Uebergrisse schleunigst dem zuständigen Bezirkspartei- sekretariat zu melden. Während aber die Verhaftungsserie weltergeht, stellen sich die e r st e n Verhaftungen, die unter ganz schweren und tamtomhast verlautbarten Beschuldigungen erfolgten, als grundlos heraus.
am Kreuz. :rs an Konfessionsschnlen. ebenso auf ein Gesuch an den Minister und den Lorsi�enden des Bundes der Junglehrer. Am 1. Juni fuhr Frau Rißmann nach Schneidemühl zum Regierungsrat Meske und bat um eine Unter- redung. Der Frau gegenüber äußerte sich Mesle außerordentlich verletzend und herabsetzend über ihren Gatten. Schluß: Am 14. Juni erhängt sich Rißmann in einem Anfall geistiger Umnachtung. Man sand ihn in einer Stellung, di» ar�die eines Gekreuzigten erinnerte! * Der vorliegende Bericht, der uns von unbeteiligter Seite zuging, oeranlaßte uns, umgehend nähere Erkundigungen anzustellen, die geradezu erschütternde Einzelheiten persönlichen Leidens zu Tage förderten: Willi Rißmann war eine von jenen ideellen und in sich gekehrten Naturen, die in der Lehrtätigkeit nicht allein einen formalen Lehrer-, sondern viel mehr einen Erzieherberuf erblicken. So hatte er als Junglehrer auch an allen Stellen, wo er praktisch tätig war, schöne Erfolge zu oerzeichnen. Nicht allein auf dem Lande, sondern auch in Charlottenburg , wo er seine ersten praktischen Jahre tätig war, lautete das Urteil seiner Borgesetzten sehr g ü n st i g für ihn. Nichts kennzeichnet den Menschen und den Lehrer Rißmann besser, als der Nachruf des Elternbeirats- Vorsitzenden, Landesinspektor Libor in Obrawalde :„TKit i hm hat bei den Kindern und uns Eltern die Sonne ihren Einzug gehalten!" Und diesem begeisterten jungen Lehrer, der Kinderherzen mit Sonne füllte, wurde die sonnigste Zeit dieses Daseins, die Der- lobungszeit und die jungen Ehejahre zur Hölle gemacht. Är diesen nervenzerrüttenden Monaten, in denen der: schwerkriegsbeschädigte Lehrer gegen eine aufgehetzte Gemeinde stand,] in denen ihm seine eigene Mutter in ihrem Fanatismus schrieb, er „könne im Rinnstein verrecken oder im Irrenhaus enden", s fand dieser Mann noch die Energie, sich auf sein Examen vorzu- bereiten. Dieses Examen, das Rißmann im Januar 1927 dann• nicht bestand, ist eine Angelegenheit für sich. Am Montag erft� erhielt er die Aufforderung, sich am Dienstag zum Examen zitiS stellen. Es blieb ihm somit gar keine Zeit, die letzten Vorbereitungen v zu treffen. Wie ist diese Ueberrumpelung möglich gewesen?: Waren dem Dezernenten und Prüfungskommissar in Schneidemühl ,■ dem deutschnationalen Regierungsrat Meske nicht die haarsträubenden Zustände bekannt, unter denen Rißmann in Glumen zu leiden hatte? Wie ist es weiter möglich, daß Rißmann am 31. Januar abends, als er sich gerade auf den nächsten Schultag vorbereitete, erfahren mußte, daß er keine Stunde mehr zu geben habe und entlassen sei? Ist eine zehnstündige Kündb» g u n g s f r i st überhaupt denkbar? Was nun folgte, ist eine einzige Leidenszeit. Rißmann mußte Glumen verlassen. Es ist bezeichnend für ihn und seine. Erziehertüchtigkeit, daß, trotz der vorangegangenen Hetze gegen ihn,! die� Kinder anderthalb Stunden Weg in der Januarkälte machten,. um von ihrem Lehrer noch Abschied zu nehmen. Marr� hatte den Entlassenen nach Oppeln überwiesen. Aber Oppeln stellte� ihn mit der merkwürdigen Begründung nicht ein, daß die dortigen'z RegiexuiMstMn annäHmrn, ex würde rnil monatlich 150 M. einen Posten in Oberschlesien nichk übernehmen. Aber mit 109 M.— teilweise sogar nur mit 75 M.— Fortbildungszuschuß mutzte der Ent- lasiene in Berlin leben! All« seine Versuche, anderweitig Arbeit zu bekommen, scheiterten. Da zerbrach er innerlich. Auch seine junge Frau, die ihn mit allen Kräften zu stützen suchte, ver- mochte ihn nicht mehr zu retten. In einem dunklen Moment,, in dem ihn sein klares Bewußtsein verließ, schied er freiwillig aus dem Leben. Religiöser Fanatismus und dürrer Bureaukratismus haben hier zusammengewirkt mit dem Erfolge, daß ein vielversprechender Mensch aus Verzweiflung sich selbst vernichten mußte! 1 Der Fall Rißmann darf nicht vergessen werden: Er leuchtet nicht nur in das Elend unserer Junglehrerfchaft hinein, er zeigt unter Scheinwerferlicht die Zukunft unserer Lehrer und Schulen. wenn Keudells Reichsschulgesetz die Konfessionsschule in Deutschland wieder zur Regel machen und den Domanski» aller Kon- f e s s i o n e n entscheidenden Einfluß aus das Schulwesen einräumen könnte., Der Leidensweg dieses Junglehrers, der dem religiösen Fana- tismus zum Opfer fiel» könnte, wenn sich die Wünsche der Reakfion erfüllen sollten, dahin führen, daß jede Entwicklung der Schule unter- bunden und unzählige Pädagogen von Format den gleichen Kreuzes- weg geschickt würden!
Wir haben schon mitgeteilt, daß das Verfahren gegen F i a l a, der „den ersten Schuß aus die Polizei" abgefeuert haben sollte, ein- gestellt werden mußte, weil ihm überhaupt nicht das Geringste nachgewiesen werden kann. Und nun wird folgendes bekannt: Als am Nachmittag des 16. Juli jeneb blutige Zusammenstoß bei der Polizeiwachstube in Hernals (Wien XVII) war, bei dem wie- der mehrere Todesopfer sielen und viele Menschen verwundet wur- den, meldete die Polizei, sie habe einen dort wohnenden Straßen- bahnmotorführer verhaftet, weil er einen Gendarmen erschossen habe. Nebenbei bemerkt: was brauchten die über 7909 Wiener Polizisten noch durch Gendarmen verstärkt werde»? Ebenso nebenbei sollte natürlich diese Beschuldigung gegen einen Angestellten des roten Wien — die Straßenbahn ist feit Jahrzehnten gemeindlich— auch die verhaßte rote Rathausherrschaft treffen. Jener Straßenbahner saß mit seinen Ouartierleuten beim Mittagessen, als draußen Schüsse fielen. Sie wagten nicht ans Fenster zu gehen. Als es aber ganz in 1>er Nähe krachte, schritt der Straßenbahner doch, möglichst gedeckt. Vjm Fenster, um es zu schließen. Daraus begann eine so wilde Be- schießung der Wohnung, die im ersten und einzigen Stock eines alten Häuschens liegt, daß halbe Ziegelsteine aus der Mauer gerissen, Bilder zerstört und die Insassen in höchste Todesangst oersetzt wurden. Förmlich im Sturmangriff wurde der Straßenbahner her- ausgeholt. Auf der Polizei ist er dann von einem jungen Wach- mann, vielleicht einem der schießfreudigen bäuerlichen Polizeischüler, mit einem Faustschlag gegen den Kopf begrüßt worden, der ihn taumeln ließ. Folgte Untersuchungshaft und-- längst ist der Mann wieder in Freiheit und außer Verfolgung, weil nichts gegen ihn vorliegt! So und ähnlich liegt es in vielen Fällen, wegen derer nicht nur Erwachsene, nein auch Dutzende junger Burschen und Mädchen ver- haftet wurden und zum Teil im Landgericht sitzen. Man begreift danach sehr gut, daß die Polizeidirettion den Fragebogen des Gemeinderotsausschusses nicht hat bea'nt- warten wollen. Aber die Gerichtsverhandlungen werten schon Klarheit bringen.