Nr. 35 45. Jahrgang
1. Beilage des Vorwärts
Die verwandelte
Letiver
"
Vor einem Jahre brachte der„ Borwärts" einen Artikel über die Zustände in dem städtischen Frauenosyl, in der Wiesenburg ", Allzuviel Gutes mar nicht zu berichten; zwar hatte man die Säle neu und bunifarbig gestrichen, die Britschen standen nicht mehr so dicht nebeneinander wie in dem Saal 18 der„ Palme", aber das war auch der wesentlichste Unterschied. Allen Anforderungen moderner Hygiene sprachen die Einrichtungen des Asyls Hohn: Neun unzureichend gereinigte Steinbadewannen, ein( tatsächlich, ein) nie desinfizierter Ramm, fünfzehn Waschschüssein standen für die fast 500 Nachgäste des Ainls zur Verfügung.
Eine Interpellation.
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Unsere Genossen in der Stadtverordnetenversammlung machten darauf diese Zustände zum Gegenstand einer Interpellation, und iegt, feht hat sich die Wiesenburg" wieder gewandelt, und nun endlich ist sie wieder ihres alten Ruhmes mürdig, ist sie wieder das schönste, modernfte, fauberste Asyl Berlins . Wirflich, was jest hier geboten wird, bedeutet auf dem Gebiete der Obdachlosenpflege einen gemaltigen Fortschritt, Wer einmal in nl genächtigt hat, mird es zugeben: Das Schlimmste, Deprimierendfte für den Neuling war immer bie bide, flintende Cuff, ber Dunst ber vielen Humberte Ichwißenber Körper, nie gemalchener Lumpen, der gleichmäßig in allen Sälen, in allen Gängen bes 2inis lagerte. Das hat nun, zu mindestens im Frauenafyl, ein Ende. Jede Wijnfiffin muß täglich vor dem Betreten des Schlaffaales warm baden und alle Kleiber, felbft bas Hemb, sind vorher in der Garderobe abzugeben". Zu hem with noch das Hemd non einer Schwester mit einer hellen elettrischen Rampe auf Einwohner" untersucht. Behe, menn fic etmas finden! Dann fommen die Sachen erbarmungslos in die Brenne". Nur mit einer Halskette und der daran hängenden Garderobenmarke befleidet, fommt man in den Badesaal, in dem ständig zmanzig Badewannen in Betrieb sind. 3wanzig innen weiß emaillierte Babemammen, die nach jedem Bad von zwei aus der Schar der Obdachlosen ausgewählten Badefrauen gesäubert werden. Hier fontrolliert auch eine Schwester das Kopfhaar, der Kamm mird nach jedem Gebrauch ausgemedyjelt und für längere Zeit in eine Desinfektionsflüssigkeit gelegt, so daß niemand mehr die Ueber
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Zement.
Tödliche Nächte gab es einst und Tage voller Kämpfe, in denen er zitterte um sein Leben und an Dascha dachte. In wie weiter Ferne liegt das alles, wie fern, wie unwichtig! Dascha... Ste ist nicht da: fie ist in den Massen ertrunten und ist nicht wiederzufinden. Ist dies alles denn nicht ganz gleichgültig. Dafcha war und ist nicht mehr. Das alles ift fern und unnotwendig. Und auch er ist nicht da, nur eine Und auch er ist nicht da, nur eine nicht zu ertragende Begeisterung ist da, und sein Herz, das zu zerspringen droht von der Gewalt des tobenden Blutes. Ar beiterflaffe, Republit, mächtiger Aufbau des Lebens... Zum Teufel, mir verstehen zu leiden, verstehen aber auch, unfere Kraft zu fühlen und uns zu freuen.
3mischen den Maffen Maschinengetöse und ein fernes Heulen des Windes in den Bergen: die Massen stampfen, und Lieder ertönen, hier, dort, flechten sich durcheinander, greifen ineinander, ohne Worte, ohne Melodie. Tschumalom!"
Ingenieur Kleift stand neben Gljeb, blaß, streng, mit grauem Haar, mit trodenen Augen, die tief in den Höhlen lagen. " Tschumalom, nie in meinem Leben habe ich Aehnliches gefühlt. Man braucht sehr viel Kraft, um das zu ertragen." Gljeb nahm ihn unter den Arm und wußte nicht, wer zitterte: er oder Ingenieur Kleist.
„ German Germanowitsch , uns tann man nicht besiegen, schauen Sie... Das fann man nie vergessen Bir werden Sie jetzt gleich als Helden der Arbeit feiern."
Ingenieur Kleift drehte sich um und ging ans andere Ende der Terraffe. Die Menschenmaffe wogte, floß in melligen Strömen auseinander, drängte sich in dichten Haufen zusammen. Die Fahnen und Plakate flatterten und audten. Lautes Auflachen erfüllte die Luft und Gebrüll, und die Bretter unter Gljebs Füßen zitterten. Die Masse Der Röpfe zerriß, da und dort, stellenweise graue Flede bildend. In trunkener Freude hüpften die Mügen und roten Ropftücher. Ein Tanz unter Händellatschen und ein gellen
tragung von Ungeziefer oder Hautfrankheiten fürchten muß. Wenn nötig, wäscht die Schwester den Kopf mit Sabadilleffig und wickelt einen funstvollen Turban, unter dem bann bis zum nächsten Morgen alle Schmaroger zugrunde gehen und sie hält diese Kur sogar, mie eine alte Asyliftin mißbilligend bemerkte, schon bei„ eener eenzijen Laus" für notwendig! Dann geht es wieder in eine Garderobe, und hier friegt jede ein frisch gewaschenes städtisches Nachthemd und da zu ein Paar Pantoffeln. Die Spitzen ham se an die Reizwäsche aber verjessen...", medert eine unverbesserliche Berliner Pflanze, denn das städtische Nachthemd ist nur ein weiter und langer Kittel aus grauem Leinen, ähnlich den Krankenhausfitteln. Wer aber diese ganze Reinigungsprozedur aus gesundheitlichen Gründen nicht über sich ergehen lassen fann oder will( bei Hautkrankheiten, Rheu. matismus usw.), der kommt in den unreinen Scal", dessen In feffinnen ganz von den Uebrigen abgesondert sind, den einzigen Saal, in dem noch, wie früher, die nackten Britschen stehen. In den anderen Sälen gibts jest auf den Pritschen dicke, täglich neu be= zogene Filzplatten und dazu die beiden, jezt aber täglich frisch ge= waschenen Drelldecken.
„ Große Wäsche."
Morgens und abends bemirtet die Stadt dann noch ihre Notgäfte mit Kaffee oder der üblichen Afplsuppe und einer diden Schuiffe Brot... und so möchte es, scheinen, als ob jetzt wirklich an alles gedacht worden sei. Und doch hat man eins vergessen: An jedem Morgen müssen die Nachtgäste des Ajyls sich wieder in die alten, schmußigen Lumpen hüllen. Es war sicher nicht in Ordnung,
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der Sprechgelang. Man sah, wie Gestein und Kiesel von den Felsen herunterrollten.
Auch Loschat und Gromada find oben auf dem Turm. Boschat ist ganz wie aus Anthrazit: Sein Buckel, sein Gesicht, fein schmutzig- fettiges Käppi. Sein Gesicht ist ebenso düster, stumpf und zerrissen wie in der Fabrikleitung, nur seine blutunterlaufenen Augen werden immer größer. Und Gromada hat sich zusammengefauert, wie im Schüttelfrost, und feine Schultern zittern unter dem Rocke . Sein Gesicht ist gelb, fiebrig, die Badenknochen scharf. Seine Schultern und sein Rüden heben sich bis zu den Ohren, und er zittert und frümmt sich vom heftigen Huften. Teufelsgromada! Welche Kraft hält ihn, wo jogar er, Gljeb, wie ein Stäubchen diesen Laminen gegenüber ist. chen diesen Lawinen gegenüber ift. Und nicht einmal Loschat holt der Teufel: nur die Arbeit wird ihm durch seinen Buckel auf Rüden und Brust schwer.
Run, Brüder?... Wie wir färmen und dröhnen, Kinder!..." Loschat glozte Gljeb mit seinen Stieraugen an und zog sein Käppi auf die Augen. ,, haben's erreicht... was! was!... Haben alles auf eine Starte gefeßt und mit unseren hartnädigen Bäuchen alles durchgesetzt... Das muß gesagt werden... Ihr Dumm.. Das muß gesagt werden... Ihr Dummföpfe Und Gromada fuchtelte mit den Armen, und all seine Knochen zitterten. Ja, so ist es, Genossen... Hier hat man nicht zu ich Wir haben etwas Herrliches erreicht, und ich fann es taum faffen, wie diese Arbeitermassen ihr prole tarisches Bewußtsein beweisen und so und weiter. Genosse Tschumalow... Wenn..ach, Genossen... hier ist alles und überall... und so und weiter .
diskutieren
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Gljeb fonnte nicht mehr ruhig stehen; er hatte Luft, vom Turm hinunterzuspringen in dieses Meer von Köpfen, au brüllen, laut, aus vollem Halse, ohne Worte, bis zur Bewußtlosigkeit... Alles ist gleichgültig Kann man denn das alles aushalten?... Da ist es, womit und wo durd) er all diese Monate gelebt hatte... Hier find fie, hier ist alles in einer Kraft vereint.
Er trat zu Badjin und Schidkij, sein Gesicht zitterte vor Begeisterung.
Badjin fah ihn mit falten Augen an. Eine schwarze Belle ging wie ein Schatten durch seine Augen und glitt wie ein Schleier vorbei.
Sonnabend, 21. Januar 1928
wenn die Frauen früher gleich in der Badewanne große Wäsche" hielten, aber wo in aller Welf sollten diese armen Teufel denn ihr oft einziges Hemd reinigen, wenn sie den ganzen Tag auf der Straße lagen? Darum wurde allabendlich geschrubbt und gebürstet, bis zum Morgen war dann alles auf den Dampfheizungen wieder trocken, und ganz ordentliche Frauen„ bügelien" an den heißen Eden der Dampfheizung auch die Sachen richtig glatt. Wo soll man heute maschen? Das gibts heute nicht mehr, die Wascherei hat jegt aufgehört!", erklärt eine der Schwestern, Sie sind ja den ganzen Tag wo anders, wafchen Sie doch da!" Auf die bescheidene Anfrage, ob sie mit dem da" den Straßenbrunnen oder das Tageskino meini, fann sie aber nicht antworten..
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Wenn auf die Interpellation der Sozialdemokratischen Partei ein neuer, wirtlich schöner Badesaal eingerichtet wurde, wenn nun alle anderen, in unserem ersten Artikel gerügten Mißstände behoben sind, dann genügt vielleicht schon dieser fleine Hinweis, um die Anschaffung einiger Waschgefäße zu veranlassen, und vielleicht läßt sich sogar ohne weitere Ausgaben der alte Baderaum als Waschraum einrichten. Dann endlich wird die Wiesenburg" ihren neuen Aufgaben restlos gerecht werden können, denn die Zeit, in der die Obdachlosenajyle mur Zuflucht des letzten Lumpenproletariats waren, ist endgültig vorbei.
Bersuchter Mord."
Ein unnötiger Prozeß.
Auf der Anklagebant fißt ein 21jähriger Joden, ein Wiener , mit sympathischen, feingeschnittenen Zügen. Er soll sich wegen Mordversuches verantworten. Man hört, wie er in seinem Wiener Dialekt erzählt und wie die Zeugen, seine deutschen und ungarischen Stollegen aussagen. Man staunt von Minute zu Minute mehr. Auch die Richter, die Schöffen, der Staatsanwalt staunen. Was der Mann getan hat, soll versuchter Mord sein?...
Es war an einem Freitag, den 9. Dezember. Der Jockey P. hatte seinen ganzen Wochenlohn vertrunken. Nachts tam er, sich faum auf den Beinen haltend, in die gemeinsame Schlafftube. Sein Freund, der Ungar Juschta, half ihm das Gas anzünden. B. setzte sich an den Tisch, bewaffnete sich mit einem Küchenmesser, dessen Ende rund war und begann zu essen. Dabei sprach er unaufhörlich und beklagte sich u. a. bei seinem Freund, daß die Braut des Jockeys R. ihn bei seiner Braut schlecht gemacht habe. Plötzlich sprang er auf, lief an das Bett des schlafenben R, heran, padie ihn am Hemd, sagte so etwas ähnliches wie Gurget abschneiden" und machte eine brohende Bewegung mit dem Messer. Im nächsten Augenblic riß ihn Juschta zurück. R., der sich bei der abmehrenden Bewegung am Messer die Handfläche verletzt hatte, zog eiligft seine Hosen an und lief zur Tür hinaus, um einen Schuhmann zu holen. Er glaubte, daß P. ihn ermorden wollte. Juschka ham aber hinterbergelaufen, und versuchte ihn zu beruhigen: B. schlafe schon, es fei doch nichts Ernstes gewesen. R.'s Hand war bald verheilt. B. mußte aber ins Gefängnis. Dies in furzen Worten der Sachverhalt. Und das sollte ein versuchter Mord sein? So, so stand es fchwarz auf weiß im Eröffnungsbeschluß. Bie tonnte aber aus einer leichten Rörperverlegung ein verfuchter Morb werden? Daa ist die Frage! Und wie lautet die Antwort darauf? B. batte fi zunächst unmittelbar nach dem Ereignis vor dem Einzelrichter in Lichtenberg megen Körperverlegung zu verantworten Geladen war aber nur der Geschädigte. Dieser stellte die Sache io bar, daß man bei einigem bösen Willen so etwas ähnliches mie einen verfugten Mord annehmen fönnte. Darauf beantragte der misanwalt Bertagung und lebermittlung der Sache an das Schwurgericht" mit dem Rubrum: Bersuchter Mord. Das Schwurgericht" perurteilte aber ben Angeklagten wegen Rörperverlegtung zu zwei Monaten Gefängnis unter Anrechnung eines Monats Untersuchungshaft und Zubilligung einer Bewährungsfrist.
Wer trägt nun die Kosten des Verfahrens? Natürlich der Angeflagie. Wäre es nicht richtiger, die Kosten des Schwurgerichtsperfahrens" dem fahrlässigen Amtsanwalt aufzuerlegen. Sollte dieser nicht auch die Kosten tragen, die dem Staat durch die Untersuchungshoft des Angeklagten entstanden sind. Die Gerichte haben scheinbar noch zu wenig zu tun. Und deshalb werden Mordversuche ton ftruiert,
,, Wir müffen anfangen, Genosse Tschumalow. Ich werde jetzt eine Viertelstunde reden und dann sag du etwas, das fie ans Herz pact. Und dann gib sofort ein Beichen. Die Begrüßungen nach den Sirenen- und Pfeifenfignalen." Schidtij pacte Gljeb an der Schulter und schüttelte ihn truntener Freude. ,, Ach, Tschumalytsch
in
Bist ein dummer Ker!! Es fällt mir schwer, mich von dir zu trennen Badjin wandte sich. falt und verschlossen ab und trat zur Barriere. Und Gljeb fühlte wieder in Badjins ehernem Gange und dem metallischen Glanze seiner Haut eine grausame Entfremdung und in dem gläfernen Glanze feiner Augen ein mattes Flimmern eines Haffes. Und wieder erzitterte sein Herz von einem dumpfen Stoß.
Er trat einige Schritte nach rückwärts. Unten auf der und zwischen ihnen dröhnte Mufit, Gestampf und Gesang, Landstraße gingen noch immer dichte Kolonnen mit Fahnen, die Luft erschütternd.
Das ist ein Mensch, mit dem er nicht auf derselben Erde stehen kann. Badjin steht allein, stüßt sich mit den Händen auf die Barriere, und feine Schultern heben sich hoch bis zum Nacken. Er sieht auf die Maffen hinunter, auf den Berg, der zu leben scheint von all den Massen, und in den elastischen Bewegungen feiner Muskeln, die von Kraft und Gesundheit durchtränkt sind, in der wachsamen Haltung feines Ropfes, in der Nachlässigkeit seines Sich- Absonderns -ist ein Bewußtsein seiner Kraft, feiner Bedeutung- ist der Stolz des Führers. ,, Karrierist!
Gljeb preßte die Zähne bis zum Krachen der Kiefer fest aufeinander.
Noch jetzt zitterte alles in ihm von dem, was er im Sowjethause erlebt hatte.
Nicht lange nachdem Dascha weggegangen war, ist er im Borbeigehen zu ihr gegangen, um zu sehen, wie sie und Bolja lebten. Im Gang war eine fingende Leere und ein schläfriges Halbdunkel( auf der Treppe über der Tür schlug die Uhr elf Uhr nachts). Halblaut und gemütlich tönten die Stimmen in den Zimmern. Irgendwo in der Ferne flirrte Teegeschirr und fangen Spiritusmaschinen. Am Ende des Ganges brannte trübe ein Quadrat auf der Wand, das war die Tür von Tschibis Zimmer, die breit offen stand.
( Fortfehung folgt.)