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Poincarés Vertrauenspeitsche.

Die untertänige Kammer. Niemand wünscht eine Krise.

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Paris , 18. November.( Eigenbericht.)

Die französische Rammer gewährt gegenwärtig einen ganz eigentümlichen Anblid. Das stolzeste aller Parlamente fcheint auf seine Eigenpersönlichkeit völlig ver. zichtet zu haben.

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Es genügt, daß Poincaré den Vertrauensfinger hebt, um der Regierung jederzeit eine sichere Mehrheit zu_ver= schaffen. Es genügt, daß der Finanzminister erklärt: Wenn Sie das Budget aus dem Gleichgewicht heraus­reißen wollen, dann suchen Sie sich bitte einen anderen als mich", um jeden Antrag, der irgendwie Neuausgaben ver ursachte, zu Fall zu bringen. Es genügt, daß der Minister präsident den Schatten einer Kabinettstrise am Horizont auf tauchen läßt, um die Opposition im Handumdrehen zu überwältigen. Trogdem geht es Herrn Poincaré immer noch nicht rasch genug mit der Budgetberatung, die eigentlich gar feine Beratung mehr ist, sondern eine Durch peitschung, Deren Sturmtempo nur durch die Interventionen der Sozia­listen, der Kommunisten und einiger seltener bürgerlicher Ab­geordneten gehemmt wird.

Da Poincaré bei weitem nicht so mürrisch, so hart auf­fahrend ist, wie er es in anderen Zeiten zu sein pflegte, da er sich alle Mühe gibt, um heiter, lächelnd, guten Mutes zu zeigen und sich mur hier und da eine jener grobscharfen Ant­worten entfahren läßt, die ihm den Spitznamen Essig= gurte" perschafft haben, tommt es natürlich zu viel weniger färmenden Zusammenstößen als in früheren Jahren. Das liegt nun allerdings nicht nur daran, daß der fünfundsechzig­jährige Ministerpräsident ein holderes, Wesen zur Schau trägt, sondern auch an dem stillen Wunsch aller, für den Augenblid feine Rrise herbeizuführen und es Herrn Poincaré zu erleichtern, sein Budget für 1928 unter Dach und Fach zu bringen. Dadurch haben natürlich die Kammer­debatten, die sonst um diese Zeit ein hochpolitisches Gepräge zu tragen pflegten, das Intereffe verloren, das ihnen die öffentliche Meinung des Landes im allgemeinen entgegen­bringt. Auch ist man sich in allen Kreisen flar, daß das Geficht des Parlaments dadurch seine markantesten Züge ver­liert und die Autorität der Abgeordneten dabei nichts gewinnt. Aber während sich die Linke, vor allem die Sozialisten, bemüht, die Gefahren aufzudeden, die das von Poincaré an gewandie ,, Beratungssystem" für den Parlamentarismus und deffen Ansehen mit fich führt, verbirgt die Rechte nicht, welche Genugtuung ihr die Erniedrigung der Kammer be­reitet. In einigen führenden Blättern des Nationalen Blocks fommt ganz unverhohlen eine ausgesprochen anti parlamen

tarische Auffassung zur Geltung, die sich in dem von dem forsischen Parfümfabrikanten Coty geleiteten Figaro" bis zur offenen Verherrlichung der jüngsten Mussolinischen Ber­faffungsreform steigert, die auf die Abfchaffung des allge­meinen, gleichen, geheimen Wahlrechts und auf das völlige Berschwinden des Parlaments hinausläuft.

Poincaré felbst will allerdings nicht gelten lassen, daß die von ihm zur raschen Annahme des Budgets angewandte Arbeitsmethode einen mangelnden Refpeft vor der Kammer zum Ausdrud bringt. Is 3. B. der Führer der sozialistischen Kamerfrattion Léon Blum dieser Tage im sozialistischen Populaire" den Berdacht aussprach, daß die jüngst von dem schmedischen Zündholztrust der französischen Regierung unter günstigsten Bedingungen gewährte 75- Mil­lionen- Dollar- Anleihe eine geschichte Umgebung der von der Kammer im Sommer abgelehnten Berfchacherung des fran zösischen staatlichen Zündholzmonopols an den Schwebentrust verberge, fühlte sich der französische Ministerpräsident in höchst eigener Berson veranlaßt, dem Populaire" eine sehr aus­führliche Berichtigung zu schiden. In dieser Zuschrift ist nicht nur der Nachdruck interessant, mit dem Poincaré die Aufrechterhaltung des französischen Monopols betont, sondern auch die Empörung, mit der er den Gedanken zurüdweist, als ob er jemals etwas tun tönne, was mit den Beschlüssen und der Würde des Parlaments in Widerspruch stände. ,, Dazu fennen Sie mich, Herr Léon Blum , doch wirklich gut genug, um zu wissen, daß man niemals so etwas von mir an­nehmen darf," schreibt der Herr Ministerpräsident wörtlich. In der Tat verdient Poincaré wohl den Ruhm eines fich streng an die Geseze und die Verfassung haltenden Staats­mannes. Um so seltsamer aber ist es, daß er fein Gefühl dafür zu haben scheint, in welche Lage er bie Rammer burdy seine Taftit bringt. Sie läuft praktisch darauf hinaus, dem Barlament fein wichtigstes Borrecht, das in der gründlichen Prüfung des Budgets besteht, vorzuenthalten. Nur die Tat fache, daß teine der bürgerlichen Parteien fich sechs Monate vor den Wahlen der Gefahr auszuseßen wagt, durch eine neue Rabinettstrife oder die Verzögerung der Annahme des Bud gets die Frankenwährung einer neuen Schwantung auszu fehen und dafür vor der öffentlichen Meinung verantwortlich gemacht zu werden, erklärt die Leichtigkeit, mit der Boin carés Bertrauenspeitsche die sonst so allmächtige Kammer zum Gehorsam zwingt.

Um die Bekenntnisschule. Die Lehrpläne und die Religionsgesellschaften. In der Debatte über§ 4 des Schulgeseges, über deren Beginn wir im Abendblatt berichteten, führte Abg. Fleißner( Soz.) aus: Der Absatz 8 bes§ 4 zeigt eine große Aehnlichkeit mit dem baye­rischen Konkordat wie überhaupt das ganze Gefeß. Die praktische Durchführung ist überhaupt nur möglich, wenn aus der Bekenntnis­schule eine richtige Kirchenfdjule wird. Die Deutsche Bolts partei ist in eine schwierige Bage gekommen. Ihren Worten nach möchte sie die Ergebnisse des früheren Schulliberalismus nicht preis geben. Als Regierungspartei muß fie aber immer nachgeben. Wir lehnen diese Untlarheit ab.

Abg. Dr. Löwenstein( Soz.): Ich stelle fest, daß nach der Er. tfärung des Regierungsvertreters feine Religionsgesellschaft das Recht hat zu verlangen, daß der Unterricht( mit Ausnahme des Re ligionsunterrichts) nach den von ihr gefaßten Beschläffen gestaltet wird.( Abg. Rheinländer( 3) widerspricht dem für das Zentrum.) Kein Staat darf eine bestimmte tonfeffionelle Auffaf jung in den allgemeinen Unterricht hineinbringen. Ich stelle fest, daß der Stcat nicht verpflichtet ist, wenn eine Religionsgesellschaft mit der Forderung hervortritt, irgendeine Auffaffung, irgendwelchen Stoff in den allgemeinen Unterricht hineinzubringen, diefer Forde rung nachzukommen.

Abg. Hörnle( Komm.) betonte die Unmöglichkeit, daß in einer

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Wenn wir dem Kind auch seinen Brei fortnehmen, Frau Schulze, als Erfah bereiten wir das himmlische Manna unserer Bekenntnisschule für das Kleine vor!"

Bekenntnisschule den Erforderniffen der freien Wissenschaft genügt

wird.

der Daily Mail" nicht fümmere. Die Agitation von ein paar Personen für Horthy- Ungarn sei feine Rundgebung der englischen hinter fich. Die Labour Party betrachte seine Tätigkeit als schäd öffentlichen Meinung. Lord Rothermere habe feine politische Partei lich. Sollte die Labour Party nach den Wahlen zur Regierung fich für Schiedsgerichtsbarkeit und Abrüstung einsetzen. gelangen, so würde sie auf das Genfer Protokoll zurückgreifen und

Bolkspartei die Bekenntnisschule so fortfeßen wolle, wie fie fich Abg. Frau Dr. Mah( D. Bp.) wies darauf hin, daß die Deutsche historisch bewährt habe, daß sie aber jede Einengung des Begriffs sprechend forderte sie den Ersatz der Worte gemäß dem Glauben" in der Richtung auf dogmatische Bindungen ablehne. Dement durch die Faffung auf evangelifcher, tatholischer usw. Rebnerin begründet ferner den Antrag, statt Lehrpläne zu legen Wiederaufnahme des Slaterprozesses. Grundlage", die teine dogmatische Auslegung zulasse.

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,, die für alle Schulformen geltenden allgemeinen 2ehr= pläne". Die Befenntnisschule sollte nicht aus dem allgemeinen Lehrpläne, die naturgemäß entsprechend der Eigenart der Schule Rahmen herausfallen, sondern auch für fie gelten die allgemeinen in den Gesinnungsfächern,& B. in der Geschichte, in der evangelischen und fatholischen Schule verschiedene Ge it alt gewonnen. Einen fonfeffionellen Unterricht, etwa in Geo­graphie, Rechnen, Handarbeiten lehne die Deutsche Bollspartei ab. Mit diesen Abänderungsanträgen fuche die Deutsche Boltspartei den starten Schwierigkeiten des Wortlauts bes Beimarer Kompromiffes, an dem fie unbeteiligt fei, entsprechend ihrer liberalen Tradition bes bes ver Giberalen Rechnung zu tragen.

Weiterberatung: Sonnabend.

Strafrechtsausschuß.

Die Unfähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Aemter.

Auf Grund des§ 47 des neuen Strafgefeßentwurfs fann das Gericht, menn megen eines Verbrechens oder vorsäglichen Bergehens auf Gefängnis erkannt wird, den Verurteilten auf die Dauer von mindestens einem bis höchstens fünf Jahren für un­fähig ertlären, öffentliche Aemter zu befleiben. Ein sozialdemokratischer Antrag, den Ausspruch des Verluftes der Amtsfähigkeit nur bei einem Delift unter grober Berlegung der öffentlichen Pflichten des Berurteilten möglich zu machen, verfiel am Freitag im Strafrechtsausschuß des Reichstags der 2b. lehnung. Borauslegung für§ 47 bleibt jebody eine Gefängnis ftrafe von einem Jahr.

Laut$ 48 verliert, we unfähig ist, öffentliche Aemter zu be fleiden, zugleich für immer die öffentlichen Memter, bie er inne hat Den öffentlichen Aemtern stehen gleich die Zugehörigkeit zur Reichs. mehr, die aus öffentlichen Wahlen hervorgegangenen Rechte, die Rechtsanwaltschaft und öffentliche Würden.

Ein Antrag des Abg. Landsberg( Soz.), die Rechtsanwaltschaft nicht in diesen§ 48 einzubeziehen, wurde abgelehnt. Dagegen wurden auf sozialdemokratischen Antrag die Worte für immer" gestrichen.

die Begriffe öffentliche Würden oder öffentliche Aemter" die Im Laufe der Aussprache betonte Abg. Dr. Rahl( D. Bp.), daß tirchen emter der Religionsgesellschaften nicht um­faffen. Paragraph 49, der den Berluft des Wahl- und Stimmrechts behandelt, wurde zur weiteren Beratung einem Unterausschuß über wiesen. Nächste Sigung Mittwoch.

Macdonalds Gesundheitszustand. Er dementiert das Alarmgerücht.

London , 18. November.( Eigenbericht.) Das fenfationelle Gerücht, monadh Ramsan Macdonalds Gefundheit auf das schwerste erschüttert sei und sein völliger Zusammenbruch brohe, wird von Macdonald felbst als große Ueber­treibung bezeichnet. Richtig ist lediglich, daß Mactonald feit seiner letzten schweren Erkrankung unter ständiger ärztlicher Bewachung steht. 3u hem Gerücht erklärt Macdonald, er dente gar nicht

baran, in einem Augenblic schärfter parlamentarischer Rämpfe leinen Bosten zu verlassen. Gerabe jetzt sei größte Wachsamkeit und äußerste Aftivität der parlamentarischen Oppofition dringend not­mendig.

Labour Party gegen Rothermere Aftion.

Prag , 18. November.( Eigenbericht.)

Das sozialdemokratische Pravo idu" veröffentlicht eine Unterredung feines Londoner Bertreters mit Genossen Ramsay Macbon alb. Der Führer der Labour Party äußerte fich barin über die bekannte Rothermere- Attion und sagt, daß die britische Deffentlichkeit sich um die politische Kampagne des Herausgebers

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Das Gesetz vom Unterhaus beschlossen.

London , 18. November.( Eigenbericht.) Das Sondergefeh auf Wiederaufnahme des Berfahrens im Falle Slater ist am Freitag im Unterhaus eingebracht und fofort in zweiter Lefung verabschiedef worden. Das Gefeh besteht aus zwei Paragraphen und ermöglicht die Berlängerung der sonst zur Berufung geltenden einjährigen Friff.

sozialistische Daily Herald" diesem Weg der Wiederaufnahme Bor wenigen Tagen haben mir schon gemeldet, daß der die ungeheuren Roften entgegengehalten hat, deren Aufbringung recht fraglich ist. Das Arbeiterblatt hatte statt Deffen eine neue Untersuchung von Amts wegen gefordert, deren Kosten der Staat trägt.

Spionageprozeß in London .

Ein Deutscher mitangeflagt.

London , 18. November.( Eigenbericht.) Zwei unter dem Verdacht der Spionage in London verhafteten Bersonen, darunter ein Deutscher namens Hansen oder Han fing, werden sich am Sonnabend vor dem Londoner Magistrats richter zu verantworten haben. Die bei der Verhaftung vorgefun­denen schwerbelastenden Dokumente waren am Freitag Gegenstand einer Konferenz zwischen dem Polizeipräsidium, dem Innenministerium und der Staatsanwaltschaft. Es handelt sich um den Deutschen T. Hansen und den Amerifaner James Mac Cartney. Leßterer ist irischer Abstammung. Hansen foll englische Sprache zu erlernen. por etwa drei Wochen nach England gefommen sein, um dort die englische Sprache zu erlernen.

Die Touloner Meuterei. Ministerieller Widerstand gegen parlamentarische Untersuchung.

Paris , 18. November.( Eigenbericht.) Kriegsschiff Ernest Renau" waren burch el ende Berpflegung Die Meuterei im Marinegefängnis von Toulon und auf bem der Matrosen, besonders durch verdorbenes Fleisch hervorgerufen worden. Der Heeresausschuß der Kammer hatte deshalb beschlossen, eine parlamentarische Untersuchung zu veranstalten. Der Marine minifter weigert sich jedoch, das notwendige Material zur Verfügung zu stellen. In der nächsten Woche soll die Kammer darüber entscheiden, ob dem Ausschuß das Recht zusteht, die Borfälle zu untersuchen cber nicht. Marineminister Lengues hat erflärt, daß er demissioniere, ehe er fich zwingen laffe, cine parlamentarische Untersuchung in der Marine zu dulden.

Italien und Südstawien. Mussolinis Botschafter beleidigt Marinfowitsch. Paris, 18. November.( Eigenbericht.) Der Cri de Paris" berichtet: Als der füdslamische Außen­

minister Marinfowitch bie Tribüne ber Ehrengäste bei ber Waffenstilistandsfeier am 11. November betrat, wandte ihm ber italienische, Fotschafter Graf Manzoni, obwohl die beiben Diplomaten seit Jahren befreundet sind, demonstrativ ben Rüden. Bergeblich versuchte der jugoslawische Gesandte in Paris , den peinlichen Swischenfall beizulegen, indem er ben Affront gefliffentlich übersah und Manzeni bat. ihm den Außen­minister porstellen zu dürfen. Der italienische Botschafter aber trieb die Brüstierung so weit, daß er nach einer fühlen Ber­beugung und ohne ein Wort der Begrüßung ben beiden jugo­flamischen Diplomaten wieder den Rücken drehte.