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Morgenausgabe 1930s

Nr. 549

A 279

44. Jahrgang

Böchentlich 70 Bfenria monatlich 3, Reichsmart, voraus aahlbar. Unter Etreifband im Jn. und Ausland 3,50 Reichsmart pro Monat.

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Der Borwärts" mit der illuftriez ten Sonntagsbeilage Bolt und Reit" sowie den Beilagen Unterhaltung und Wiffen" Aus der Filmwelt. Stadtbeilage", Frauenstimme Der Rinderfreund". Jugend- Vor wärts", Blid in die Bücherwelt", Rulturarbeit und Technik erscheint wochentäglich zweimal, Gonntags und Montags einmal.

Vorwärts

Berliner Boltsblatt

Sonntag 20. November 1927 Groß- Berlin 15 Pt. Auswärts 20 Pf.

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Bentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands

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Vorwärts Verlag G. m. b. H.

Vor Weihnachten ausgesperrt!

Die Opfer der Zigarrenfabrikanten.

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5 bis 14 Mark Wochenlohn. Hunger als Antreiber.

F. F. Witzenhausen , 19. November. Ueberall, wo ich im mittedeutschen Bigarrenindustriegebiet mit Tabatarbeitern spreche, loht mir eine ungeheure Erbitterung ent­gegen über die brutalen Aussperrungsmaßnahmen der Fabritanten. Da gibt es teinen Unterschied zwischen Unorganisierten, christlichen und freigewerkschaftlichen Zigarrenarbeitern. In einem Dorf des Eichsfeldes, in dem der, Zentralverband chriftlicher Tabafarbeiter einigen Boden hat, schüttete mir der örtliche Vertrauens mann der christlichen Arbeiter sein Herz aus. Es war am Bußtag und die Gläubigen famen gerade aus der Kirche:

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Sehen Sie sich nur diese wandelnden Leichname an!" Dabei mies er auf ärmliche Gestalten, die müde und langsam den Kirch weg herunterfamen.

,, Das ganze Jahr haben sie den Hunger zu Gast und jetzt, kurz vor Weihnachten, wirft man sie auf die Straße.

Ich bleibe am Straßenrand stehen und lasse die Kirchgänger an mir vorbeiziehen. Unschwer sind die Zigarrenarbeiter von den Kleinbauern zu unterscheiden. Dürftige, fadenscheinige Kleidung, trog des Feiertags. Gebrüdt und schweigsam gehen die Männer. Die Frauen, das Gebetbuch in der Hand, sprechen leise miteinander. Die Gesichter schreien das erlittore Elend laut in die Stille. Aus tiefliegenden Augenhöhlen kommen müde, neugierige Blide. Der Hunger hat die Wangen gebleicht. Dft ist ein wachfiger Glanz barüber, wie man ihn an Leichen tennt. Und wenn da und dort ein frisches, junges Mädchengesicht dazwischen ist, dann läßt dies blühende Leben durch den Kontrast das bleiche Elend der anderen nur um jo härfer hervortreten. Eine Parade von Käthe- Kollwiß und Hans- Baluschet- Gestalten defiliert.

Ich frage den Vertrauensmann nach der Stimmung der aus­gesperrten christlichen Tabatarbeiter im Dorfe.

Sie verfluchen die Zigarrenfabrikanten in die tiefste Hölle!"

Dürfen christliche Arbeiter denn fluchen?" Ein bitteres Lachen antwortet. Am nächsten Sonntag fönnen fie's ja dem Pfarrer wieder beichten...."

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Auch die christlichen Arbeiter sind der festen Ueberzeugung, ohne Lohnerhöhung dürfte die Bewegung nicht zu Ende gehen. Der Vertrauensmann zeigt mir eine Zentrumszeitung, das Worbiser Tageblatt" und macht mich auf einen Artikel aufmerksam, der den Ausspruch eines Heiligenstädter Zigarren fabrikanten widergibt: Das wahre Ziel der Aussperrung sei die 3ertrümmerung der Gewertschaften und die Niedrighaltung der Löhne! In der Deffentlichkeit aber versuchen die Fabrikanten, sich als die unschuldigen, überfalle­nen Lämmlein zu geben und betonen in der Bresse des Zigarren­industriegebietes immer wieder, wie sehr sie angeblich zum Frieden bereit gewesen seien. Den Kampf hätten die Arbeiter gewollt. Daß das Ggenteil richtig ist, braucht an dieser Stelle nicht besonders be tont zu werden. Vor allem aber suchen die Fabrikherren die Deffentlichkeit über die Lohnhöhe der Zigarrenarbeiter zu täuschen. Als ich im Berratal in eine Bertrauensmännerfizung des Deutschen Tabatarbeiterverbandes tam, diskutierte man gerade er­regt über eine solche Preffeäußerung des Reichsverbandes Deutscher 3igarrenhersteller( RD3.), die im Wizen häuser Kreisblatt" veröffentlicht war. Die angeblichen Löhne der Rigarrenarbeiter einer Leipziger Fabrit werden da mit 31 bis 38 M. angegeben; Löhne von denen man auf dem Eichsfeld und im Werratal faum zu träumen magt. Mit

10 bis 14 Mark in der Woche gehen hier die meisten Zigarernarbeiter und-arbeiterinnen nach Hause. Und viele, besonders die Ripperinnen, bringen es oft nur auf 5 bis 9 M. wöchentlich. So sind die Löhne fast durchwegs auf den Dörfern. In den kleinen Städten werden von den Rollern 16 bis 18 m. verdient, die Löhne der Wickelmacher und Nipper liegen auch hier weit unter diesem Saz. Aber der RDZ. nergrößert die tatsächlichen Elendslöhne für die Oeffentlichkeit um das Doppelte und Dreifache und schreibt dann in seinem Artikel:

Man bemerke sich dagegen, daß die mitteldeutschen Braun­tohlenarbeiter nach Zeitungsnachrichten gestreift haben, weil sie einen Wochenlohn von 33,50 m. hatten und vergleiche dann die verschiebenartigkeit der Arbeit."

Man will also der Deffentlichkeit glauben machen, die Bigarren­arbeiter hätten höhere Löhne als die Bergarbeiter und feien trotz dem nicht zufrieden, obwohl sie doch eine picl leichtere" Arbeit haben. Diese leichtere" Arbeit wolffe ich kennenlernen. In einem Dorf des Werratals ist mir's endlich auch gelungen. Eine Fabrit hatte nicht ausgefperit; fie gehört dem ND3. nicht an und beschäftigt etwa 70 Personen, darunter fast fünfzig Frauen und Mädchen. In dieser Fabrit fißen an langen Tischen Männer,

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Frauen und Mädchen auf fleinen Schemeln ohne Rückenlehne, über ihre Arbeit gebeugt. Hier die Ripperinnen, die mit staunens­merter Firigkeit die starke Mittelrippe aus den Tabakblättern ent­fernen. Rinder von 14 und 15 Jahren sind darunter und schädigen ihre junge Gesundheit durch Einatmen des gifti gen Tabatstaubes. Hier wird der Keim zur Tabatarbeiter frankheit, zur Tuberkulose, gelegt. Dort fißen die Widelmacher, Frauen und Männer, fertigen gewandt und schnell die Einlage mit Frauen und Männer, fertigen gewandt und schnell die Einlage mit Umblatt. Das Ganze tommt dann in die Formen und Pressen. Das Wickelmachen ist die gefährlichste Arbeit. Die Einlage muß ganz trocken fein und entwickelt deshalb viel Tabakstaub. Die ganzen Arbeitsräume find erfüllt von trodener, mit Bigarrenstaub geschwängerter Luft. Beißender Tabatsgeruch legt sich auf die At­mungsorgane. Tief über die Arbeit gebeugt, atmen die Frauen und Männer das Gift ein. An anderen Tischen arbeiten die Rol. Ter. Sie schneiden aus den zugerichteten, großen Tabakblättern quf ihrem Rollbrett das Deckblatt und machen die Bigarre fertig, indem sie das Deckblatt um den Wickel rollen und festfleben. Oft muß das Deckblatt gestückelt und geflebt werden. Aber vielfach werden die Roller um die ihnen dafür zustehende Stüdelzulage gebracht. Fast in allen Bigarrenfabriten ist Affordarbeit eingeführt.

Die niedrigen Löhne zwingen zur Heharbeit. Oft wird auf die Frühstückspause verzichtet, damit ja jede Minute zur. Arbeit ausgenügt werden fann und der Lohn am Wochenende nicht gar zu fläglich ausfällt. Die Finger greifen haftig in den Tabathausen, faffen die Einlage und machen den Widel fertig. Bei den Rollern geht das Hantieren mit dem scharfen Messer so schnell, daß man jeden Augenblid fürchtet, ein Finger müsse verlegt werden. Und unsichtbar steht hinter jeter dieser gebeugten Gestalten ein An­treiber, ein bleiches Gespenst mit hohläugigem Fraßengesicht: der Hunger! Er hetzt und jagt die armen Teufel mit seiner Peitsche zu immer neuer Anstrengung. Das ist die leichte" Arbeit der Bigarrenmacher, für die Löhne bezahlt werden, daß selbst die schlecht­bezahlten mitteldeutschen Bergarbeiter sagen würden: Kein Hund möchte länger so leben!"

Die Achtundvierzigstundenwoche ist tariflich fest gelegt Aber da, wo die schlechtesten Löhne bezahlt werden, arbeiten ihr nicht auf Einhaltung des Achtstundenteges?" Man zwingt uns die Zigarrensflaven 3 wölf Stunden. Ich frage: Warum dringt ihr nicht auf Einhaltung des Achtstundenteges?" Man zwingt uns nicht. länger zu arbeiten. Aber in acht Stunden verdienen wir so wenig, daß wir verhungern tönnten. Da bleiben mir bis zum Abend und arbeiten zwölf Stunden, damit der Lohn wenigstens zum Allernötigsten reicht."

Geheim- Parteitag in Rußland . Auslandskongreß der ruffischen Opposition.

Moskau , 19. November.

Wie aus Moskau gemeldet wird, hat das Zentral. komitee der Partei und das Politische Bureau allen Institutionen, Dörfern, Städten und Fa. briten, welche die Namen von Trotki oder i now jew tragen, die Genehmigung erteilt, sich neue Namen zuzulegen.

Die bevorstehenden Sitzungen des Parteikon. gresses sollen zum größten Teil geschlossen vor sich gehen. Die Opposition soll in keiner Weise vertreten sein. Die ausgeschlossenen Parteimitglieder haben sich mit einem Gesuch an das Zentralfomitee gewandt, ihnen die Möglichkeit zu geben, sich auf dem Parteifongres zu ver­teidigen. Das Gesuch wurde abgelehnt.

Nach den Angaben der Zentralkommission sind in der letzten Woche 350 Parteimitglieder ausgeschlossen worden. Dem Vernehmen nach beabsichtigt die Cpposition, einen Kongreß im Auslande einzuberufen.

Troßfi am Grabe Joffes.

Die Oppositionsführer feiern den toten Kameraden. Moskau , 19. November. Die Leiche Jeffes wurde heute auf dem Friedhof des Klosters Nowodewitscht beigefeht. Die Grabrede hielt namens des Zentral fomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetregierung des Rates der Boltskommissar der Scwjetunion und bes Außenfommissariats schitscherin, namens des Rates der Volkskommissar Inner­rußlands Les chama und namens des Moskauer Komitees der Kommunistischen Partei Rjutin . Weitere Grabreden hielten als Freunde des Verstorbenen die Führer der Opposition, Trotti Sinopjem, kamenem und Ralowski.

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Bankkonto: Bank der Arbeiter, Angestellten und Beamten Wallstr. 65. Diskonto- Gesellschaft, Depofitentasse Lindenstr. 3

Rasputin .

Politisch: B emerfungen zu einem politischen Theaterstück.

Rasputin " von Tolstoi , dem Neffen, Schtschegoiem und Piscator ist das neue Stück, das im Kurbelfasten der Weltgeschichte am Nollendorfplatz gedreht wird. Da es all­gemein als ein politisches Stück bezeichnet worden ist, sachverständigen Kritiker gestattet sein, zu ihm einiges zu mag auch dem Politiker in gemessenem Abstand von dem bemerken.

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Agitation, die mit diesem Stüd getrieben werden soll, ist Das Angstgeschrei der Rechten über die bolschwistische grundlos. Daß junge Menschen, die als eingefleischte Kom munisten ins Theater kommen, Beifall rasen, wenn ein Schauspieler in der Maste Lenins auf der Bühne erscheint und gebrochenes Deutsch redet, versteht sich von selbst. Aber wer nicht schon als Kommunist gekommen ist, geht sicherlich nicht als solcher hinaus. Denn von dem Augenblick an, in dem sich der Vorhang hebt, sieht er sich einer Welt gegen über, die fabelhaft interessant, in ihrer Art großartig, aber ganz gewiß nicht die unsere ist. Was jeßt in Rußland . als bolschemistisches System dasteht, ist geworden in einem Land des östlichen Despotismus, der Muschits. der Analpha­beten, in einem Lande, das an Grausemkeit der Unter drückung ebenso egzellierte wie an heroischen Taten im Kampfe gegen sie. Dieses Land ist nicht unser Land, es ist für uns nicht ein anderes Land, sondern eine andere Welt. Das ist sicherlich der stärkste Eindruck, den der denkende Be sucher der Piscator- Bühne nach Hause mitnimmt.

Ein Rasputin mußte möglich gewesen sein, bevor ein Lenin möglich werden konnte. Rasputin war ein Bauer und Wundermönch, der sich neben einem Dugend seines­gleichen in der Petersburger Aristokratengesellschaft herum­trieb, ein Riefenferl mit gesundem Muttermik. Säufer und Hurenbock. Zum Krankenlager feines Söhnchens, des Barewitsch, von Schmerz gebrochen, an der Kunst der Aerzte verzweifelnd, rief ihn das Barenpaar zu einem Versuch der Wunderheilung, der scheinbar gelang. Bon da ab war Rasputin der Beherrscher des Herrschers aller Reußen, mäch tigster Mann in dem Riesenreich zwischen der deutschen Grenze und dem Stillen Ozean. Der fleine verängstigte Spießbürger, der unter dem Namen 3ar Nikolaus den mächtigsten Thron wie ein ererbtes Buttergeschäft im Inter­esse der Seinen hütete, war ebenso willenlos in der Hand feiner Frau, wie diese in der Hand Rasputins . Draußen tobte der Krieg, drinnen ging alles an Korruption. Schwäche und Aberglauben zu Bruch. Im Dezember 1916 wurde Rasputin im Einverständnis mit einem der Großfürsten in die Villa des Fürsten Jussupoff gelodt und getötet, drei Mo­nate später brach der Zarenthron zusammen, und nach der zwischenrevolutionären Episode Miljukom- Kerenski siegten der Bolschewismus and Lenin .

Was vordem war, flingt uns heute wie eine finstere Mär aus längst vergangener Zeit. Aber heute vor elf Jahren war das alles noch Wirtlichteit! Und da wun­dert man sich, daß in Rußland die Geister Rasputins und Nikolais, die Geister der Ochrana und der Berbanntenzüge nach Sibirien noch immer spazieren gehen so gründlich auch die Köpfe abgeschlagen worden sind, daß die alte naive Gläubigkeit noch immer lebt und sich neue Formen sucht, und daß man dort drüben immer noch Unverständnis und boshaftem Mißverstehen beaegnet, wenn man Gedankenfreiheit spricht? Ehe Lenin werden konnte, mußte Rasputin sein, aber von Rasputin zu Lenin war ein sehr weiter Weg und trotz allem ein großer Fortschritt.

Don

In dem Theaterstück der drei genannten Herren erscheint aber nicht nur Lenin, sondern auch Trotti, und es ist be= merkenswert, daß der Beifall, den die Statisten auf der Bühne diesem Revolutionsredner regiemäßig spenden, auf der Galerie ein kaum weniger lautes Echo findet als der Applaus für Lenin . Daraus zu schließen. daß der weniger zahlungs­fähige und sympathischere Teil des Publikums aus ,, Trozkisten" besteht oder. wie man in Deutschland sagt, aus ,, Ruthenen", wäre falsch. Der Troyli, den wir zu sehen bekommen, steht vor dem Rednerpult und rechnet mit den Menschewifen ab, das macht eben Spaß! Die Arbeiter- Marseillaise und der deutiche Sozialistenmarsch werden mit nicht geringerem Jubel begrüßt, obwohl es doch in der Marseillaise ganz mensche­wistisch und sozialverräterisch heißt: Das freie Wahl= recht ist das Zeichen, in dem wir siegen...." Eine Hoch­schule für den echten Kommunismus ist das also nicht. In Piscators Inszenierung fönnte das Stück heute in Rußland nicht mehr gespielt werden, zum mindesten nicht ohne ganz dicke Striche der Zenfur.

Daß aber der gespielte Trogfi in einem Berliner Theater täglich als Resolutionsheld gefeiert wird, während der wirk­liche Trozki drüben als Verräter in Acht und Bann getan ist, ausgestoßen, beschimpft, befpien, feiner Ehren. Würden und Aemter beraubt, zu den politisch Toten, den Rechtlosen geworfen, das gibt diesem historischen Stück prickelnde Aktua