Nr. 103 45. Jahrgang

3. Beilage des Vorwärts

Der Bauer in falscher Front!

Ganierungsdebatte im Reichstage- Gozialdemokratie und Landwirtschaft.

Der Reichstag beriet gestern in zweiter Lesung über den Haushalt des Reichsministeriums für Ernährung und Land wirtschaft.

Reichsernährungsminister Schiele: Die im Notprogramm der Regierung vorgesehene Umschuldungsaktion fönne den Landwirten nur hinweghelfen über die Zeit bis zur nächsten Ernte. Eine dauernde Hilfe fönne sie nicht bringen, die fönne nur bewirkt werden dadurch, daß durch wirtschaftspolitische Maß­nahmen die Landwirtschaft wieder rentabel gemacht wird. Die jaywierige Betriebslage der Landwirtschaft wird wesentlich verschärft durch die Verhältnisse auf dem Viehmarkt. Die Schweinepreise der letzten Monate liegen 20 Proz. unter den Erzeugungskosten. Dadurch werden gerade die Kleinbauern und Landarbeiter am schwersten getroffen. Unter diesen Umständen bedeutet es geradezu eine Großtat der Landwirtschaft, wenn sie dennoch den Viehbestand auf das Maß der Borkriegszeit gebracht hat. Das Ziel der Eigen persorgung mit frischem Fleisch in Deutschland ist im wesentlichen erreicht.

Der Fleischverbrauch auf den Kopf der Bevölkerung hat im letzten Jahre mit 52,42 kilogramm den Verbrauch der Bor­triegszeit überschritten.

Die sozialpolitische Not hinsichtlich der Fleischversorgung ist also vor­über. Wollen wir die Existenz unseres Nährstandes nicht noch weiter gefährden, so müssen wir die Einfuhr an Fleisch und Lebendschlachtpieh möglichst eindämmen. Die Re­gierung beabsichtigt in ihrem Notprogramm eine tatenweise herab­fehung des zollfreien Gefrierfleischkontingents und die Ausdehnung

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ZEIT 1872

des Einfuhrscheinsystems auf die Ausfuhr von Schweinen und Schweinefleisch. Der Einführung von Viehseuchen aus dem Aus­land soll durch eine gleichmäßige Handhabung der veterinärpolizei­lichen Grenzsperren und durch eine Aufhebung der bis­herigen Einfuhrerleichterungen vorgebeugt werden. ( hört, hört! links.) Für eine bessere Organisation der Marktver­hältnisse für Vieh und Fleisch ist ein Betrag von 22 Millionen als Reichsbürgschaft vorgesehen und weiter ein Betrag von 8 Millionen, der im Ernährungsetat für 1928 angefordert werden soll.

Erreicht werden soll eine Stabilisierung der Biehpreise und eine Verminderung der Preisspanne zwischen Erzeuger und Ber­

braucher.

Der Rentenbankfreditanstalt soll die Finanzierung der landwirt schaftlichen Produktion erleichtert werden. Zu dem gleichen Zwed sollen 25 Millionen den Genossenschaften zur Verfügung gestellt werden. Als Notfonds für die schleunige Durchführung der vor­gesehenen Hilfsmaßnahmen sind 30 Millionen vorgesehen.

Bei der Berwendung der Mittel foll ein Beirat aus Mitgliedern des Reichstags und des Reichsrats herangezogen werden. Die Nachkriegsverschuldung der Landwirtschaft hat bis Herbst 1927 die erschreckende Höhe von 7 Milliarden erreicht, die Zinsenlaft ist auf rund eine Milliarde jährlich ange wachsen. Die nächste und drängendste Aufgabe ist die Umwandlung der drückenden hochverzinslichen Schulden in langfristige Realkredite. Zur Durchführung dieser Umschuldung wird die Regierung den | territorialen Kreditinstituten Kassenvorschüsse von au­

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Donnerstag, 1. März 1928

nächst 100 Millionen gewähren. Das vorgesehene Hilfs= programm wird die gegenwärtige landwirtschaftliche Krise nicht be­feitigen, sondern nur mildern können.

Die gewaltige Einfuhr an ausländischen Nahrungsmitteln muß herabgesetzt werden.

Bon den 4 Milliarden, die im letzten Jahre für ein­geführte ausländische Nahrungsmittel ausgegeben wurden, tönn= ten 3 Milliarden der inländischen Erzeugung zugeführt werden. Boraussetzung dafür ist, daß unserer Landwirtschaft durch eine planmäßige Handelspolitif die unbedingt erforderliche Sicherheit und der nötige Rückhalt ge= geben wird. An die Stelle der bisherigen Rotstandsmaßnahmen auf dem Gebiete der Erwerbslosigkeit muß die produktive Lösung treten, daß wir durch eine planmäßige Hebung unserer Landwirt­schaft neue Nahrungen und neue Arbeitsstellen dauernder Art schaffen. Der notwendigen Selbsthilfe der Landwirtschaft soll von Reich und Ländern eine gewisse Hilfsstellung gewährt werden. Jn den vorliegenden Etat haben wir eine Million zur Förderung der Geflügelhaltung und Organisation des Eierabsatzes eingestellt. Zur erfolgreichen Gestaltung unserer Zukunft gibt es nur den Weg über eine wiedergefundende deutsche Landwirtschaft.( Beifall, rechts.).

Abg. Tempel( Soz.):

Die Erflärungen des Landwirtschaftsministers werden voraus­sichtlich gerade einen großen Teil der Landwirtschaft selber start ent= täuscht haben, vor allem die bäuerlichen Wirtschaften.( Sehr richtig! bei den Soz.) Was der Minister angekündigt hat, sind im Grunde genommen die alten Rezepte, bei denen eine weitere Berteue­rung, eine weitere Berengung der Kaufkraft der breiten Massen her­auskommen wird. Auch wir erkennen an, daß die Landwirtschaft sich in einer allgemeinen Krise befindet. Das ist ein Teil der Welt­agrartrise. Die größte Partei des Deutschen Reiches, die deutsche Sozialdemokratie, hat diese Dinge seit langem verfolgt, meil sie nicht eine einseitige Bertretung von Verbraucherinteressen ist, nicht schlecht­

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