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Abendausgabe

Nr. 475 44. Jahrgang Ausgabe B Nr. 235

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Vorwärts

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Berliner Volksblaff

10 Pfennig

Freitag

7. Oktober 1927

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Zentralorgan der Sozialdemokratifchen Partei Deutschlands

Gürtner übernimmt die Verantwortung

Das Verfahren gegen Hitler aus politischen Gründen verzögert. Opportunitätsjustiz in Bayern .

München , 7. Oftober.( Eigenbericht.) Der Untersuchungsausschuß des Bayerischen Landtags hörte am Freitagvormittag als ersten Zeugen den Just iz minister Gürt ner, um über folgende zwei Fragen Auskunft zu erhalten: 1. War­um hat in der Zeit nach dem 1. August 1923 in der gegen Hitler und Genossen wegen der Vorgänge am 1. Mai eingeleiteten Unter­suchung feine Erhebung mehr stattgefunden? 2. Ist vom Justizministerium eine Weisung an die Staatsanwaltschaft er­gangen, das Verfahren ruhen zu lassen?

Justizminister Gürtner, der zunächst unvereidigt vernommen wird, schilderte seine persönlichen Eindrücke aus einer Sigung in der Polizeidirektion München am 30. April, in der darüber beraten wurde, wie man dem bewaffneten Aufmarsch der Kampfverbände am 1. Mai begegnen sollte. In dieser Sizung wurde beschlossen, mit einigen Kompagnien Reichswehr die Kampfverbände zu zer­nieren und so lange festzuhalten, bis die Maifeierumzüge der Ge werkschaften vorüber sind. Gürtner bestätigte ausdrücklich als all­gemeine Auffassung der maßgebenden Persönlichkeiten in dieser Kon ferenz, daß eine Umffurzgefahr von links für den 1. mai von nie­mand befürchtet wurde und daß ein solcher Umfturz auch gar nicht in Frage stand.

Weiter erklärte der Minister, daß die Untersuchung des Straf­verfahrens, das sich an die Vorgänge des 1. Mai gegen Hitler und Genossen anschloß, und das vom Staatsanwalt Grefsel geführt wurde, am 1. August zum Abschluß fam. Auf den Umfang der Untersuchung sei von feiner Seite irgendeine Einwirkung versucht

worden.

Ich habe dann," erklärte Dr. Gürtner ,,, von meinem Straf­rechtsreferenten erfahren, daß eine Anflage wegen verfuchten Hochverrates faum herauszubringen wäre. Es blieb also nur ein Verfahren wegen Bildung bewaffneter Haufen(§ 127) übrig. Nun war mir klar, daß die Angeklagten sicherlich eine Berteidigung führen würden, die unter Umständen landesverräterischen Charakter annehmen könnten. Gleichzeitig hätten die Kabinettsmitglieder

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Knilling und Schweŋer als Zeugen vernommen werden müssen, und dann wäre der schwere Konflitt im Schoße der Regierung öffentlich aufgerührt worden und

eine Katastrophe des bayerischen Kabinetts und damit des bayerischen Staates hätte sich nicht mehr vermeiden laffen. Aus diesem Grunde habe ich eine Besprechung zwischen dem Ersten Staatsanwalt Stenglein und meinem Strafrechtsreferenten veran­laßt, die darüber beraten follten, ob im gegenwärtigen Zeitpunkt das Strafverfahren forciert werden sollte. Der Strafrechtsreferent wies darauf hin, daß nach seiner Ansicht das Verfahren grundsäßlich durchgeführt werden müßte, ließ aber das Bedenken gelten, daß es unter Umständen gut sei, eine ruhigere Zeit abzu

warten.

Ich selbst war folgender Auffassung: Die allgemeine politische Stimmung in dieser Zeit es war September 1923 stand auf Unruhe und Gewitter. Es war mir vollkommen klar, daß, wenn dieser Prozeß in dieser Atmosphäre durchgeführt würde, das eine Belastung der öffentlichen Sicherheit bedeuten und darüber hinaus schwere inner politische Folgen haben würde. Dieser Belastung fonnte nach meiner Auffassung das bayerische Kabinett nicht ausgesetzt werden, um so weniger, als die Chancen des Prozesses durchaus zweifelhaft waren,

da ein Verbrechen nicht vorlag und eine Verurteilung wegen Ber­gehens durchaus unsicher war. Ich habe deshalb geglaubt, es da mals nicht verantworten zu fönnen, meine Zustimmung da­zu geben, daß die Durchführung der Hauptverhandlung in diesem Zeitpunkt stattfinden soll. Dabei herrschte die allgemeine Auffaffung, daß sowieso in allernächster Zeit eine Wandlung der Dinge kommen müßte, da die politische und wirtschaftliche Situation unhaltbar ge­worden war. Bon einer Einstellung des Verfahrens war teine Rede."

Die Bernehmung des Justizministers dauert fort.

Der offene Kampf um Rakowski.

Abberufung schriftlich gefordert.

タラ

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Tschitscherin mit dem Botschafter solidarisch.

Paris , 7. Oftober.

Petit Parifien" glaubt zu wiffen, daß die zuständigen Stellen am Quai d'Orsay zurzeit die letzte hand an eine Note legen, die alsbald durch Botschafter Herbette Tschitscherin übermittelt werden foll und die einen offiziellen Antrag auf Abberufung Ra­fowskis enthalten wird. Auf Wunsch Tschiffcherins wird das fran­ zösische Außenminifterium diesmal schriftlich in unzweideufiger Form die Gedanken formulieren, die schon mehrmals Gegenstand münd­licher Besprechungen gewesen waren. In dieser note, so bemerkt das Blatt, wird die französische Regierung zweifellos sämtliche Be­denken gegen das Berbleiben Ratowffis als Botschafter vorbringen: cinmal die Unterzeichnung des manifestes des Zentralausschusses der kommunistischen Partei durch den Sowjetbotschafter und ferner die Tatsache, daß Ratowski plötzlich ohne vorherige Verständigung mit dem Quai d'Orsay den Wortlaut des russischen Vorschlages zur Schuldenregelung veröffentlichte. Botschafter Ratowski fei durch die Beröffentlichung dieses Dokumentes unbeftreifbar aus feiner Rolle als Diplomat herausgetreten, um die Rolle eines Agi­tators zu spielen, der sich über den Kopf der französischen Re­gierung hinweg an die Inhaber ruffischer Staatspapiere wandte. Die Note wird die Schlußfolgerung enthalten, daß es notwendig fei, im Interesse der Aufrechterhaltung normaler Beziehungen zwischen den beiden Ländern und im Intereffe einer wirksamen Wiederaufnahme der Verhandlungen Ratowski durch eine andere Persönlichkeit zu ersehen.

Tschitscherin hielt an Rakowsky fest.

Paris , 7. Oftober.

Der Moskauer Sonderberichterstatter des" Soir" hatte mit Tschitscherin eine Unterrebung über die zwischen Frankreich und Rußland schwebenden Fragen, besonders über den Fall Ra­towski. Tschitscherin erklärte: Unsere Regierung hat sich nicht nur nicht damit einverstanden erklärt, Rakowski abzuberufen, sondern

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den Wunsch äußerte, die Sowjetregierung möge aus eigener Initia­tive Ratowski abberufen, habe ich und meine Kollegen mit mir ihm stets erwidert, daß die Sowjetregierung feinen Grund habe, Rakowski abzuberufen. Auf die Frage des Berichterstatters, ob Tschitscherin also die Art und Weise, in der Rakowski in Paris feine Mission erfülle, vollkommen billige, und ob er glaube, daß Ratowski durch nichts gehindert werde, auf seinem Posten zu bleiben, erwiderte Tschitscherin: Ich gehe noch viel weiter. Es ist mir durchaus unmöglich, zu begreifen, welche Gründe allgemeiner Art seine Abberufung erfordern fönnten. Seine fruchtbare Tätigkeit auf dem Gebiete der Annäherung beider Länder und die von ihm bei den Schuldenregelungsverhandlungen erzielten Er­gebnisse fönnen nicht bestritten werden. Was den durch eine falsche Auslegung der Unterzeichnung der wohlbekannten Erklärung der Opposition hervorgerufenen Zwischenfall betrifft, ist uns durch den französischen Botschafter Herbette formell erklärt worden, daß nach den von mir hierüber abgegebenen Erklärungen der 3wischen fall beigelegt sei. Irgendein anderer Grund für die Ab­berufung Rakowskis ist seitdem nicht angegeben worden. Die Ab­berufung eines Botschafters fondern, ist ein

politischer Aft von äußerster Bedeutung.

Ein Wahlprogramm.

Zum Kampf um die Angestelltenversicherung. In wenigen Wochen werden die Vertrauensmänner für die Angestelltenversicherung gewählt. Der Reichsarbeitsminister hat den Länderregierungen als einheit­lichen Wahltermin den 13. November vorgeschlagen.

Die Wahl der Vertrauensmänner ist entscheidend für die Zusammenseßung der wichtigsten Selbstverwaltungsorgane der Reichsversicherungsanstalt für Angestellte : Verwaltungs­rat und Direktorium. Die Vertrauensmänner wählen nach dem System der Verhältniswahl den Verwaltungsrat, dieser wiederum die ehrenamtlichen Mitglieder des Direktoriums. Der Verwaltungsrat ist auch maßgebend für die Stellung der Beisitzer zu den Rechtsprechungsbehörden der Angestellten­versicherung. Es ist aber offensichtlich, daß die Zusammen­fegung der Vertrauensmänner auch die Zusammensetzung aller übrigen Organe bestimmt.

Dieses indirette Wahlsystem stellt eine erheb­liche Benachteiligung der großstädtischen Angestellten dar. Die ländlichen Wahlkreise mit wenigen Angestellten wählen ebenso viele Vertrauensmänner wie die städtischen Wahl­freise bis zu 10 000 Versicherten. Erst wenn diese Zahl überschritten wird, tritt eine geringe Vermehrung der Ver­trauensmänner ein. Das letzte Wahlgesetz hat dieses Unrecht durch ein kompliziertes Verfahren, das den Vertrauens­männern in den Wahlkreisen mit vielen Versicherten ein mehrfaches Stimmrecht gibt, etwas gemildert. Dennoch bleiben die großstädtischen Angestellten nach wie vor ent rechtet. Sie verdanken das den bürgerlichen Parteien des Reichstages, die, entgegen der Regierungsvorlage und der Haltung der fozialdemokratischen Reichstagsfraktion, verhin derten, daß der Verwaltungsrat aus Urwahlen hervorgeht. Die Angestellten sollten nicht einen direkten und gleich­mäßigen Einfluß auf dieses wichtige Organ erhalten. Die im AfA- Bund zusammengeschlossenen freien An­gestelltenverbände haben für den Wahlkampf ihr Wahlprogramm veröffentlicht, das zwei Gruppen von For derungen enthält: Ausbau der Leistungen und Ausbau der Selbstverwaltung. Wie die Einzelheiten der Forderungen zeigen, handelt es sich nicht um eine für den Wahlkampf zurecht gemachte zugkräftige Barole, sondern um ein Pro­gramm, um dessen Berwirklichung es bereits bei der letzten großen Aenderung des Angestelltenversicherungsgesetzes im Jahre 1925 ging. Wenn bei diesem Wahlkampfe den beinahe drei Millionen versicherten Angestellten durch die freien Angestelltenverbände Gelegenheit gegeben wird, ein Bekennt­nis für den Ausbau der Angestelltenversicherung abzulegen, dann ist es nicht unwichtig, dieses festzustellen: bei den da­maligen Beratungen im Reichstage sind diese Forderungen Nachdruck vertreten worden. Die bürgerlichen Parteien haben ihre Annahme verhindert. So unbestreitbar wahr dieser Sachverhalt ist, er hindert die bürgerlichen Angestelltenver­bände nicht, immer wieder von der Angestelltenfeindlichkeit der Sozialdemokratie zu fabulieren. In Wahrheit finden, wie alle Vorgänge beweisen, die Angestellten ihre wirksame politische Interessenvertretung nur bei der Sozialdemokratie. Es würde besser auch um den Ausbau der Angestelltenver­sicherung stehen, wenn die Angestellten noch mehr wie bisher die politischen Konsequenzen daraus ziehen würden.

von der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion mit allem

Die Angestelltenversicherung hat in den wenigen Jahren nach der Inflation bis Ende des Jahres 1926 ein Vermögen von 533 Millionen Mark angesammelt, während die durch­schnittliche Monatsrente für den berufsunfähigen Angestellten nur 54 M. beträgt. Fast 70 Proz. der gesamten Ausgaben für Ruhegeld und Renten im Jahre 1926 fonnten allein durch die Einnahme an Zinsen gedeckt werden. Angesichts dieser Tatsachen sollte man eine Erhöhung der Lei­st ungen eigentlich für selbstverständlich halten. Die Bor= gänge im Reichstage aus dem Jahre 1925 beweisen jedoch, addaß die Angestellten alle Ursache haben, durch die Wahl frei­gewerkschaftlicher Vertrauensmänner ihre Meinung deutlich zum Ausdruck zu bringen. Erklärte doch der Reichsarbeits­minister Dr. Brauns bei den damaligen Auseinandersetzun­gen: Damit dürfte meines Erachtens die Rentenbemessung an der Grenze des Möglichen angelangt sein."

Was ist denn ein Botschafter, wenn nicht ein verantwortungsvoller Politiker, der im Ausland die Politik seiner Regierung betreibt? Rakowiti ist in Baris der genaue und getreue Interpret der Sowjetregierung. Die Forderung auf Abberufung kann in der öffentlichen Meinung Sowjetrußlands nur als eine unfreundliche Handlung erscheinen, die auf die Beziehun gen zwischen beiden Ländern ernsthafte Rückwirkungen haben müßte. Eine solche Handlung scheint mir besonders gefährlich zu sein, wenn fie in einer bereits brüdenden internationalen Atmosphäre erfolgt und von einer erbitterten Kampagne der reaktionären Bresse be­gleitet wird, deren anerkanntes Ziel der Abbruch der Beziehungen ohne diese Kampagne der Fall Rakowski nicht bestehen würde.

Die freien Angestelltenverbände fordern neben einer Erhöhung der Rentenleistungen die Herabiegung der Warte­zeit für den Rentenbezug von zehn auf fünf Jahre. Diese Forderung ist durchaus berechtigt. Buschriften aus unserem Leserkreis haben uns wiederholt darauf aufmerksam gemacht, wie durch die lange Wartezeit, die man weder in der Inva­liden- noch in der Knappschaftsversicherung kennt, die An­gestellten um die Leistungen gebracht werden.

fich im Gegenteil beständig gegen seine Abberufung gewehrt. Wir zwischen Frankreich und Rußland ist. Es ist durchaus klar, daß Altersgrenze von 65 auf 60 Jahre für den Bezug des

haben niemals, weder Litwinow noch ich selbst, von einer An­nahme dieser Abberufung durch die Moskauer Regierung gesprochen. Ich habe niemals gegenüber Botschafter Rakowski die geringste Un­zufriedenheit geäußert. Im Gegenteil, ich habe allen Grund, seine Tätigkeit hoch einzuschätzen und erkläre mich

mit ihm in allen seine Tätigkeit in Frankreich betreffenden Fragen solidarisch.

Meine diesbezügliche Haltung hat sich nicht geändert. Als der fran­ zösische Botschafter mir erklärte, daß die französische Regierung der Sowjetregierung die Sorge überlasse, aus eigener Initia tive zu entscheiden, ob sie Ratowski abberufen wolle oder nicht, und als später im Berlauf darauf folgender Besprechungen Herbette

Ein Ministerpräsident geht ins Kloster. Das Ende eines chinesischen Politikers.

Brüffel, 7. Oktober.

Ruhegeldes. Sie ist nicht zuletzt in der schlechten Arbeits­nimarktlage der Angestellten begründet. Eine solche Maß­nahme wird ihren Zweck jedoch erst dann erfüllen, wenn die Renten so ausreichend sind, daß der Rentenbezieher nicht mehr gezwungen ist, seine Arbeitskraft zu verwerten. Des­halb ist die Renteneröhung auch für diesen Fall eine un­entbehrliche Ergänzung.

Der frühere chinesische Ministerpräsident und Außenminister Lutsengtsfiang ist gestern in Einlösung eines seiner ver­storbenen Frau, die Belgerin war, gegebenen Bersprechens, in das Benediktinerkloster Saint André in der Nähe von Brügge einge­treten. Der Feierlichkeit wohnten u. a. die chinesischen Gesandten in Brüssel, Baris und Lissabon bei.

Die freien Angestelltenverbände fordern die Einführung eines Rechtsanspruchs auf Gewährung des heilverfahrens. Bei den Reichstagsberatungen im Juli 1925 hatte bereits die sozialdemokratische Reichstagsfraf­tion einen entsprechenden Antrag gestellt, der wiederum von den bürgerlichen Parteien abgelehnt wurde. Vergegen­