Noch WahlrechtsäuÜenmg! Ein Vorstoß des Zentrums. Im Reichstag ist folgende Interpellation v. Gusrard und Genossen eingereicht worden: JDas geltende Wahloerfahren zum Reichstage der Deutschen Republik hat schwerwiegende Mängel im Gefolge gehabt. Durch die Listenwahl wird die Beeinflussung der Bewerberauswahl seitens der gesamten Wählerschaft wesentlich beeinträchtigt. Die Größe der Wahlkreise macht die notwendige eng« Dertrauensverbindung zwischen Wähler- schoftundAbgeordneten unmöglich. Wir fragen an: Ist die Reichsregierung bereit, einen Gesetzentwurf, der das Wahlverfahren zur Beseitigung dieser Mängel umgestaltet, s o rechtzeitig einzubringen, daß er noch von dem jetzigen Reichstage verabschiedet werden kann?" Im Zentrum wird seit längerer Zeit die Frage lebhaft erörtert, ob an die Stelle der Großwahlkreise kleinere Wahl kreise gesetzt werden sollen, die nur durch einen oder zwei Abgeoronete vertreten werden. Diese Frage wird im Zentrum als brennendes Problem empfunden. Manche Zentrumspoliiiker glauben, auf diesem Wege die innere Uebereinstimmung zwischen dem Willen der Zentrums Wähler— namentlich der Arbeiterwählert— und der Zentrumsfrattion wieder herzustellen. Es handelt sich also in erster Linie um ein Strukturproblem des Zentrums, weniger um ein allgemeine» staatsrechtliches Problem. Daß die innere Uebereinstimmung zwischen Wählern und Parlamentariern im Zentrum unter der Herrschaft des Bürgerblocts in die Brüche geht, ist begreiflich. Daß aber deshalb noch schleunigst die Regierung des Bürgerblocks das Wahlrecht ändern soll— dafür werden die Wähler am wenigsten Verständnis haben. Eine Frage von so großer Bedeutung kann nicht am Schluß der Gcsetzgebungsperiode eines Parlaments durchgepeitscht werden, dessen Zusammen- setzung dem Volkswillen nicht mehr entspricht.
Seamte, Volk und Staat. Eine Konferenz der preußischen Ober- und Negierungs- Präsidenten. In einer Konferenz der preußischen Oberpräsidenten, die am Dienstag stattfand, entwickelte der preußische Innenminister Genosse G r z e s i n» k i Grundsätze staatlicher Hilfeleistung bei Rot ständen. Dabei betonte der Minister, es sei ernstlich in Betrocht zu ziehen, ob nicht systematisch Entwässerung»-, Regulierung?- und Meliorationsarbeiten im «zroßen Stile vorgenommen werden können, um so künftig dos Ausmaß von Naturkatastrophen auf ein Minimum zu beschränken. Seiner Ueberzeugung noch würde der Ertrag selbst bei sehr großen Aufwendungen für diese Arbeiten doch lohnend sein. An diese Besprechung mit den Oberpräsidenten schloß suis«ine gemeinsame Sitzung der Ober» und Regierungs- Präsidenten, die der preußische Minister des Innern mit einer einleitenden Ansprache sröffnets. Die politische Lage stehe in Zeichen der Neuwahlen. Das nächste Jahr würde nicht nur die Reichstags- und Landtagswahlen, sondern wahrscheinlich auch die Wahlen zu den Provinziallandtagen und Kreistagen, wie die Stadl- und Landgemeind.u.>�.,.en bringen. Die mit den Wahlen n:tur- gemäß verbundene erhv.ste politische Tätigkeit wird an vie Behörden der Derwaäung ebenfalls starke Anforderungen st'lken. Weiter wies der Minister aus die dem Landtag noch vorliegenden e.., etzentwürfe hin, besonders auf die noch zur Beratung lt hendc Städte- und Landgemeindeordnung. Er betonte, daß er die Verabschiedung insbesondere der Landgemeindeordnun� wegen der darin snthaltenen Auslösung der Gutsbezirke, die baldigst durchgeführt werden müsse, für dringend halte.
Bei der Erörterung der Lage, die durch den Streik im mitteldeutschen Sohlengebiet entstanden sei, betonte der Minister, daß innerpolitische Streiks gespannte Situationen schüfen, die von allen Verwaltungs- und Exetutioorganen des Staates besonderen Takt und erhöhte Aufmerksamkeit erforderten. Der Polizei fiele dabei als uniformierte Exekutive die unendlich schwierige Aufgabe zu, ihr« Aufgaben zu erfüllen unter Wahrung größter Zurückhaltung und besonderen Taktes und Geschickes. Auf die Ausführungen des Ministers solgten Borträge des Ministerialdirektors Dr. Brand und des Ministerialdirektors Dr. K l a u f e n e r. In der Aussprache führte u. a. der p r« u. ßische Minister des Innern aus, daß er keineswegs die Polizeioffiziere nach ihrer Parteizugehörigkeit warte. Maßgebend allein müsse und dürfe nur die polizeiliche Geeignetheit sein. Allerdings fordere er unbedingt gerade von den Polizeioffizieren als Angehörigen der Exekutive des Staates und Erziehern der jüngeren Offiziere und Beamten eine unbedingt staatsbe- jahende Einstellung. Der Minister wies ferner auf den Unterschied zwischen Polizei, und M'litürdienst hin. Die polizeiliche Ausbildung ist kein Kompagnieexerzieren.— Weitere Vorträge ergänzten die Tagung, der heute Berichtigungen folgten
Preußen tritt für die Reichsfarben ein. Neuer Erlaß über die Teilnahme von Behördenvertreter» an Veranstaltungen. Der Amtliche Preußische Pressedienst gibt folgenden Beschluß des Staatsministeriuma vom 17. Oktober 1927 bekannt: Da» Staatsministerium erachtet es als eine nationale Pflicht und staatspolitische Notwendigkeit, daß bei Veranstaltungen, an denen Lertreter der Staatsregierung oder der ihr nachgeordneten Behördey teilnehmen, dem Gedanken der Reichseinhett und Reichstreue durch eine würdige Hervorhebung der ver» fassungsmäßigen Reichsfarben Schwarzrotgold deutlich Ausdruck verliehen wird. Es ordnet daher an. daß Vertreter preußischer Staatsbehörden an Vernnstallungen, bei denen Flaggenschmuck verwendet wird, nur dann teilnehmen dürfen, wenn die Reichssarben an hervorragender Stelle gezeigt werden und ihnen über- Haupt ein angemessener und würdiger Anteil an dem Flaggenschmuck eingeräumt wird. Vor der Entscheidung über die Teilnahme der Behördcnvertrcter ist. soweit nicht die Beranstallung von einer Reichs-, Staats- oder Kommunalbchörde selbst vor- bereitet wird, sestzustellen, ob und inwieweit den Anforderungen dieses Erlasses genügt ist, und nötigenfalls auf eine entsprechende 2lusschmückung in den Reichsfarben hinzuwirken. Diese Fest- tellungen und die etwa erforderliche Einwirkung auf die Der- anstaller liegen dem Leiter der örtlichen obersten allgemeinen Staatsverwaltungsbehörde ob. Er hat das Ergebnis seiner Fest- tellungen und Mahnahmen den übrigen beteiligten Behörden mitzuteilen. tzerauffetzung der Strafmündigkeit. Wissenschaftliche Gutachten für den StrafrechtsauSschuß. Der Strafgesetzausschuß des Reichstages setzte heute die Beratung über den Beginn der Strafmündigkeit fort. Abg. Dr. Moses trug zur Begründung der sozialdemokratischen Anträge auf Her» aufsetzung des Beginnes der Strafmündigkeit vom 14. auf das 16. Lebensjahr ein umfangreiches Material vor, da» ins- besondere in der Vorlegung von Gutachten medizinischer Autoritäten bestand. Unioersitätsprofessor Liepmann. die Fachärzte Dr. Iuliusburger und Dr. Kronfeld, Nervenarzt Dr. L e h- mann, Dr. Götz von der Städtischen Anstatt Wuhlgarten, Frauenarzt Dr. Max Hirsch , Mitglied des Preußischen Landes- gesundheitsamtes, und die Nervenärztin Frau Dr, B ö n h e i m sind in eingehend begründeten Gutachten zu dem einstimmigen Ergebnis gekommen, daß die Heraufsetzung des Strafmündigkeitsalters auf das 16. Lebensjahr«ine unbedingte Notwendigkeit fei. Nach diesen Gutachten müsse das Strafgesetz viel mehr als
bisher di« Pubertät berücksichtigen. Es handelt sich um di« stärkst« Umwandlungsperiod« des Menschen, in der man geradezu von einer kriminellen Reizbarkeit sprechen kann, um eine Zeit, in der die Natur selbst als agent provocateur austrete. Nicht einmal der wissenschaftlich vorgebildete Psychologe könne in wissenschaftlich einwandfreier Weise die Grenzen aufweisen, wo bei Jugendlichen in der Zeit der Pubertät das Normal« aufhör« mid das Anormale beginne. Ein Sprichwort sage, die Jugend sei selbst «ine Art Krankheit. Dies trefi« besonders in der jetzigen Zeit zu, wo sich infolg« des Krieges und der Erscheinungen der Nachkriegs- zeit die gesellschaftlichen und die kulturellen Verhältnisse so stark ge- ändert hätten. Die allgemeinen Veränderungen der Bedingungen der Umwelt machen sich besonders im Seelenleben der Frauen und der weiblichen Jugend bemerkbar. Di« Anforderungen an die sittliche Widerstands krost der weiblichen Jugend, besonders im Pro- letariat, seien ungeheure, viel größer als im Bürgertum. Um so weniger dürfe man aus den Erfolg von Strafen rechnen. Gerade wer sich noch an sein« eigene Jugend erinnere, und wer die jetzt heranwachsende Jugend objektiv beobachtet, müsse jagen, daß in der Zeit der Pubertät«ine ander« Behandlung des Menschen als mit Strafen eintreten müsse. Wenn Prof. K r a m e r schon vor dem Kriege gesagt habe, daß unter normalen Verhältnissen die Straf- Mündigkeit erst beim 16. Lebensjahr beginne, so treffe das heute noch viel mehr zu. Die sozialdemokratischen Anträge müßten von all denen angenommen werden, di« es mit dem heranwachsenden Gc- schlecht wohlmeinen. Die tzenterjuftiz in Litauen . Der Prozeß Mascheika und Genosse». Am 6. Oktober hatten sich 11 Mann der Gruppe Olita , die unter der Führung unseres Genossen Pletschkaitis gestanden hatten, vor dem Feldgericht Mariampol wegen Beteiligung am Ausstand zum Sturze der Regierung zu verantworte». Von diesen elf wurde nur einer freigesprochen, während zwei zum Tode und acht zu 16 bis 20 Iahren Zwangsarbeit verurteilt wurden. Das«in« Todesurteil wurde in lebenslängliche Zwangsarbeit umgewandelt, während unser Genosse Kasimir Masch aika. ein erst zwanzigjähriger Mensch, eifriges Mitglied unserer Partei und der Gewerkschaften, wie wir schon vor einigen Tagen gemeldet haben, am 9. Oktober erschossen wurde. Die anderen Verurteilten sind Arbeiter aus den Kreisen Wilkowischki und Kybarty. Bei ihrer Festnahme halle die Polizei sie un- menschlich mißhandelt, unser Genosse Georg K i l i t a u s- kas mußte sogar bewußtlos davongetragen werden. Nep-Distußlon vor dem tzorthp-Gericht. I« Budapester Kommunistenprozeß. »odapest. IS. Oktober. In dem Kommunisten-Prozeß gegen S z a n t o und Genossen entwickelle sich gestern zwischen dem Präsidenten und den Aug«- klagten ein« Diskussion über die Frage des Privateigentums und der bürgerlichen Gesellschaft. Auf den Einwand des Präsidenten, daß die Sowjetregierung überall kommunistische Propaganda treibe, gleichzeitig aber Ausländern kapitalistische Konzessi- o n e n erteile und damit im Wesen das Privateigentum an- erkenne, sagt« Szanto. hier sei tatsächlich ein Gegenstand vor« handen. Der Moskauer Wellkongreß Hab« festgestellt, daß der, zett ein relativer Stillstand in den kommunistischen Bestrebungen eingetreten set. Solange dieser Stillstand andauere, beschäftigt sich die Dritte Internationale mit kleineren Interessen und Fordeningen der Arbeiterschaft, um dann zum großen Schlage auszuholen. Die übrigen Angeklagten verweigerten größtenteils die Antwort auf die Fragen. Der Mitangeklagte Führer der radikalen sozio- listischen Arbellerpartei Stefan Vagi erklärte unter anderem, sein- Beziehungen zu Szanto hätten sich auf theoretische G e- spräche beschränkt. Er bestreite, von den Kommunisten Geld er- halten und seine Partei in den Dienst des Kommunismus gestellt zu haben.
Sie Tragik des Aufalls. Hauptmann»«Dorothea Angermann" im Deutschen Theater. Gerhart Hauptmanns jüngstes dramatisches Werk „Dorothea A n g« r m a n n" hat fein« Uraussührung unter Rheinhardt im November vorigen Jahres am Theater in der Iosephstadt in Wien erlebt. Dann ist es über mehrere Bühnen in der Provinz gegangen und kommt erst jetzt in di« Theaterstadt Berlin . Das ist kein Zufall,«s hat keinen nachhaltigen Erfolg gehobt. Wo„Dorothea Angermann" aufgeführt wurde, war man besremdet, ja peinlich berührt. Was ist da», sagte man. für eine kolportage - haste Handlungl Wie oft greift der Zufall entscheidend in di« Ereignisse ein! Dorothea Angermann, die Tochter des sehr unheilig«n Pfarrers Angermann, ist an einem heißen Juliabend ihrem Trieb erlegen, den st» vielleicht vom Vater geerbt hat. Der Verführer ist Mario Malloneck, ein leichtsinniger Kerl. Hotelloch, Schweinehund aus Uebermut, minderer Charakter mll gelegenilichen moralischen An- Wandlungen. Und al» der gediegene, mit Gelehrtenpedanteri« gefüllte UnwersitStsprofessor Herbert Pfannschmidt zaghaft endlich das Geständnis setner Liebe wagt, schlägt sie in plötzlich aufgekommenem Minderwerrigkeiisgesühl ihre Hand au«. Der Pfarrer, selbstisch auf seinen Ruf bedacht, läßt niemand Zeit zur Ueberlegung. Er zwingt den Koch, Dorothea zu heiraten und schiebt sie nach Amerika ab. Da verkommen sie beide. Er schlägt sie und schickt lle auf die Straß«. Sie läuft ihm davon. In Amerika lebt auch Huoert Pfannschmidt, der Bruder des Professors. Ein wildes Heimweh hat ihn gepackt. Kindisch fast erwartet er das Wunder, das ihn noch einmal seinen Sohn und di« geliebt« Heimat wiedersehen läßt. Dasselbe namenlos«. hossnungslose Heimweh führt auch Dorothea Angermann in seine einsame Hütte. Der Professor kann seine Dorothea nicht vergessen. Er weib,«» ist sinnlos, sie im großen Amerika zu suchen, aber er wagt es. Das unwahrscheinlich« Wunder wird zur Wirklichkeit. Hubert soll seine Heimat wiedersehen. Der Zufall hat nun also den Professor di« Geliebte finden lassen. Seine Liebe schiebt heroisch olle bürgerlichen Dorurteile beiseite, vergessen soll sein, was an Häßlichtell in ihr arme« Leben gedrungen ist. Er will auch sie mit hinübernehmen in die Heimat. Aber sie ist verheiratet. Die Ver- hnnl-lungen mll dem Halunken Mario Malloneck. der hier«in fettes Geschäft wlltert, arten zu einem bösen Zank au«. Di« beiden Brüder, sinnlos vor Widerwillen und Wut, schlagen Mario halb tot. Da stürzt Dorothea ins Zimmer und stellt sich schützend vor ihn: .Ihr habt vergessen, er ist doch mein Mann." Die Hoffnungsblüi« ist verwelkt. Verzweifelt ziehen alle ihren Weg. Mario und Dorothea in» alle Bend zurück, die Brüder Psannschmidt in die er. sehnte, ober freudlos geworden« Heimat. Roch einmal führt der Zusall Dorothea und die Brüder zusammen. Ein ehemaliger Sträfling, der die Tochter des Anstaltspfarrers kennt, rettet sie in Hamburg aus der Gosse. In Hubert findet sie dann den verstehenden Schicksalsgenossen. Auch ihn hat der Zufall um dos Leben de» trogen. Zwei Minute« Sinnenlust, und sei» Körper war für immer
zerstört. Aber Herbert hat jede seelische Berührung mit ihr ver- loren, fast ist sie ihm widerlich geworden. Dorothea findet ihr« Ahnung bestätigt, er hat sie nie begriffen. Losgelöst fühll« sie sich aus dem Leben. Nur«ine Befriedigung soll es ihr noch gewähren. den Dater für seine selbstische Brutalität zu strafen. Sie hat sich auf da» Wiedersehen gefreut und sich ein verklärtes Bild gemall: mildes, mllleidsoolles Derstehen, Rückkehr des verlorenen Sohnes. Aber der Pfarrer hat nichts aus dem Schicksal gelernt. Er ist weiter der kalle, selbstgerechte Doter mit moralischer Ueberlegenheit. Da schleudert sie ihm die furchtbare Anklag« in» Gesicht:„Du bist mein Mörder," schon dos tödlich« Gift im Leib«. Dann schlummert sie hinüber in das ersehnte Nichts. Romanhaft, abenteuerlich, unwahrscheinlich durch die Häufung der Bühnenzufäll«, ist das Schicksal der Dorothea Angermann. Eine ganz alltägliche Geschichte, die nur dadurch über die Alltäglichkeit hinauswächst, daß sie Zufälle zu einem Romen oerdichtet. Die Frage drängt sich auf, hat das Schauspiel noch eine Deziehung�ur Gegenwart? Ist der„Fehltritt" der Bürgerstochter noch«ine Tragik von heute? Da« flnd keine Gesichtspunkt« bei dieser Dichtung. Denn Menschen stehen auf der Bühne. Menschen, die länger mit unserem Inneren verbunden jein werden als Herr Müller oder Herr Schulze, mit denen wir manch« Stunden der Wirklichkeit verlebt haben. Es sind keine Phantasiegebilde, die da aus der Bühne agieren. E« ist das Leben selbst, an dem wir Teil haben, da wir miterleben. Nicht einmal der Halunke Mario stößt uns ob. Da» Leben hat ihn jo ge- formt, wie er ist. auch nicht der selbstfichere Pfarrer, der äußerlich ein ganzer Mann von überquellender Lebenskrast ist, dessen Seele aber in Angst um den bürgerlichen Ruf verdorrt. Und der Zufall. den man Hauptmann zum Vorwurf macht, ist kein Bühnenrequisit. Der Zufall ist das Leben, ist seine Tragik. Wir alle wissen es. Er bestimmt uns Beruf, Ziel, Lebensrichtung. Aber keiner hat es vor Hauptmann so zwingend ausgesprochen:„Die Frage ist: sind wir für da», was mit uns geschieht verantwortlich? War es zu ändern oder nicht? Nein, wir sind nicht verantwortlich. Der Zusall, andere nennen ihn Vorsehung, ist verantwortlich. Da? benimmt uns wenig- stens den Gedanken der Schuld." Oder:„Das Leben selbst ist Bru- talität Dos Leben kümmert sich nicht im allergeringsten darum, ob das verlorene Kind die Treber der Schweine frißt oder selbst von den Schweinen gefressen wird und ob e« zurückkehrt oder nicht. Das blieb mir noch übrig zu erfahren, denn diese ganze furchtbare Wahr» hell kannte ich immer noch nicht!" Weiter: Ist es wahrscheinlich, daß Dorothea dem gemeinen Mario folgt und dadurch ihrem Leben wieder eine entscheidende Wendung zum Schlechten gibt? Jawohl, cs ist wahrscheinlich. Mario beweist es schlagend mit einem zynischen Wort:„Ach was, mll Weibern muß man Bescheid wissen." Der Professor hat nicht Bescheid gewußt. Cr ist zu schüchtern und trqtz seiner Ueberheblichkeit zu zaghaft. Dorothea ist zum Schluß doch gerechtfertigt. Sie paßt nicht mehr in das bürgerliche Milieu. Einmal hätte ihr Herbert doch das vernichtende Wort entgegengeschleu- dert:„Du bist eine Hure." In Berlin , im Deutschen Theater, unter Reinhardt hat Haupt- mann einen Sieg errungen. Bei Reinhardt leuchten all die köstlichen Tönungen der Dichtung« reinen Farben. Ein seltene» Erlebnt»,
dies« Aufführung, obwohl gerade die Dorothea Angermann sehlbesetzt ist. Jawohl, wer die Roll« bezwingen will, muß schauspielerisches Genie in sich bergen. Wie ist sie aufzufassen? Duftig, zart, mit leiser Melancholie, di« Bitternis des Lebens nur ahnend? Oder Irin und her geworfen zwischen Lust und Schmerz, zwischen Klarheit und Wahnsinn? Helene T h i m i g oerleiht ihr von vornherein krankhaft« Züge. Darüber läßt sich sprechen. Aber nicht darüber, daß eine Dorothea Angermann etwas widerlich Hysterisches in sich trägt, daß sie spinös, albern trotzig, kindhast rechthaberisch spielt und daß sie ihr Gesicht ständig in nervösem Zucken wetterleuchten läßt. Da ist Oskar Homolka (Mono Malloneck) ein anderer Kerl. Die Niedrigkell des Charakters ist gemildert durch eine selbst- verständllche übermütige Frische des Wesens, ein Halunke aus Ueberzeugung, immer frech, und geduckt, wenn's drauf ankommt. Den Professor Psannschmidt halle kein anderer spielen können als Mathias W i e m a n n. Seine Innerlichkell geht sozusagen auf Filz. pantosseln. Die linkische Unbeholfenheit seines Aeußeren paßt pracht- voll zur Wärme und Schwersälligkeit seiner Seele. Ueber alle Maßen wunderbar ist der Pfarrer Angermann des Werner Kraust Ein lärmender Polterer. Ein selbstsicherer, herrischer Gervaltmensch' dem Taktlosigkeit zur Natur geworden ist. Verkörperung der Ue'-er- bebstchkeit Brutole Kraft lebt in ihm. wenn er Dorothea zur Rechenschaft zieht. Aber da» Wort.Dirne " haucht er nur Wie meistert dieser Schauspieler seine Kunst. Auch Friedrich K a y, l e r. ®i<f daben an dem begeisterten Beifall Teil, der hier einer Dichtung gespendet wird. ___ Ernst Degner. kleist.Feier der„veusschen welle". Im Mittelpunkt der Kleist- Feier, die„Die D eu tsche W e l le" und der Be rl i n er R u n d- funk im Z-ntralinstitut für Erziehung und Unter- r l ch t veranstalteten, steht die formal vollendete und gedankenreiche Rede von W o l f g a n g G o e tz. Keine Aufzählung trockener Daten, teine psychologischen Spitzfindigkeiten, die �rade bei Kleist bel!ebt Goetz zeichnet dieses„totgeweihte Haupt", diesen mll sich und der Welt zerfallenen Dichter als den seiner Zeit Borausgeeilten, als den Titanen, dessen Größe und dessen Leidenschaftlichkeit ein Ge- schlecht, das für ont'ke Ruhe eintrat, nicht begreisen konnte. Rur einer suhlte sein Genie und auch feine Tragik: Goethe. Entschieden lehnt Goetz jeden Angriff gegen Goethes Verhaften ab. Der Sechziniahrig« fuhrt das Werk seines jugendlichen Antipoden auf, das Werk eines Menschen, dessen Zerr.ssenheit den nach Harmonie Strebenden verhaßt sein mußte, und zwar als eine Gefahr für die eigenen Bezirke. Wo findet Goethe in diesem Verhalten seines- lileichen? An Goetz gemessen, oerliert Walter F r a n ck, der aus den Werken vorträgt. Fronck hütet sich vor jedem Pathos, vor jeder dramatischen Po'ntierung. er bleibt vollkommen sachlich, doch diese kühle Ueberlegenheit wirv bereits zu weit getrieben, aber dabinter steht«in loderndes, leidenschaftliche, Temperament. Wie spricht Ludwig Hardt d'e Anekdote aus dem letzten preußischen Krieg! Fronck begnügt sich allein mit der rudiaen Haltung. Das Funk- orcbester unter Seidler-Winkler spiett Pfitzners Komposition zum .Fiatchen von Heilbronn " und Hugo Wolfs„Penthesilea ". Im ganzen eine Veranstaltung von hohem Niveau,«in« Veranstaltung, die einen starke» Eindruck hinterläßt. F. S.