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Nr. 79» 45. Jahrgang

1. Beilage des Vorwärts

Donnerstag. 46. Kebruar4928

Krantz-Prozeß bis Sonnabend vertagt. Die Zwischenfälle, die zur Vertagung führten. Der neue Verteidiger Dr. Arthur Schulz.

Die Verhandlung im Krantz-Prozeß ist bis Sonnabend ausgesetzt. Diese Frist hat dos Gericht dem von ihm bestellten Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Schultz zur Bewältigung des Prozeßstoffes gewährt. Sollte sie nicht genügen, so kann der Prozeß am Sonnabend auf weitere drei Tage ausgesetzt wer- den. Strafprozessual ist hier einwandfrei verfahren worden. Wird aber der Angeklagte imstande und gewillt sein, seinem neuen Verteidiger die Seelenvorgäng« nahe zu bringen, die ihn zum Akteur im blutigen Drama am 28. Juni 1927 ge- inacht haben? Wird der Verteidiger in der Lage sein, durch Studium der Akten und der Prozeßberichte seinen Pflichten in einem psychologisch so komplizierten Falle gerecht zu wer- den? Beide Fragen müssen rund verneint werden. Wäre aber der letzte Zusammenstoß zwischen Vorsitzen- den und Verteidiger nicht zu vermeiden gewesen? Wäre die Niederlegung der Verteidigung nicht zu umgehen gewesen? Sie vollzog sich gerade im Augenblick, als das Sachper- ständigengutachten des llniversitätsprofefsors Spranger im Gerichtssaäl so etwas wie die Stimmung einer pädagogischen Konferenz in einem modernen Erziehungsinstitut geschaffen hatte. Der Zusammenstoß hätte bei einigem guten Willen, wenn auch nicht vermieden werden können, so doch nicht dort- hin zu führen brauchen, wohin er geführt hat. Dr. Frey zeigte in diesem Prozeß im Gegensatz zu dem. was man sonst bei ihm gewohnt ist, eine Nervosität und Gereiztheit, die über das übliche Maß weit hinausgingen. Sollte dieser Umstand bei der Niederlegung der Verteidigung mit eine Rolle gespielt haben? Es wurde im Gerichtssaal die Vermutung ausge- sprachen, der Verteidiger habe den Konflikt absichtlich auf die Spitze getrieben, weil er die Objektivität und Vorurteils- losigkeit dieses Gerichtshofes angezweifelt habe. Wir glauben daran nicht! Höchstens daß man der Ueberzeugung sein sollte, daß eine Neuauflage des Prozesses für den Ange- klagten zu einem günstigeren Ergebnis führen würde. Oder sollte jemandem die Möglichkeit einer völligen Nieder- schlagung des Verfahrens vorschweben? Man nannte den Fall Gerth. Auch in jener Gerichts- Verhandlung hatte Dr. Frey die Verteidigung niedergelegt. Damals war seine Taktik von Erfolg gekrönt; Gerth kam ins Irrenhaus zur Untersuchung seines Geisteszustandes und wurde später auf Grund des§ S1 freigesprochen. Der Fall Krantz liegt anders. Die Anklage wegen Mordes ist aus­geschieden, die Anklage wegen Verabredung zum Morde an der Hilde Scheller ist nach den Gutachten der psychiatrischen Sachverständige nicht mehr aufrechtKierhalten. Bleibt der gemeinschaftliche Totschlag! Eine hohe Gefängnisstrafe wäre in diesem Falle eine Unmöglichkeit gewesen, eine geringe Gefängnisstrafe hätte der Verurteilte aber nicht abzusitzen brauchen. Das Abiturium und das Studium hätte man ihm möglich gemacht. Die Sache wäre aber ein für alle Male erledigt. Wird aber die Gerichtsverhandlung auf unbestimmte Zeit ausgesetzt, so bleibt das Damoklesschwert des Prozesies über dem Angeklagten hängen. Wie aber Paul Krantz «in- mal geartet ist, wäre das für seinen psychischen Zustand

verheerend. Der Prozeß hätte zu Ende geführt werden sollen; die Niederlegung der Verteidigung hätte vermieden werden können! Die öffentliche Meinung ist der Ansicht, daß der Prozeß überhaupt nicht hätte ge- führt werden dürfen. * Im Laufe der Aussagen des Sachverständigen. Strasanstalts- lehrers S e e m a n n, der auf eine Frage des Verteidigers Dr. Frey antwortet, ereignet sich jener Zwischenfall, der zu der bereits im Abendblatt geschilderten Niederlegung der Verteidigung führt. Der Vorsitzende unterbrach R.-A. Dr. Frey mtt den Worten, daß ein« bestimmte Frage wohl nicht zur Sache gehöre. R.�l. Dr. F r e y (sehr erregt): Ich verbitte mir diese wiederholten Unterbrechungen. Ich habe das Recht zu fragen und bitte widrigenfalls meine Frage nur zu beanstande ti. Vors.: Ich mache Sie wieder darauf aufmerk- sam, daß Sie einen Ton anzuschlagen belieben, wie er sonst hier nicht üblich ist. R.-A. Dr. Frey(noch heftiger): Und ich sage, daß Ihr Betragen einem Verteidiger gegenüber nicht üblich ist. Vors.: Sie werden noch ungehöriger. R.-A. Dr. F r e y: Ich verbitte mir das Wort ungehörig. Vors.: Dann müssen wir uns darüber schlüssig werden, ob ich Ihnen nicht das Wort entziehen soll. Unter allge- meiner Erregung im Saale zog sich das Gericht dann zur Beratung zurück und d�r Borsitzende verkündete dann: Das Gericht läßt die Frage als nicht zur Sache gehörig nicht zu. Gleichzeitig bin ich ermächtigt worden zn erklären, daß der gesamte Gerichtshof empört ist über den Ton. der hier dem Gericht gegenüber vom Verteidiger angeschlagen worden ist.

Zwei MUscbOler Krantz' als Zeugen

R.-A. Dr. Frey: Diese Erklärung ist unzulässig. Sie wollten mir dos Wort entziehen. Hat sich dos Gericht darüber schlüssig gemacht? Vors.: Das wird es zu geeigneter Zeit tun. R.-A. Dr. Frey: Dann muß ich mir vorbehalten, zu prüfen, ob ich unter den gegen-. wärtigen Umständen die Verteidigung weiterzuführen in der Lage bin. Weitere Sachverständigengutachien. Nach diesem Zusammenstoß wandte sich die Verhandlung wieder der Vernehmung des Lehrers zu. R.-A. Dr. Frey: Nach Ihrer Aussoge haben Sie die Drinks estigtett des Krantz für Renommage gehalten. Im Anschluß daran ging der Vorsitzende zur Der- nehmung des Sachverständigen, des Medizinalrats Frerherrn v. Mahrenholtz, über. Dr. o. M a h r e n h o l tz: Ich möchte vorweg bemerken, daß im allgemeinen Zweifel nicht geäußert wurden. ob der Z S1 in Frage komme und Krantz ein psychopathischer Mensch ist. Drei Punkte sind hierfür beachtlich: Krantz ist ein Phantast, er kommt leicht aus der Bahn und litt an Deprefsionszuftänden. Der Phantast ist durch sein« Gedichte klar erwiesen. Die Deprefsionszu- stände sind emmal hervorgerufen durch Umstände sexueller Natur. Er zeigte eine gesteigerte Sexualität, aber nicht das, was seine Ge- noffen darunter verstanden, und das führte ihn zu Depressionen. Krantz war sicherlich ein Mensch in sexueller Beziehung, der aggressiv war, und als er das erste derartige Erlebnis mit Hilde Scheller hatte, machte es einen kolossalen nachdrücklichen Eindruck aus ihn. Dazu kamen noch häusliche Verhältnisse, und alles zustimmen bedrückte den Jungen. Die Atmosphäre in Mahlow war ein feuchter Sumpforl, durch den er erklärlicherweise in Fieberzustond versetzt wurde. Da­durch wurde er zum Schlechten verleitet und veränderte sich in seinem Wesen. Was seinen Alkoholgemiß anlangt, so kann man nach seinen eigenen Angaben sagen, daß er allerhand getrunken hat. Jedenfalls war er nicht alkoholungewohnt. Auf ihn dürste der größte Teil der in der kritischen Nacht konsumierten Flaschen, etwa Ist- Flaschen Obstwein und des getrunkenen Likörs tominen. Der nächst« Sachverständig«, Professor C r« m e r, stützte sich auf zwei Untersuchungen des Krantz im Untersuchungsgefängnis. Prof. Crame r: Krantz ist ein schwächlicher, zart gebauter junger Mann mit Anzeichen von Uebererregbarkeit»md neuropathischer Konstitution Seiide Psyche zeigt Weichheit, lleberempfindlichkeit. Sensibilität. Auch weist er Willensschwäche und Bccinslußbarkeit auf. Er besitzt schließ- lich auch eine rege Phantasietätigkeit, die eine Wirktichkeitsfremdheit besitzt. Er erlobt alles mehr in der Phantasie als in der Wirklichkeit. Damit ist verbunden seine Pose zur Renomm isterei> aus dieser Diskrepanz zwischen Phantasie und körperlicher Leistung entsteht die Disharmonie seiner Persönlichkeit. Bei solchen Menschen ist ein Fortlaufen aus dem Elternhause nichts besonderes und sehr bedenk- liches. Ebenso ist ine Auflehnung gegen Autoritäten etwas für sein Alter C-Harakteristrsches,«Ine Erscheimmg, die kaum etwas Unge- wohnliches darstellt. Die Pubertät trat ziemlich früh ein, und hier- bei kam es zu Hemmungen. Seine Toleranz gegen Alkohol war nicht gerade schlecht, aber ich möchte doch darauf hinweisen, daß bei kleinen Mengen er heiter, bei größeren melancholisch wurde. Manche Leute kommen ja bekanntlich beim Trinken ins heulende Elend hin- ein. Zur Charakterisierung seines Zustandes in dem fraglichen Zeit- punkt möchte ich bemerken, daß das sexuelle Erlebnis für ihn recht eindrucksvoll gewesen ist und sein Selbstgefühl etwas gehoben hat. Daher kann nian sich vorstellen, was die nächste Nacht ihm für eine starke Enttäuschung bei seiner Sensibilität brachte. Aus dieser Stim- mung heraus kam es zu dem Wunsche, sich durch starken Alkoholgenuß

Menschen, Göttern gleich... 20) Roman von Herbert George Wells . Einige irdische Kritiken. t. Während dieses denkwürdigen Nachmittags und Abends schien es Mr. Barnstaple, als sei er an nichts Bemerkens- werterem beteiligt, als an einem außergewöhnlichen Dialog über Regierungsform und Geschichte, einem Dialog, der sich auf irgendeine unerklärliche Weise abspielte; es war so. als ob sich dies alles nur in seiner Vorstellung ereignete; dann ober überkam ihn wieder die volle Lebendigkeit seines Aden- teuers mit überwältigender Macht und sein geistiges Jnter- esse wurde durch die erstaunliche Seltsamkeit seiner Lage völlig abgelenkt. In diesem Zustand ertappte er sich dabei, wie sein Blick von einem Gesicht zum anderen der ihn um- gebenden Utopen schweifte, eine Zeitlang auf irgendeinem auserlesenen Detail der Gebäudearchitektur verweilte und dann wieder zu jenen göttlich begnadeten Gestalten zurück- kehrte. Dann wandte er sich wieder ungläubig seinen Erd- genossen zu. Nur die engelgleichen Gesichter eines italienischen Meisters waren so rein, ernst und schön wie diese utopischen Gesichter. Eine Frau sah der Delphischen Sybille Michelan- gelos merkwürdig ähnlich. Sie saßen, Männer und Frauen zusammen, in ungezwungener Haltung da, die meisten von ihnen auf die Diskussion konzentriert, und dann und wann begegnete Mr. Barnstaple dem forschenden Blick eines freund- lichen Augenpaares oder fand, wie mancher Utope die Klei- dung Lady Stellas oder das Augenglas von Mr. Mush auf- merksam betrachtete. Mr. Barnstaple hatte zuerst den Eindruck gehabt, als ob die Utopen lauter junge Leute wären: nun bemerkte er, daß aus vielen dieser Gesichter eine gereifte Festigkeit sprach. Keines zeigte die ausgeprägten Merkmale des Alters, wie sie unsere West eingräbt, aber Urthrcd und Lion hatten beide um Augen, Lippen und Brauen Linien von Lebenserfahrung. Der Eindruck, den diese Leute auf Mr. Bornstaple machten, rief bei ihm in seltsamster Weise ein Gemisch von Vertrautheit und Ueberraschung hervor. Er hatte das Ge- fühl, daß ihm die Existenz einer solchen Nage schon immer

bekannt gewesen sei und daß ihm dieses Wissen in tausend Fällen den unbedingten Maßstab für die Beurteilung mensch- licher Dinge geliefert hatte; gleichzeitig aber war er aufs äußerste erstaunt und konnte es nicht glauben, daß er sich in der gleichen Welt mit solchen Wesen befand. Sie waren zu- gleich normal und doch wunderbar im Vergleich zu ihm selbst und zu seinen Gefährten, die ihrerseits Verschrobenheit und vollkommene Nüchternheit in sich oereinten. Und zugleich mit dem heftigen Wunsch, sich mit diesen feinen und wohlgestalteten Wesen anzufreunden uich mit ihnen vertraut zu werden, sich ihnen hinzugeben und sich mit ihnen durch Dienste und Gegendienste zu verbinden, empfand er Scheu und Furcht, die ihn vor einer Annäherung zurück- schrecken und ihn vor einer Berührung erbeben ließ. Er wünschte so sehr ihre persönliche Anerkennung als Freund und Genossen, daß ihn das Bewußtsein seiner eigenen Plump- heit und Nichtigkeit ganz niedergeschlagen machte. Er hatte das Bedürfnis, sich vor ihnen zu beugen. Hinter allem Glanz und der Lieblichkeit seiner Umgebung lauerte die unerträg- liche Drohung, schließlich aus dieser Welt verstoßen zu werden. Mr. Barnstaple hatte einen so ganz starken Eindruck von den Utopen und gab sich so ganz der Freude über ihre Anmut und körperliche Schönheit hin, daß er eine Zeit lang gar nicht bemerkte, wie verschieden von ihm mehrere seiner Erd- genossen darauf reagierten. Da die Utopen nichts von der Verschrobenheit, der Lächerlichkeit und der Grausamkeit des gewöhnlichen irdischen Lebens an sich hatten, war Barnstaple entschlossen, ihre Einrichtungen und Lebensweise ganz ohne Kritik gutzuheißen. Pater Amertons Benehmen war es, das ihn zuerst dar- auf aufmerksam machte, es könnte jemand die Lebensweise dieses wunderollen Voltes schärfstens mißbilligen und ihm gegenüber eine sehr beträchtliche Feindschaft an den Tag legen. Zuerst hatten Pater Amcrton-i rundes Gesicht und seine runden Augen über dem runden Kragen einen ver- wunderten Ausdruck angenommen: er hatte sich geneigt ge- zeigt, die Führung irgend jemandem, der sie ergreifen würde, zu uberlassen, und hatte kein Wort gesprochen, bis ihn die nackte Schönheit der toten Chrysolagone zu einem über- raschten Ausruf unkirchlicher Begeisterung veranlaßt hatte. Aber während der Reise nach dem See, während des Mahls und der Eröffnungsoorbereitungcn für die Versammlung zeigte sich eine Reaktion, und jenes erste naive und achtungs- volle Staunen wich einer widerspenstigen und feindlichen Haltung. Es war, als ob dieses Utopien, das als ein Schau­

stück angefangen hatte, nun die Verkörperung einer Welt- anschauung geworden sei, die er, wie er fühlte, entweder annehmen oder widerlegen müsse. Vielleicht war er zu sehr in den Gewohnheiten eines öffentlichen Sittenrichters be- fangen und konnte sich nicht eher wohl fühlen, bevor er nicht verdammt hatte. Vielleicht war er wirklich durch die eindrucks- volle Nacktheit dieser lieblichen Köroer, die ihm umgaben, ent- rüstet und bedrängt. Aber nun sing er an, wunderlich zu stöhnen, zu husten, in sich hinein zu murmeln und eine wachsende Unruhe zu verraten. Zum erstenmal ließ er sich zu einem Zwischenruf hin- reißen, als die Bevölkerungsfrage aufgerollt wurde. Für eine kurze Weile überwog die Vernunft feine Gemüts- erregung, als von dem Propheten des Rades die Rede war, aber dann gaben die angehäuften Vorurteile den Ausschlag. Ich muß es aussprechen/ hörte ihn Mr. Barnstaple murmeln,er muß heraus'/ Jetzt begann er plötzlich Fragen zu stellen. :,Es gibt gewisse Dinge, die ich klargestellt haben möchte/ sagte er,ich möchte wissen, in was für einem sittlichen Zu- stand sich dieses sogenannte Utopien befindet. Verzeihen Sie!" Er erhob sich. Er stand mit zitternden Händen da. einen Augenblick unfähig, zu beginnen. Dann ging er zum Ende der Sitzreihen und stellte sich so, daß er die Hände auf die Lohne eines Sessels stützen konnte. Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und schien tief Atem zu holen. In seinem Gesicht, das errötete und zu strahlen begann, erschien eine ungewohnte Lebhaftigkeit. In Mr. Barnstaple stieg ein fürchterlicher Verdacht auf: genau so mußte er in der Kirche von St. Barnabas im Westen dastehen, wenn er eine seiner wöchentlichen Predigten, jener unerschrockenen Anklagen gegen nahezu alles und jedes begann. Der Verdacht vertiefte sich zur noch viel schrecklicheren Gewißheit. Freunde, Brüder dieser neuen Welt ich habe euch gewisse Dinge zu sagen, die auszusprechen ich nicht langer zögern kann. Ich möchte als Seelsorger einige Fragen an euch richten. Ich mächte euch ohne Umschweife, und wie ein Mann zum Manne, etwas vortragen, ohne zimperlich zu sein. wenn es sich um ernste, wenn auch heikle Dinge handelt. Laßt mich ohne weitere Vorrede zu dem kommen, was ich zu sagen habe. Ich möchte euch fragen, ob ihr in diesem sogenannten Staate Utopien noch das Heiligste im menschlichen Lebeil bc- sitzt, achtet und ehrt. Achtet ihr noch die Bande der Ehe?" (Fortjetzung folgt.)