Tr. 224
45. Jahrgang
Kulturarbeit
Heime für Erwachsenenbildung.
Die neuen Verhältnisse und drängenden Probleme ließen mit| dem Ausbruch der Revolution in den Maffen einen Heißhunger nach Belehrung erwachen. Bissensbegierig strömten sie in die Lehrfäle der wie Pilze aus dem Boden schießenden Volkshochschulen, die vielfach von Leuten ins Leben gerufen waren, die zwar plötzlich von Begeisterung für Bolksbildung sich ergriffen fühlten, denen aber oft jede Ahmung von Erwachsenenpädagogik abging. Sie hielten gut gemeinte akademische Vorträge über alles mögliche, bloß nicht über die praktischen brennenden Fragen. Die Enttäuschung darüber ließ den Eifer der Zuhörer rasch erlahmen. Gewiß, es war nicht allein die Schuld der Dozenten, die auf die Mentalität ihrer Zuhörer viel zu wenig abgestimmt waren. Vielleicht hatten auch die Massen
Unmögliches von solchen Abendkursen erhofft. Die Problematit der Wissenschaft unterschäzend, neigen fie dazu, von ihr handfeste und prattisch sofort verwendbare Rezepte zur Lösung ihrer Nöte zu erwarten. Auf jeden Fall, die Ernüchterung fam auf beiden Seiten, nach dem überſtürzten Aufschmung verebbte die Welle. Einkehr und Besinnung begann, man fing an, die Probleme der Erwachsenenbildung zu sehen. Die Erkenntnis verbreitete sich, daß freie Bolksbildung keine bloße Popularifierung geiftiger Werte, feine geistige Armenpflege sei, sondern daß sie eine große und besondere Aufgabe mit eigener noch zu suchender, psychologisch fundierter Methode sein müsse.
Nötig war Intensivierung, Bertiefung. Wer von der Tages arbeit schon ermüdet zu den Abendkursen kommt, fann feine Elastizität geistigen Dingen gegenüber und feine große Aufnahmefähigkeit mitbringen. Drum haben Abendkurse neben der Berufsarbeit ein unverhältnismäßig geringes Ergebnis. So drängt die Bildungsarbeit zum Heim, in dem der Schüler, von der Berufsarbeit freigestellt, sich ausschließlich der geistigen widmen und in dem auch vor allem die Zeit außerhalb des Unterrichts der Bildungsaufgabe dienst bar gemacht werden kann. Eine Lern- und Lebensgemein tommt nicht mehr so sehr auf Stoffdarbietung an, sondern auf Formung der in dem Schüler angelegten Kräfte zu einer fozial sich verantwortlich fühlenden und aktiven Persönlichkeit. Die stärkste bildende Krait ist neben der Persönlichkeit des Lehrers das Zu
schaft von Lehrern und Schülern soll entſtehen. Es
fammenleben mit den übrigen Heimgenossen.
Zurzeit gibt es in Deutschland über 60 Heime, die im Nachweis des Archivs für Boltsbildung im Reichsminifterium des Innern aufgezählt find. Zum Teil find sie politisch oder weltanschaulich gebunden, zum Teil wollen sie neutral sein. Neutralität fann aber von einem modernen Erzieher nicht etwa so verstanden werden, als gelte es, sich von politischen und weltanschaulichen Dingen fernzuhalten. Der Erzieher muß selbst einen festen Standpunkt haben. Er darf ihn nur nicht aufdrängen wollen.
Für die sozialistische Arbeiterschaft ist in erster Linie Tinz zu nennen. Als Vertreterin für die neutralen Volkshoch schulheime führen wie die Comburg an, neben der noch zu nennen find, Sachsenburg, Dreißigader, Prerow usw. Ein anderer Typus find die von den Gewerkschaften unterhaltenen Heime, die einer bestimmten 3wedschulung, der Funktionärausbildung, dienen. Hierher gehören Dürrenberg, das Heim des Metallarbeiterverbandes, das Heim des Fabritarbeiterverbandes in Bennigsen, das der Gemeinde- und Staatsarbeiter in Budow Hartig. ( Märkische Schweiz).
Die Heimvolkshochschule Tinz .
Tinz ist teine ,, neutrale" Schule. Es ist eine sozialistische Weltanschauungsschule. Die Arbeit in Linz ist von porn herein an dem sittlichen Ideal und der geselschaftlichen Berspektive des Sozialismus orientiert. Wobei streng geschieben wird zwischen melt anschaulicher Orientierung und parteipolitischer Einstellung. Tinz ist teine Parteischule. Auch die marristische Theorie ist in Ting fein unantastbares Dogma, das einfach erklärt und erläutert wird, sondern eine Lehre, um die in ernster missenschaftlicher Arbeit, im Für und Biber der Meinungen gerungen mird.
Nach dieser Grundeinstellung richtet fich Auswahl der Stoff gebiete, Lehrplan und Methode. Die Funktionäre der Arbeiter. bewegung und solche hat Linz im Auge dürften nach zwed dienlicher Staffpermittlung auf dem großen Gebiete der Gesellschaftswissenschaften. Sie begnügen sich nicht
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allein mit ethisch- philosophischer Durchdringung wichtiger Lebensfragen. Sie wollen Einsicht in die wirtschaftlichen Zusammenhänge gewinnen. Sie wollen die Erscheinungen in Gesellschaft und Politik, die sich vor ihren Augen abspielen, aus ihren geschichtlichen Wurzeln verstehen lernen. Sie wollen die seelische Struktur der Menschen, auf die sie Einfluß zu gewininen trachten, und ihre eigene Seele tennen lernen. Ihnen sollen die Schätze der Weltliteratur und der bildenden Kunst, wichtig für sozialistische Gefühlsbildung, kein Buch mit sieben Siegeln sein. Alles dies nicht selbst zwed, sondern mittel zum 3wed geistiger Revolutionierung. So stehen Birtfchaftslehre, Geschichte, Psychologie, Kulturlehre im Mittelpunkt des Unterrichts. Ergänzend treten Fächer von mehr praktischer Natur hinzu, die von Gastlehrern und Gastlehrerinnen in besonderen Arbeitsgemeinschaften behandelt werden: Verwaltungskunde, Berfassungsmesen, Gewerkschaftswesen, Arbeitsrecht, Erziehungsfragen, Frauenprobleme. Die Methode des Unterrichts ist, sofern der Stoff es gestattet, die Arbeitsgemeinschaft zwischen Lehrern und Schülern. Abendliche Seminare dienen tieferer Durchdringung be= sonderer Fragen. Betriebsbesichtigungen bieten wertvolles anschauliches Material.
Die Schule besteht seit Frühjahr 1920. Elf Männer- und sechs Frauenkurse zählt sie bis jetzt. Ursprünglich eine aus der Revolution des Jahres 1918 entstandene Stiftung mit eigenen umfangreichen Forsten, ist sie seit der Zusammenlegung der Länder zum Freistaat Thüringen staatliche Schule. Das Barockschloß, in dem sie untergebracht ist, liegt an der Peripherie der Stadt Gera . Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen an den jährlich zweimal stattfindenden Kursen( zu je fünf Monaten) rekrutieren sich aus ganz Deutschland . Auf möglichste Homogenität der Schüler als Borbedingung eines erfolgreichen Unterrichts wird größtes Gewicht gelegt. Die Hälfte find freie Bewerber; die übrigen werden von den Gewerkschaften und der Sozialdemokratischen Partei delegiert. Schulische Demo fratie ist das Prinzip, nach dem sich das Leben im Internat und im Umkreis der Anstalt überhaupt regelt.
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So verlassen alljährlich 100 junge Broletarier im Alter von 18 bis 30 Jahren Tinz , die mit den Elementen des wissenschaftlichen Sozialismus vertraut und im Urteil geschult sind, deren Kulturwille geweckt worden ist und die mit klarem Bewußtsein an die Aufgaben der Arbeiterbewegung herantreten fönnen.
D. Greiner.
Benn nach eineinhalbjährigem Bestehen die Arbeiterbildungsstätte Comburg bei Schwäb. Hall bereits fagen tann, daß sie nicht vor jedem neuen Kurs tiefgreifende Eristenzsorgen durchmachen muß und von sämtlichen Richtungen der politischen und gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung als eine unentbehrliche Einrichtung anerkannt ist, so hat dies seinen Grund in erster Linie darin, daß der Verein zur Förderung der Volksbildung, Stuttgart , dem die Schule gehört, am 1. Mai auf ein zehnjähriges Bestehen zurückbliden tann. Es gibt teine Stadt in Schwaben , feinen Stand, feinen geistig rührigen Menschen, der nicht in irgendeiner Beise von dieser Arbeit gehört und Förderung erfahren hat. Darum fchenfte man auch dem Wert auf der Comburg von vornherein volle Beachtung.
Sonnabend 12. Mai 1928
Die Gegend um Merseburg mit ihren gigantischen Werken der chemischen Industrie, der Elektrowirtschaft und des Braunkohlenbaues wächst sich immer mehr zu einem gewaltigen Industriezentrum Deutschlands aus. Neben dem ungeheuren Komplex des Leunawerkes ist das fleine Solbad Dürrenberg eine sterbende Idylle. Hier hat der Deutsche Metallarbeiterverband das Kurhaus erworben und es zu einem Internat zur Schulung seiner Vertrauensleute umgestaltet. In drei Wochen ernster Arbeit und anregender Lebensgemeinschaft sollen hier seine Mitglieder ihre Kenntnisse erweitern und verbessern, sich neue Impulse für ihre gewerkschaftliche Tätigkeit holen, um ihre für die Bewegung so wichtigen Verbands- und Betriebsfunktionen vollkommener erfüllen
zu können. Drei Wochen Kursusbesuch ist dafür eine sehr knappe Zeit. Aber feine vergebliche Mühe.
Man versucht, so intensiv als möglich zu arbeiten. Die Unterrichtsstoffe, auf das nötigste beschränkt, erstrecken sich in der Hauptfache auf die Geschichte des Verbandes und der Bewegung,- auf Arbeitsrecht( Betriebsrätegeseh, Tarifwesen) und Wirtschaft mit befonderer Berücksichtigung der Industrien, in denen die Schüler, beschäftigt find. Als Funktionär an sich schon ein aktiver und intereffierter Mensch, kommt jeder Schüler mit größtem Lerneifer und Bildungshunger zu den Kursen und ist schon von sich aus bestrebt, soviel als möglich von dem Unterrichtsstoff mit nach Hause zu nehmen. Außerdem sind ihm die vermittelten Gebiete nicht fremd, manch einer besitzt sogar überraschende Kenntnisse darin.
Neben der Vermittlung neuen Stoffes hat die Schulung vornehmlich die Aufgabe, das vorhandene Wissen zu ordnen, zu systematisieren, zu klären. Sie wird dadurch erleichtert, daß die Schüler nach den Beschäftigungsgruppen des Verbandes spezialisiert und zuweilen besondere Spezialkurse abgehalten werden. Die Schule besteht zwei Jahre. Etwas reichlich ist die 50 Schüler umfassende KursusObwohl die Comburg weder Partei- noch Gewerkschaftsschule teilnehmerzahl. Neben Gastlehrern stehen drei hauptamtliche Lehrist, obschon Arbeiter aller erdenklichen politischen und weltanschau- kräfte dieser gewerkschaftlichen Bildungsstätte zur Verfügung. lichen Richtungen dort in freier Weise beieinander wohnen, weiß
fich jeder daheim, weil er für den Kampf um eine neue Zukunft der Arbeiterbildung und Volksbildung.
Arbeiterschaft und der Menschheit nicht nur mehr Mut und Hoffnung bekommt, sondern weil er in Arbeitsgemeinschaften, Studiengruppen und in persönlicher Aussprache mit den Lehrern, die selbst in der Fabrik standen, Klarheit bekommt über die tatsächliche Lage
Comburg.
der Dinge, über das, was erstrebenswert ist, und über sich selbst. Bom ersten bis zum legten Tag steht nicht ein festgelegtes Programm im Mittelpunkt, sondern die von den Schülern aufgeworfenen Fragen entscheiden über die Linie der gemeinsamen Arbeit. Damit das Leben in dem farbenfreudig und neuzeitlich einge richteten Heim, das mit seinen 75 Betten auch für große Freizeiten Raum hat, nicht gls vorübergehender Glücksstrahl nerblaßt, bestehen in allen Städten, mo mehrere Alt- Comburger leben, Comburgtreise, die in Fühlung mit der Comburg eine Arbeitsgemeinschaft baben und auch Arbeitsgenossen in ihre Reihen aufnehmen, die im Sinn der Comburg arbeiten möchten. Von Zeit zu Zeit kommen die ehemaligen Schüler zu Bochen und Tagungen auf der Schule zu fammen, um neue Anregungen für ihre Arbeit und neue Impulse für ihren Kampf draußen zu empfangen.
Biele wichtige Bolfsbildungsveranstaltungen finden auf der Comburg statt, mie die Akademie der Deutschen Schule für Balls forschung und Erwachsenenbildung, die Arbeitswoche der Gildenfait Soziale Arbeit ". a. Dr. Rüßner.
Unter diesem Titel ist im Verlag des ADGB . eine kleine Schrift erschienen, die jedem am Bildungswesen Interessierten aufs ange= legentlichste empfohlen werden kann. Ihre Bedeutung liegt darin, daß der Borsitzende des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes selbst, Theodor Leipart , mit Lothar Erdmann zu dem Bildungsproblem der arbeitenden Maffen Stellung nimmt und vom Standpunkt der freien Gewerkschaften aus ein Schul- und Bildungsprogramm entwickelt. Die Autoren verstehen unter Arbeiterbildung auch die Volks-, Berufs- und Fachschulbildung und stellen dafür eine Reihe von Forderungen wie: ein neuntes Boltsschuljahr, Gemeinschaftsschule, Ausbau der Berufs- und Fachschulen, llebergangsmöglichkeiten von ihnen zu den Mittel- und Hochschulen, Einschränkung des Berechtigungswesens. Dabei unterstreichen sie mit Recht, daß die Lösung der Bildungsfrage nicht nur ein Problem der Schul, sondern auch der Sozialreform sei. Nach Behandlung der innergewerkschaftlichen Bildungsarbeit und der staatlichen Gemertschaftsschulen geben sie einen knappen und doch umfassenden lleberblid über das freie Bolksbildungswesen. Charakteristisch für die Schrift ist, daß fie Arbeiterbildung in den Zusammenhang mit dem Ganzen der nationalen Erziehungsaufgabe gestellt wissen will und fie als deren Kernfrage betrachtet. Sie will feine Absonderung etwa durch eigene Arbeiterhochschulen. Was sie fordert ist: Hinein in die öffentlichen Schulen, die mit sozialem Geist zu erfüllen sind und ihre Schüler zu verantwortungsbereiten und bewußten Mitgestaltern am gesellschaftlichen Geschehen zu erziehen haben.
H.
Das Archiv für Bolksbildung im Reichsministerium des Innern ist eine zentrale Sammel- und Auskunftsstelle für die Fragen des Bolfsbildungswesens. Sein Arbeitsraum steht zum Studium des offen. Es gibt halbjährlich Zusammenstellungen über die erschienene Fachliteratur des Balfsbildungswesens heraus, außerdem veröffent licht es den Nachweiser für das deutsche Boltsbildungswesen", in dem ein Ueberblick über die bestehenden Organisationen und Einrichtungen gegeben wird. April 1927 erschien Teil 3 über die Volks hochschulheime. In ihm merden diese mit ihren genauen Adressen, Sielen, Richtungen, Unterrichtsplänen und Besuchsbedingungen angegeben, und zwar so, wie die Heime selbst berichten. Nach der Zu fammenstellung des Nachweisers gab es im Januar 1927 56 Heime, ein ganzes Jahr 10. 28 Heime veranstalten abwechselnd Männerdavon halten Sturſe bis zu drei Monaten 7, bis zu sechs Monaten 29, und Frauenkurse, fünf nur Frauenkurse, Kurse für beide Geschlechter zugleich finden in acht Heimen statt.-