I?r.-121- 45. Jahrgang Sonntag- i.i. März 1928
Es gibt in Berlin noch andere Dmge als Rolltreppen und Filmpaläfte. Es gibt noch andere Dinge als Tischtelephone in Tan�sälen. Da schlenderte man neulich durch Britz . Zwischen einem Neubau und einem eseuumronkten Häuschen liegt ein kleiner Plrtz.' find auf dem Bretterzaun, der diesen Platz von der Straß« abschließt, waren mit schwarzer Tusche große Buchstoben gemalt: „Achtung! Heute abend 8 Uhr große Vorstellung. Auftreten des berühmten Turmseilkünstlers." Das Theater der Vorstadtartisten. KleW Handzettel hingen da und ein schönes buntes Plakat. Ein Plakat, auf dem ein unangenehm schöner Mann abgebildet war, der halsbrecherische Kunststücke vollführte. Blickte man durch die Zaunritze, so sah man auf dem Platz zwei kleine weiße Wogen; vor den Wagen stand ein Tisch, aus dem sich eine blankgeputzte Trompete und eine große Maggibüchse befanden. Dann waren da'noch zwei hohe Stangen« die durch ein Tau miteinander verbunden waren. Dieses merkwürdige Gestell war das Turmsekl. Abends um acht ging ich natürlich hin. Biel Volk stand vorm Zaun. Halbwüchsige standen herum, Frauen in Umschlagetüchern Und viele, viele Kinder. Auf dem Platz hatten die Artisten Bänke aufgeschlagen, d. h. sie hatten Holzpslöcke in die Erde getrieben und handbreite Bretter dargufgelegt. Man mußte einen Kinder- popo haben, um auf diesen Bänken sitzen.zu können. Die Karbidlampeu wurden entzündet. Alles brüllte Ah und Oh. Es war ein weihevoller Augenblick. Dann kam ein Mann im Matrosenanzug, er ging furchtlos unter dem Turm seil hindurch und wandte sich an die Leute, die vorm Eingang standen..Kommen Sir nur herein, meine Herrsttasten. wir bieten Zhnen ganz große Artistik. Wir zeigen Ihnen sogar drei Probenummcrn, und dann erst brauchen Sie zu bezahlen. Ich Hofs«, niemand wird unsere Vorstellung unbefriedigt verlassen." Das war die Fansare: Ein Drängen Hub an, Kinder stürzten sich aus die Bänke, Erwachsene schlichen zaghaft herbci, und zwei Betrunkene stellten sich dicht vor die Karbidlampen. Man vermutete, sie würden jeden Augen- blick Overngucker ans der Tasche nehyien.■'./ Plötzlich ging ein zerfranster �Vorhang auseinander, zw?: Männer und ein Junge erschienen. Sie«erbcflgten sich artig und spielten mit Pauke, Trommel und Trompete ein ichönes Lied. Di? Karbidlampeu zischten, die Betrunkenen sagten Bravo , und die kleinen Kinder klatschten in die Hände. Hohe Gymnastik. Nim begannen die Probenummern der hohen Gymnastik, wie der Manager sagte. Em kleiner Junge mit einem blonden Wuichelkopf kletterte an einem Most hoch und vollführte dort oben Ä u n st st ü ck c. Er psiss ein bißchen, um sich die Angst zu ver- treiben. Er stand Kops, drehte die Bouchwolle. Die beiden Be- trunken�-a b.tonten mit lauter Stimme, daß aus dem Jungen noch
viel werden könne.„Der muß in den wmterjarlen!" Und das wiederholten sie immer wieder, mit der tiefen Erkenntnis und dem Eigensinn der Betrunkenen. Niemand hätte sich gewundert, wenn mit einem Male ein sehr schönes Auto vorgefahren wäre und den armen, blasien Proletarierjungen, der da oben hcrumturme, abgeholt hätte. Es kam aber kein Auto, kein Mann mit einem fetten Kontrakt in der Tasche, es kam nur ein Schutzpolizist, der im Wohnwagen verschwand, um sich die P a p i c r e der Artisten zeigen zu lassen. Eine Weile war olles still. Dann hörte man die schletende Stimme einer Frau, und drei Kinder wirbelten in die Arena. Ein kle-nes, braungebranntes Mädchen besond sich darunter. Es hotte«ine große weiße Schleife im Haar, drehte sich in den Hüften wie eine ersolggewöhnte Primaballerina und warf Kußhändchdn. Diese drei Kinder turnte» auf einem Erwachsenen herum, sie standen Kopf, sprangen wie Gummibällc umher. Dem kleinen Mädchen rutschten die lila Schlüpfer unter dem Röckchen hervor. Und die Mutter stand dahinter und zupfte dos Kleid der Kleinen zurecht. Nun aber kam etwas sehr Trauriges.„Meine Damen und Herren. Ich führe Ihnen jetzt meinen dressierten kaukasischen Hengst vor. Während dieser Vorführung wird das Eintrittsgeld erhoben werden. Ich hoffe, daß jeder sein Scherflein dazu beikragen wird. um eine a nue Artislensamlllc zu unlerstühea." So sagte der Meister, aber da ging ein Ruck durch die Zuschauer, durch all die Erwachsenen: Sie machten kehrt und eilten dem Ausgang zu. Der Artzst ward ganz blaß. Er ballt« die Fäuste und rief:„No, was soll des soi? Das is aber» scheener Zuch. Wie dädsn eich g'falle, wenn ihr
umsuust arbeede stilU?" Der Mann schluckte und schluckte. Dann wandte er sich zu seinem Pferdchen:„Bolly, gib Kuß . Bist doch der beste." Und Bolly gab diesem armen, hungrigen Artisten einen Kuß. Aber auchKtndersindbarmherzigl Ihre kleinen rotgefrorenen Fäuste, die die 1ü Pfennig umklammerten, öffneten sich, und fröhlich hüpft das Geld in den Blechteller. Eine dürstige Abrechnung. Ganz schnell rechnete man. Vierzig Kinder ö lö Pfennig, sechs Erwachsene s Zfl Pfennig, eine Mark Trinkgeld, das macht zusammen S Mark und 80 psenuig. Von diesem Geld müssen Platz und Steuer bezahlt werden drei Erwachsene und drei Kinder wollen leben, und das Pferd braucht Futter. Ob man mal hineingeht zu dem Mann und ihn fragt, wie er zurecht kommt? Nein, man wird den Mann nicht fragen. Er wird einen in den Wohnwagen führen, worin fünf Personen Hausen, er wird vielleicht ein? Moppe mit vergilbten Zeitungsausschnitten und Photographien heraussuchen.„Hier sehen Sie, ich habe früher an großen Varietc's gearbeitet, ich war ein erstklassiger Artist.?lber dann kam dre Krankheit, dann kam der Krieg, und nun stehe ich heute auf diesem Platz, und die Leute rennen davon, wenn sie ein paar Groschen bezahlen sollen" Die Kinder kommen als Clowns. Sie treiben Späße und haben sicher noch kein Mittag gegessen. Ein Steinblock tänzelt über ein schmales Brett, und dann oerbeugt sich der Artist und sagt, das sei der Schluß der Vorstellung. Die Kinder aber beginnen zu lärmen.„S e i l t a n z e n l" rufen sie.„S e i I t o n z e n I" Aber der Mann im Matrosenonzug will nicht aus dem Seil tanzen. Er ist müde und ärgerlich und hungrig. Er hält sich„bestens rekom- mandiert" und verspricht für den nächsten Abend ein völlig neues Progranim mit atemraubenden Darbietungen auf dem Turmscil. » Die drei gehen wieder an die Musikinstrumente. Die Pauke dröhnt, und die Trompete schmettert.„Weh, daß wir scheiden müssen." Man geht durch abendliche Straßen. Ein dreimotoriger donnert nach T« m p e l h o f. Und eine ganze Welle noch hört man die Trompete wimmern. Hört man die Trommel raffeln:„Weh, daß wir hungern müssen."
Kampf um Potsdam . Heute Stadwerordnetenwahl m der Nachbarstadt. Kampf in Potsdam . Seit Wochen werben die Parteien um die Stimme der Wähler. Am heutigen Sonntag ist Stadtverordnete- wähl. Alle Parteien sind sich der Tatsache bewußt, daß die Pots« damer Wohl well über die Stadtgrenzen hinaus Bedeutung hat. Potsdam , dos Muster deutschnationaler Verwaltungskunst, wähll! Dank der nie versagenden Hllfe einer schwarzweißrvtcu Fraktion. „Handel, Gewerbe, Grundbesitz" und zweier kleiner rechts- radikaler Parteien bestimmten die Deutschnationalen m Potsdam uneingeschränkt durch Koalitionsrücksichten. Potsdams kommunale Politik ist datier dos Schulbeispiel einer reaktionären Politik. Ein paar Streiflichter zeigen das auft.....-'• P r est ige p o litt t ist. die eine Seite. Sie zeigt sich in jenem Streft uvi das Hisien der schwarzrotgoldenen Reichsfahne ebenso wie in den Auseinandersetzungen mll preußischen Regierungsstellen uvi die Entfernung geschmackloser Kaiserbilder aus einem Gymnasium, die noch nicht ihren Abschluß gefunden haben. Wald-Potsdam zeigt zugleich eine andere Sette dieser reaktionären Politik aus. Eine Pillenkolonie für Millionäre als halbvollendetes Projekt ist das Ergebnis von vier Jahrei�Pots- damer Polllik. Daneben unterblieb alles, das in anderen Städten mit berechtigtem Stolz gezeigt wird. Das sozialdemokratische Lucken- walde mll 25 000 Einwohnern hat ein jährliches Bauprogramm von 2S0 Wohnungen, Brandenburg mit 05 000 Einwohnern hat allein 1927 3.50 Wohnungen gebaut. Potsdam mit über 63 000 Einwohnern hat z. B. für 1928 das„stolze" Bauprogromm von 64 Wohnungen. Noch schlimmer sieht es auf anderen Gebieten aus. Trotz unmög-
Menschen.Göttern gleich... 41]/ Roman von Herbert George wells . Mit einer gewissen Ehrfurcht merkte Barnstople, wie sehr das öffentliche Leben in nur einem Dutzend Jahrhunderte gesäubert worden war, in welch kühner und bcwunderns- werter Weise der menschliche Geist auf das Leben und Schick- fal der Rasse eingewirkt und Besitz von ihr ergriffen hatte. Er erkannte sich selbst als ein Geschöpf des Uebergangs, ebenso tief in den Gewohnheiten des Alten verstrickt, wie mit den Gedanken des Neuen sympathisierend, das bis jetzt auf der Erde noch kaum aufgedämmert war. Denn schon lange hatte er gewußt, wie heftig er jenes dampfende, unkultivicrie Leben, das unsere Vergangenheit ist, verachtete und Ekel davor empfand; jetzt wußte er zum erstenmal, welch tiefe Ehrfurcht er für das erhabene und strenge utopische Leben, das vor uns liegt, hegte. Diese Welt, auf die er hinaussah, erschien ihm überaus rein und ehrfurchtgebietend. Was tun sie auf diesen weiten Ebenen? Was für ein Leben sichren sie dort? Er wußte jetzt genug von Utopien, um zu erkennen, daß das ganze Land wie ein Garten fei, in dem jede natürliche Neigung zur Schönheit feftgebalten und entwickelt und jede angeborene Häßlichkeit verbessert und überwunden wird. Diese Ltute konnten für Schönhest arbeiten und kämpfen, das wußte er; denn feine zwei Rofenzüchter hatten es ihn zur Genüge gelehrt. Diejenigen, die für Nahrung oder Wohnung sorgen, und diejenigen, die das öffentliche Leben organisieren, gehen ab M]d zu und halten die Wirt- fchaftsmafchinerie in sanftem Gang, so daß man nichts von d-m Klappern. Knarren und nichts von inneren Zusammen- brüchen Hort, aus welchen die vorherrschende Melodie unserer irdischen Angelegenheiten zusammengesetzt ist. Die Zeit wirt- schaftlicher Auseinandersetzungen und Versuche ist zu Ende. Der richtige Weg. die Dinge anzupacken, ist gefunden wor- den Und die Bevölkerung dieses Utopiens, die einst auf zwei- hundert Millionen zusammengeschrumpft war. vermehrt sich nun wieder, um mit den ständig wachsenden menschlichen Hilfsauellen Schritt zu halten. Da sie sich von tausend Uebeln, die sonst mit ihrem Wachstum selbst gewachsen wären,' befreit hatte, konnte sich die Rasse nun frei entwickeln. Dort unten, unter dem blauen Nebel der großen Ebene waren fast all«, die sich nicht mit den Angelegenheiten der
Nahrungsmittelerzeugung, Architektur, Gesundheitspflege, Erziehung und den Wechselbeziehungen verschiedener Tätig- ketten befaßten, mit schöpferischer Arbeit beschäftigt: sie er- forschten ununterbrochen die Außen- oder Innenwelt durch wissenschaftliche Untersuchungen und künstlerisches Schaffen. Sie vermehrten fortwährend ihre gemeinsame Macht über das Leben oder die schon verwirklichten Lebenswerte. Mr. Barnstaple war daran gewöhnt, in unserer eigenen Welt eine wilde Folge von Erfindungen und Entdeckungen zu sehen, aber er wußte, daß der ganze Fortschritt auf der Erde in hundert Jahren sich nicht vergleichen konnte mit dem Aufschwung dieser Millionen von verbündeten Intelligenzen in einem Jahr. Die Wissenschaft stürmte hier vorwärts und die Dunkelheit ging wie der Schatten einer Wolke an einem windigen Tage vorüber. Dort unten erprobten sie die Mine- ralien, die im Herzen ihres Planeten lagen, und webten ein Netz, um die Sonne und Sterne einzufangen. Das Leben marschierte hier; es war erschreckend, zu denken, mit was für Schritten Erschreckend— weil in Mr. Barnstaples Unter- bewußtsein. so wie im Unterbewußtsein so mancher aufge- klärter Geister in unserer Welt, die Ueberzeugung geherrscht hatte, daß bald alles bekannt und der wissenschaftliche Prozeß beendet sein würde. Und dann würden wir für ewige Zeiten glücklich sein. Er hatte sich dem Fortschritt nicht wirklich angepaßt, er hatte immer an Utopien gedacht, als an einen geruhsamen Ort, wo alles zum Guten geordnet wäre. Sogar heute schien es unter jenem gleichmachenden Nebel ruhig zu fein, aber er wußte, daß diese Ruhe die Stetigkest eines Mühlwassers war, das in seinem ruhigen Dahinfließen fast bewegungslos aus- sieht, bis ein kleiner Wirbel, ein Schaumspritzer oder ein Stock, ein Blatt, das eittlangschießt, seine Schnelligkett enthüllt. Und mit was für Gefühlen lebte man in Utopien? Das Leben des Volkes mußte dem Leben sehr erfolgreicher Künstler oder Wissenschaftler in unterer Well vergleichbar sein, eine fortwährende, erfrischende Entdeckung neuer Dinge, ein beständiges Abenteuer im Unbekannten una Unerprobten. Zur Erholung befaßten sie sich mit ihrem Planeten, es gab viel Liebe, Fröhlichkeit und Freundschaft in Utovien und ein reiches, leichtes ungezwungenes gesellschaftliches Leben. Spiele, die nicht körperliche Uebung mit sich brachten, jener Ersatz der Halbgebildeten für Forschung und geistige Anstren- gung. waren vollständig aus dem Leben verschwunden, aber man spielte v'ele Bewegungsspiele zur Unterhastung und zur körperlichen Kräftigung«,. Es mußte für diejenigen« die
dazu erzogen worden waren, ein gutes Leben sein, wahrlich ein äußerst beneidenswertes Leben. Es ganz zu durchdringen, mußte es das beglückende Be- wußtsein geben, daß es einen Sinn Habs; es zog endlose Folgen noch sich. Sie liebten, ohne Zweifel— verfeinert und genießerisch—, aber vielleicht ein bißchen gefühllos. In jenen entfernten Ebenen gab es vielleicht nicht viel Mitleid oder Zärtlichkell. Sie waren helle und liebenswürdige Wesen — aber keineswegs mitleidig. Es gab ja keine Notwendigkeit für solche Eigenschaften... Doch das Weib Lychnis sah gütig aus. Hielten sie Treue oder hatten sie es überhaupt nötig, Treue zu halten, wie die Liebenden auf Erden? Wie sah in Utopien die Liebe aus? Auch hier flüsterten die Liebenden in der Dämmerung. Was war das wahre Wesen der Liebe? Eine Bevorzugung, ein süßer Stolz, ein köstliches Geschenk, das erhebenste Selbstgefühl für Körper und Seele... Was könnte dem gleichen, eine dieser utopischen Frauen zu lieben oder von ihr geliebt zu werden?— Ihr glühendes Gesicht dicht am eigenen— beseligt durch ihre Küsse?... Mr. Barnstaple saß in seinen Flanellhosen barfuß im Schatten eines Steinkolosses. Er fühlle sich wie irgendein winziges verirrtes Infekt auf dem großen Damm. Es schien ihm unmöglich, daß diese sieghafte utopische Rasse jemals wieder von ihrem großartigen Streben nach Beherrschung aller Dinge ablassen könne. Diese Welt war ungeheuer hoch emporgestiegen und stieg noch immer. Das, was sie erreicht Halle, hiell sie nun mtt Sicherheit fest, und doch war diese staunenerregende Sicherhell und Meisterung der Natur in einem kleinen Zeitraum von dreitausend Iahren ent- standen... Die Rasse konnte sich in diesem kurzen Zeitraum nicht grundlegend geändert haben. Im wesentlichen war es noch eine Steinzeitrasse, und es waren noch keine zwanziqtaufend Jahre vergangen fest den Tagen, da sie nichts von Metallen wußte und weder lesen noch schreiben konnte. Tief in ihrer Natur, gefessell und unentwickelt, lag noch der Samen von Zorn, Furcht und Zwist. Es mußte in diesem Utopien noch oiele hungrige und unbotmäßige Elemente geben. Die Eugenetik hatte hier noch kaum eingesetzt. Er gedachte des mutigen holden Antlitzes des jungen Mädchens, das in der Nacht nach seiner Ankunft im Sternenlicht zu ihm gesprochen. und des Tones romantischer Begierde in ihrer Stimme, als sie fragte, ob Lord Barralonga nicht ein sehr kräftiger und grausamer Mann jei. (Fortsetzung folgst)