Freiiag S. April �92S
Unterhaltung unö ÄVissen
Beilage des Vorwärts
Albrecht Dürers Bedeutung. Zur 400. Wiederkehr seines Todestages- 6. April. In einem Zeitalter ungeheuren Ueberschwangs ist Mb recht Dürer aufgetreten.„Es ist eine Lust zu leben"', rief damals Ulrich von Hutten aus, der revolutwnäre Ritter. Er hat dann wohl hinter- her feine Meinung stillschweigend revidiert, bis er wie ein gehetztes Wild im Exil eines jämmerlichen Todes starb. Trotzdem: es schien ihm eine Lust zu leben. Es brach in jenen ersten beiden Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts ein Frühling der Geister an. Das Wort von der„Freiheit der Christenmenschen", das Luther in die Masten schleu. derte, wurde nicht allein im religiösen Sinne verstanden. Es war mittelalterlicher Brauch, jede Bewegung, war sie nun politischer oder wistenschaftlicher Natur, religiös aufzuziehen. Selbst Klassenkämpfe wurden unter religiösen Schlagworten ausgefochten. So war es auch diesmal. Der Kampf, den der Augustinermönch der römischen Klerisei ankündigte mit seinen 97 Thesen, war der kirchliche Ausdruck für eine Revolution, die sich, im Norden kaum bemerkt, seit gut zweihundert Jahren schon in Italien vollzog. Im Süden macht« man das nicht mit dem kindlich barbarischen Un- gestüm der Deutschen , sondern hübsch manierlich und gemächlich. Man hielt auf Tradition und Lebensart. Ganz allmählich nur ent- wand man sich den Festeln, die die kirchliche und weltliche Gesell- schaftsordnung dem einzelnen anlegten. Kirch«, Feudaladsl, Zunft mußten ihren Zwang lockern, damit die neue Wirtschaftsmacht, das Handelskapital, sich entfalten konnte. Selbst dieser Prozeß hatte mit religiösen Losungen begonnen.„Gott will es! Rettet das heilige Grab aus den Händen der Ungläubigen!" hatte man in der ganzen Christenheit gepredigt. Und wofür nahmen die Könige und Ritter und ihre Knechte das Kreuz? Für den italienischen Mittel- meerhandel. Dafür, daß die Bentzianer, die Genueser und Pisaner die griechische Konkurrenz niederringen und die Inseln und Häfen der Levante in ihren Besitz bringen konnten. Ironie der Weltgeschichte: die Erschließung des östlichen Mittel- meerbeckens, die im Namen Gottes betrieben worden war, sollte dazu führen, daß der nämliche Gott, der alle Schlächtereien dieser bestiali- schen Kreuzzüge segnen mußte, entthront wurde! Auf den Schiffen der Italiener kamen nicht allein Wein, Korinthen und Oel, sondern auch griechisch« Bildung und Kunst nach Westeuropa . Die alten Heidengötter, deren Tempel und Statuen die Mönche einst zer- brachen hatten, feierten fröhliche Wiederauserstehung: sie wurden die Haus, und Leibgötter der besitzenden Klaste. Der geschunden« und blutige Christus samt seinen jammervollen Märtyrern paßte nicht mehr für die Florentiner und lombardischen Kaufleut« und Bankiers. Diese Elendsgötter verschwinden auch aus der Kunst. Di« arme Zimmermannsfrau aus Nazareth wird wie eine Patrizierin ein» gekleidet, auf einen prächtigen Thron gesetzt und von«wem Hofstaat von stattlichen, gut gepflegten Herren und Damen, sogenannten Hei- ligen, umgeben. Die Kreuzigung Christi wird immer seltener bestellt. So was sieht man in einem guten Hause nicht gern. Der Hofmaler Raffael muß für den Papst Fresken aus der Antike malen: selbst das Hmupt der Christenheit, das die Ablöste für die Peterstirche ausgeschrieben hat, interessiert sich weit lebhafter für die alten Hellten- götzen als für seinen eigenen Götterhimmel. Das geht alles ohne Gemütserschütterungen ab. Man braucht sich ja bei d«l christlichen Zeremonien nichts zu denken, so wenig wie heute in England. Die Künstler aber hoben gute Tage. Ein neues Stoffgebiet erschließt sich ihnen mit der Antike. Sie brauchen nicht immer und ewig nach derselben Schablone Kirchenbilder zu malen. Man sieht es gern, wenn sie die reichen Auftraggeber unter irgend» einem Borwand porträtieren. Raffael hat seine Geliebte als Ma- donna Modell sitzen lasten; andere, namentlich die Venezianer, haben unter dem Bilde der Hochzeit von Kana ein schlemmerhaftes Gelage in«inem reichen Kaufmannshause wiedergegeben. Der Künstler. zufrieden damit, schöne Menschen darstellen zu dürfen, war gut bezahlt und hoch geschätzt. In diese Welt tritt im Jahre 1S0S der Nürnberger Maler Albrecht Dürer ein. Er kommt von der Gotik her. die man in Italien nur noch vom Hörensagen kennt. Noch nicht einmal von der freien, kühnen Gotik, wie sie in den Kathedralen von Chartres , Paris und Reims geblüht hatte, sondern von der vermickerten und oer- schrumpelten der deutschen Kleinstädte. Seit bald zweihundert Iahren log sie im Sterben. Immer verzwickter war sie geworden. immer verschnörkelter, immer mehr hatte sie das große Raum- gefühl eingebüßt und war in kunstgewerblichem Zierkram unter» gegangen. Im 13. Jahrhundert war sie europäisch gewesen, dann deutsch, zuletzt, im 15. Jahrhundert augsburgisch, ulmisch, nürn- bergstch, frankfurtisch. Längst hatte die Architektur die Herrschaft über die Künste verloren. Die Bilderschnitzer kopierten Gemälde, die Maler ihrerseits ziselierten die Gewandfalten, als hätten sie den Meißel statt des Pinsel« in der Hand. Die dumpfe, muffig« Atmosphäre der kleinbürgerlichen Werk- statt lastete auf der deutschen Kunst wie auf dem deutschen Leben. Der Meister Michael Wolgemut , bei dem der Sohn des Gold- schmieds Dürer unter unzähligen Schimpfreden und Schlägen der Gesellen das Malerhandwerk mit unsäglichem Fleiß erlernt hatte, arbeitete nach dem niederländischen Rezept. In den großen flämischen Handelsstädten, in Gent , Brügge , Brüssel und Löwen, war die Malerei in Oelfarben aufgekommen und mit ihr eine neue siebevolle Beobachtung der Landschaft. Ileberall, wo das Handelskapital zur Herrschast kam, im Norden wie im Süden Europas , zeitigte es eine neue Kunstweise, den Realismus. Der Mensch freilich bleibt auch in den Niederlanden noch gotisch starr. Er kann sich nicht zu der freien Körperlichkeit im antiken Sinne durchringen wie im Süden, der niemals ganz den Zusammenhang mit Griechenland ver- loren hatte. Der Mensch auf den flämischen und erst recht auf den deutschen Gemälden steckt in seinen nordffchen Gewändern. Nie- mand fragt danach, wie er darunter aussieht. Nürnberg und Augsburg liegen an der großen Handelsstraße. die vom Mittelmeer an die Nordsee führt. In beiden Städten konnte sich also der Ausgleich zwischen der flämischen und der italienischen Malerei vollziehen. Zum mindesten versuchsweise. Der Augsburger Hans H o l b«! n wagt den Versuch und der Nürnberger Albrecht Dürer . Jenem fällt es unendlich viel leichter: er löst sich ohne Sen- timentalttät von der Heimat, in der es ihm zu eng wird, und zieht als Welt- und Hofmann nach England. Anders Dürer . Der bleibt gefühlsmäßig mit der deutschen Vaterstadt verbunden und kehrt, obwohl man ihn in Venedig und später in Antwerpen wie einen der Größten ehrt und feiert und mit vorteilhaften Anerbietungen ge- Winnen möchte, immer wieder in den Käfig zurück. Er unternimmt »— und das ist seine unvergleichliche ethffche Leistung— den unmög- kchen Versuch, als deutscher Kleinbürger Kosmopolit, als gotischer
Sörers Kunst als Wirlschastsproblem.
Vor einiger Zeit ging durch die Zettungen die Nachricht, daß ein Amerikaner bei einer Leipziger Versteigerung einen Abzug von Dürer« Kupferstich „Adam und Eva" um 42090 Mark erworben Hab«. Hätte die bisherige Kunstgeschichtsschreibung nicht den Fehler begangen, die wirffchaftsgcschichtlichen Zusammenhänge und Ent- stehungsbedingungen des künstlerischen Schaffens zu vernachlässigen, so hätte man für die ungeheure Werffteigsrung, die«in solcher Kauf- preis bedeutet, heute mehr Verständnis. Man würde ober auch ermessen können, welchen wirtschaftlichen Hemmungen die Kunst nördlich der Alpen gerade in einer ihrer Blütezeiten, dem ersten Drittel des 16. Jahrhunderts, unterworfen war. Namentlich Albrecht Dürers noch allzu wenig bekannte Tage- bücher und Briefe, zu deren erneutem Studium der 400. Todestag des großen Künstlers am 6. April Anlaß geben möge, sind eine reiche Fundgrub« für die Kenntnis der sozialen Lage und der kleinlichen Berhälttüst«, von denen die deutschen Künstler der Blütezett umgeben waren. Italien ernährte gleichzeitig hunderte Künstler reichlich und umgab etliche mit unerhörtem Glanz und Ansehen. Dürer war es nur allzu kurz gegönnt, an der Freiheit und Großzügigkeit des italienischen Kunsllebens teilzunehmen. Vor der Rückkehr in die Heimat richtet er in dem denkwürdigen, am 13. Oktober 1506 in Venedig geschriebenen Briefs an Pirtheimer gegen seine Zell und gegen sein Boll den unauslöschlichen Vorwurf, den die lebend« Nach- well zwar ihm, aber noch lange nicht an ihrem eigenen Künstlertum gutgemacht hat:„O, wie wird mich nach der Sonne frieren! Hier bin ich ein Herr, daheim ein Schmarotzer!" Wenn wir heute als den gewaltigsten Maler Deutschlands Mathias Grünewald ansehen, in Dürers Schaffen jedoch weit mehr als fein malerisches fein zeichnerifch-graphifches Werk schätzen, das durch die in Lemberg entdeckten Schätze eine noch anfehn- liche Bereicherung erfährt, so vergaßen wir bisher dank der Einseitig- kell der üblichen Kunstgeschichtsschreibung, daß Dürers Entwicklung zum Graphiker nicht allein rein künstlerischen Gründen zuzuschreiben ist, sondern zum guten Teil von wirtschaftlichen Ursachen bestimmt war. Das Malen war der teuern Farbstoffe wegen und ebenso wegen der langen Arbeitszeit kostspielig und mußte natur- gemäß den Künstler in schwer fühlbare Abhängigkeit vom Besteller und Abnehmer bringen. 1 Pfund Ultramarin kostete zur Zell Dürers nicht weniger als 100 Gulden, das sind 2000 Mark heutiger Währung! Wiederholt finden sich in seinen Briefen Klagen über den schlechten Ertrag der Molerei, besonders mit Bezug auf die frühen Gemälde. Für die„Tafel der Deutschen "(das„Rosen- kranzfest"), an der er fünf Monate gearbeitet hat und das heute auf Millionen Mark gewertet wird, erhiell er nur 110 rheinische Gulden (2200 Mark) und benierkt,«r„könnte wohl 200 Dukaten(5000 Mark) in der Zell gewonnen haben", was sich offenbar aus den Ertrag graphischer Arbeiten bezieht. Ein monatelange? beschämendes Feilschen Mit dem' Besteller geht um den berühmten, später durch Feuer verunglückten Heller-Altar los, für den Dürer nach einem Jahr Arbeit und 24 Gulden Selbstkosten nickst mehr als den ausbedungenen Preis von 200 Gulden(4000 Mark) erhält. An Heller schreibt er: „Wenn ich es Euch nicht zu besonderem Gefallen täte, würde ich nie mehr etwas Verdingtes machen, denn ich versäume Besseres dadurch", und beendet den leidigen Briefwechsel am 26. August 1509 mit dem ausdrücklichen Entschluß:„Darum will ich meines Stechens warten und hätte ich es bisher getan, so würde ich auf den heutigen Tag um 100 Gulden reicher sein."
Cm Mehrverdienst von 100 Gulden in einem Jahr fft für Dürers Verhältnisse wohl ein ansehnlicher Betrag, der uns aber zu keinem falschen Bild von seinem Einkommen aus graphischen Arbeiten oerleiten darf. Zwar schuf Dürer über 190 Stiche und mehr als 160 Holzschnitte, von deren meisten er elliche hundert Abzüge im Selbstverlag herstellte, verkaufte, tauschte und verschenkte. Aber man sehe und staun«, wie gering die Preise waren, über die wir durch Dürers Tagebuch seiner niederländischen Reffe(Juli 1520 bis Juli 1521) genau unterrichtet sind; st« waren in der Haupffache vom Format bestimmt, wobei Kupferstiche etwas höher bewertet wurden als Holzschnitte. So verkaufte der Künsller, nicht etwa als junger Anfänger, sondern im 50. Lebensjahr, auf der Höhe seines Ruhms, an Sebald Fischer in Antwerpen folgende Blätter: 16 Mal die(aus 37 Blättern bestehend«) Kleine Holzschnitt- Passion a 4 Gulden: etwa 2 Mark pro Blatt. 32„Kroße Bücher"(Apokalypse, Große Holzschnitt-Passton und Martenleben) i 8 Gulden: etwa 10 Mark pro Blatt. 6 Mal die(aus'lü Blättern bestehende) Kupferstich- Passion i 3 Gulden: etwa 4 Mark pro Blatt. 60 Halbbogen um zusammen 3 Gulden: etwa 1 Mark pro Blatt. 236 Biertelbogen um zusammen 5,25 Gulden: etwa% Mark pro Blatt. 8 Ganzbogen um zusammen 1 Gulden: etwa 2,50 Mark pro Blatt. Andere Derkäufe hingegen bringen noch weit merkwürdigere Ergebnisse. So verkauft er ein anderes Mal die ganze Große Holz- schnitt-Passion(16 Blätter) um den Preis von 9,60 Mark heutiger Währung statt um 10 Mark pro Blatt. Dem Goldschmied Jan von Brüssel gibt er für einen Ring mit 6 Steinchen im Werte von 7 Gulden(140 Mark) sein gesamtes Kupserstichwerk. Ein Verkauf von 460 verschiedenen Blättern bringt nur den Ertrag von 8 Gulden, durchschnittlich somit 35 Pfennig pro Blatt. Solche Bewertung seiner Kunst ließ Dürer zwar nicht gerade Armut leiden, aber wie wir aus zahlreichen Urkunden wissen, kam er über die Besitzverhällnisse des Kleinbürgers nie hinaus, mußte sein Lebtag rechnen und sich selbst die kleinste Ausgabe gründlich überlegen. Außer dieser Tatsache gibt es noch manches, was zu schwerer Anklage gegen Dürers Zeitgenossen wird, gewiß aber auch manche versöhnenden Züge. Kein einsichtiger Kenner wird die künstlerisch greuelvollen Austräge des Kaisers Maximilian wie die papierene„Ehrenpforte" und den papierenen„Triumphwagen", Holzschnittungetüme, an denen leider auch Dürer mitarbeitete, heute noch als Förderung ansehen, obwohl dem Kaiser, der Dürer seit 1515 jährlich 100 Gulden auszahlen ließ, ein gewisser guter Wille nicht abgesprochen werden kann. In Dürers Schriften finden sich etlickj« Hinweis« auf Verständnis in den unteren Schichten der Bevölkerung; es kam sogar vor, daß Knechte seine graphischen Blätter gewöhnlicher Entlohnung vorzogen. Die Graphik war dos fruchtbar« Mittel, den Gedanken, die in den Besten verkörpert waren, zu allen Schichten der Bevölkerung den Weg zu bahnen, und die wirtschaftlichen Verhältnisse stellen sich, aus der Entfernung von Jahrhunderten gesehen, als unmittelbar hemmende, mittelbar aber auch fördernde Kräfte dar. Es fragt sich nur, ob die Leiden und Freuden der modernen Kunst wirtschaftsgeschichtlich ein- fach die Wiederholung des alten Prozesses sind oder ob wir ganz neuen Entwicklungen entgegengehen.
Handwerksmeister Renaissancekünstler zu sein. Dazu gehörte ein Wagemut, der dem des jungen Lucher oder des Ulrich von Hutten kaum nachstand. Sogar etwas von der Wettentdeckertichnhett eines Christoph Kolumbus gehörte dazu. Di« Holzschnittfolge der„Offenbarung Johannis " von 1498, die er mit 27 Iahren zeichnet, bedeutet beretts«in revoluti» näres Programm. Zum erstenmal wagt es ein deutscher Künstler, sich in freien Phantasien über einen bibl'schen Text zu ergehen. Das liegt schon außerhalb aller kirchlichen Begriffe und Vorstellungen. Die ausschweifenden Weltuntergangsphantasten der Apokalypse: Zeit- stimmung des untergehenden Mittelalters. Ein neues Jerusalem wird kommen, in dem es„eine Lust sein wird zu leben". Aber zuvor muß die alte Zeit in Blut und Brand untergehen. Die neue kapita- listische Wirtschaftsordnung wird das Landesfürstentum herausführen, wenn dieses erst die Bauern abgewürgt und die Blüte der Städte gebrochen hat. Dein Freiheitsparadies, Albrecht Dürer , wird ein Kerker sein... Aber dieser weitausblickende Künstler bleibt der Gegenwart sein Leben hindurch zugewandt,„aktuell", wie wir heute sagen würden. Er philosophiert und dichtet in seinen drei berühmten Stichen: „Hieronymus im Gehaus ",„Ritter, Tod und Teufel " und„M e l a n ch o l i e". Ihm wird, wie dreihundert Jahr« später einem Goethe, das künstlerische Schaffen Persönlichketts- bekenntnis. Aus der traulichen Stube mtt den Butzenscheiben zieht der Kämpfer hinaus, um«ine neu« Welt zu erobern. Und wenn die Welt voll Teufel roär... Aber am Wege hockt, verzweifett vor sich hinbrütend, die Göttin des Unvermögens. Die jauchzende Freude über die eigene Kraft schlägt jäh um in den bittersten aller Zweifel: den an der eigenen Persönlichkeit. Warum? Nimmt er nicht auf seinen Reisen fremde Städte und wundersame Tiere und Menschen in seine Skizzenbücher auf— in diese überaus köstlichen Vermächtnisse, die uns mehr über ihn besagen als alle feine Heiligenbilder? Die Türken, die Wien und die ganze Christenheit bedrohen, müssen herhalten für die Widersacher Christi in seinen Passionen, und das eigene Antlitz, das er wiederholl mit Stolz festgehalten hat, leiht er sogar dem Herrn Jesus , indem er sich selber an die Stelle des Schmerzensmannes setzt! Jeder Gegenstand wird chm zum Erlebnis, zur unmittelbaren Gegenwart. Der Kaiser Maximilian ernennt ihn zu seinem Hofmaler. Raffael selbst schickt ihm als Zeichen feiner Verehrung«ine Rötelskizze über die Alpen . Also warum dl« tiefe Niedergeschlagenheit? Da? Ziel seine« Lebens bleibt in unerreichbarer Ferne. Cr kann kein« Kompromisse schließen wie her Martin Luther . Seit ihm ein welscher Maler in Nürnberg . Iacopo de Barbari , verraten hat, daß man die mensch- liche Figur noch feststehenden Gesetzen konstruieren könne, h« es ihm keine Ruhe mehr gelassen. Er wollte diese Proportions- gef etz e ergründen— wollte der deutschen Kunst zu der Landschaft «ich den Menschenkörper hinzugewinaen. Dte Stollener defaße»
das Geheiinnis— davon überzeugte er sich in Venedig . Zehn Jahre seines ohnehin nicht langen Lebens wandte er daran, um es durch Leobachtungen m>d Studien zu erzwingen. Er hat es nicht geschafft — selbst mit seinem letzten Werk nicht, den Vier Aposteln in München . Unantastbar ist seine hohe Z e i ch e n k u n st, die sich in Skizzen and Bildnissen unmittelbar nach der Natur erweist. Aber selbst in seine Graphit, die doch so viel besser ist als seine Malerei, schleicht sich ein störendes Element«in. Er bringt immer wieder kühne Raumkonstruktionen an, wo sie gar nicht hingehören und die Einheit der Komposition zerstören. Er ist mit dem unseligen Erbteil der sterbenden Gotik belastet, dem Mangel an Raumsinn, an architekto- nischem Empfinden. Er wird zwischen zwei Stilen wie zwischen Mühlsteinen zerrieben. Bei keinem zeigt sich deutlicher als bei ihm die Tragik der Per- sönlichkeit, die aus sich allein gestellt ist. Die italienischen Zeit- und Ännstgenossen werden von einem gesellschaftsbildenden Element, von einem Stil, getragen und gehoben. In einem staatlich und kulturell so zerrissenen und zerklüfteten Lande wie Deutschland hat der fast stets gefehtt. Die Tragik Dürers ist die Tragik unleres Volkes. Dr. 5) e r m o n n H i e b c r.
Oer Sohn des Zimmermanns. Von Henri Barbusse . I. Seit einiger Zeit beschäftige ich mich damit, meinen Freunden in den verschiedenen Ländern wahre Geschichten zu erzählen. Den Stoff meiner Erzählungen entnehme ich wirklichen Begebenheiten, ohne auch nur eine wesentliche Einzelheit zu verändern. Daher sind diese kleinen Dramen oder Komödien durchaus wahr und dem Leben abgelauscht. Auch heute will ich eine solche Begebenheit er» zählen: sie handell von Jesus . Seit Jahren habe ich es versucht, durch die Schleier der Tradition und mystischen Erdichtungen da» wahre Antlitz dieses großen Wanderers zu erkennen. Immer wieder habe ich alle heiligen Schriften durchgelesen, die sich sein Wesen und seine Gedanken nutzbar gemacht haben. Voll frommen Dranges nach Wahrheit bin ich in den Fußtapfen redlicher, vernünftiger und unabhängiger Gelehrter gewandelt, die die Anfänge des Christen» tum« bloßlegten, den Archäologen vergleichbar, die die ausgedehnten Trümmerfelder von Theben oder Troja durchfurcht haben. Aus meiner Aufrichtigkeit, meiner Achtung vor der Wahrheit schöpfte ich den Mut, selbst ein Evangelium zu schreiben, das ich dos Cvan» gelium der Wiederherstellung nennen möchte, weil ich Jesus seine ungeheure und bedauernswerte Rolls wieder zuteile. Den Menschen aber zeige ich ihn in seiner wahren Größe, die die Religion nur twnwtiirm«fou