?!r. 24S» 45. Jahrgang Sonntag, 27. Mai 492�
Mit m(ften, starken Beinen, eine Art Schioft>e<ke aks Ober- belleidung malerisch über die Schulter geworfen, gesenkten Blicks schreitet«in Mensch durch die belebte Leipziger Straße. Die vielen Blicke, die seinem sonderbaren Anzug gelten, seinen wehenden Locken, die bis in den Nacken hineinfallen, dem mattenden Christusbart, der wie der Bart eines starken Schnupfers rot gebeizt erscheint,— die vielen Augen, die diesem sonderbaren Apostel solgen, sie lassen ihn kalt. Was ist das Geheimnis in diesem Menschen, daß er sich so herausstellt, heraus aus der Gemeinschaft der Masse Mensch, heraus aus den gesellschaftlichen und politischen Gesetzen? Ist mit der Bezeichnung„Ein Narr" die Sache abgetan, der Schleier gelüstet? Die Naturmenschen, denen wir in den letzten Iahren häufiger im Straßenbetrieb« begegnen, haben groß« Gefolgschaft gefunden. Der vielfach totgesagt«„gustaf nagel " besitzt sogar ein« ganze Gemeinde von Anhängern, bei denen er auf seinen Wandersahrten einkehrt. Und wie„ein Narr viele Hundert macht", fanden sich ein« solche große Zahl Menschen bei den vorletzten Parlamentswahlen sogar zusammen, um aus der Wahllist« zu erscheinen, die„Haußer- Partei", di« ober kein Mandat erhielt. Die allerorts angestellten Recherchen nach dem Wohnsitz der sonderbaren Helligen schienen jedoch ergebnis- los zu verlausen. Die„Freikörperkultur" oder„Nacktkultur" will ebensowenig mit ihnen zu tun haben wie die Bohemienkreis« d« Westens, in denen die„Apostel des Geistes" in all den Iahren aus und«ingingen. Es wird gesagt, daß eine große Anzahl van ihnen. die hi der Umgebung Berlins in Erdhöhlen hausten und Rüben und Kartoffeln als Rohkost verzehrten, von der Polizei vertrieben worden wären. Der Einladung eines französischen Gut«- b« s i tz e r s nach Frankreich wären sie gefolgt, auf dcffein Gut sie ihr �Paradies der freien Gemeinschaft" errichtet haben. Die Dachkammer in der parochialstraße. ' Eine Fährte aber weist nach der Parochialstraße, wo der Dichter Siebenhügel sein Standquartier hat. Schnell er- fährt man die'Adresse in einem der ältesten Häuser, beim seine auf- fallende Erscheinung ist allen Anwohnern der Straße bekannt. Man steigt einen ganz schmalen verfallenen Treppengang hinauf. Auf ausgetretenen Treppenstufen stolpert man über die letzte Schwelle in eine Dachkammer, die in ein niederes Seitengelaß führt, das Tustulum des Dichters der„neuesten Richtung". Aber der alte unruhige Wanderer ist nicht daheim, ist irgendwo im weilen Land auf der Fahrt. Dagegen sind zwei junde Mädchen da, deren treu« Augen nichts von der Gefahr wittern, die sie hier mitten im alten Winkel Berlins umgibt. Es scheint, daß die khakigelbe Farbe und der Schnitt ihrer„Reform"klei.dung eine gute Schutzfarb« gegen Belästigungen ist. Das ältere Mädchen ist eben von einer Wander- fahrt heimgekehrt, sie hat einige Kolonisten in der Mark besucht, die von dem gleichen Schnitt sind. Bei ihrem Gespräch sieht man bis in
Ganz and gar Naturmensch. den Grund ihrer Seele, st» einfach enthüllt sich da« Leben dies» Schicksalslosen. Seit ibrer Schulentlasiung hat sie ein einziges Buch gelesen, einen kleinen Gedichtband eines Sonnsnmenfchen. Sie ist damit zuftiedcn. Politik, lvirlfchafl. Kultur und Besitz interessieren nicht im geringsten. Das Leben ist nur da. damit es zur Freude. zur triebhaften Entfaltung gelebt werden kann. Man lauscht in sich hinein, was die„Stimmen" von innen fordern, befehlen. ll«d nach diesem Befehl setzen sich die Füße mechanisch in Bewegung, ohne
Ziel, ohne Aufgabe. Es begegnen sich gleichgestimmt« Menschen, als ob sie von magnetischer Kraft zueinander angezogen würden. Wer möchte sich in diesem Naturniystizismus zurechtfinden, wir geplagten Menschen der Konvention vermögen es nicht. Die Kolonie im»Xiich'". Di« Fährte aber lag nunmehr offen, wo man Naturmensch« in der weiteren Umgebung Berlins noch, antreffen kann. Don Station Paulinenaue geht eine Zweigbahn durch das Große Luch nach Neuruppin . Die Stadt der berühmten„Bilderbogen" Hot mit ihrem heutigen modern»»änderten Gesicht auch den Ruhm, die größte Anziehungskraft für alle großstadtmüden Pflastertreter zu besitzen. Das macht u. a. auch die idyllische Umgebung d» Wälder und Seen. Eine große Zahl begeist»k» Naturfreunde, die sich vor- nehmsich aus Künstlern zusammensetzen. Hab« sich etwa eine Weg. sluude weit vau Neuruppin eine Kolonie gegründet.„Gildenhall" ist ihr Name. Ab» ach, welche Enttäuschung! Was haben dies« Kunst- Handwerk» aus d» Natur gemacht! Man wollt« hi» dos Hand-
w»k wied» zur Ursprünglichkeit zurückführen, ihm dm durch Zweck- Mäßigkeit bedingten neuen Stil schaff«, ähnlich dem des Desiau» Bauhauses. Alles auf genossenschaftlicher Grundlage, in einer Art komrmlmstisch» Reservanz. Dm Freiheit der Peirsönlichkeit sollte nach jed» Seit« hin gewahrt bleib«.— In dm Siedlungshäusern, die einen zum Teil recht häßlichen architektonischen Eindnick ver- Mitteln, wie man ihn um Berlin zu Dutzend« in Siedlung« beob- achten kann, befind« sich neben den Wohnraum« die Werkstätten, teilweise mit Maschinenbetrieb. Mehrfach war das hofsnungsvollc junge linternehmen in Gefahr, wirtschaftlich und finanziell über Bord zu geh«, da die Leute ohne jeden Zuschuß arbeiten.' Imm» hat die Ehrenhastigksit feiner Mitglied» das Unternehm« vor dem Schlimmst« bewahrt, ober die„Natur" ist zweifellos dadurch zu kurz gekommen. Man arbeitet heute durchweg sogenannte „gängige Marktware", wie sie eben überall oerlangt wird. Man kann das in allen W»kstött« sehen, bei d» Drechslerei, Kunst schmiederei. Tischlerei u. a. Eine Werkstätte, in der sein« Nadel- arbeit« und Stickerei« gemacht werd«, unterschied sich durchaus nicht von Betrieb« gleichere Art in d» Großstadt, nur daß die Arbeit vielleicht noch mühseliger und die Entlohnung noch geringer sein wird. So müss« die.geistig«" Ideen d» Gemeinschaft d« Ersatz bilden für das Zusammenleb« und das Glück dies» Natur- mensch«. Die Hütten am Gee. Ztach dies» vergeblich« Expedition auf d» Suche nach den „Naturmenschen " zeigte sich eine neue Spur. Sie log«was weit ab vom Weg«, ab» der Weg hätte bis nach dem Nordpol führ« können, d» Naturmensch mußt« an diesem Tage entdeckt werd«. Etwa zweieinhalb Stund««Us»m von Gildenhall führt die Chaussee nach d» Richtung Wulkow— Löwenberg ziemkich nah« an ein sumpsartiges Gebiet, den„W e r b e l i n f e e"(nicht zu verwechseln mit Seen ähnlich« Namens in der Marks. Ei»? Dame aus Glldenball hat sich freundlicherweis« als Fübrerin»boten. sonst hätte man nie diese Hütt«, die absichtlich versteckt und von jeder Zufahrtstraße abgeschnitt« liegen, in diesem großen Wold- gebiet entdeckt. Auf ein» Sandblöße am Wasserrande ertönt hint» einem bergend« Busch wütendes Hundegekläff. Eine Blockhütte. halb In d» Erde vergrab«, wird fichtbar. Hi» hat«in jung» Berlin » Arbeit» mit fein» Frau und dem eben gebor«« Kind bis Weihnacht« gehaust. Dann ging es unter dies« Bedingung« nicht weiten:» baute ein anständigeres Holzhau», das schon ganz den. Charakter eines nett« Wochenendhäuschens trägt, in nächst» Nachbarschaft. Die junge Frau, fast noch ein.Kind, ist erfreut. Desuch in ihrer Einöde zu»halt«. Ihre groß«»«zückt« Augen sind imm« bei dem Kind, das im Sand herumkriecht. In ihrer armen Seligkeit wird Ihr d» Abstand gar nicht bewußt, der ihre Armseligkeit im Geg«sotz zum Kulturvertang« ander» St»d- sich» stellt. Und wie ein Spott aus die Sehnsucht dieser M«schcn stellt man fest, daß das junge Weib m d» Wildnis Seidenstrümpse trägt, ein« gebrannten Bubikopf besitzt, d» all« Morg« mit der Brennfch»« neu gewellt wird und daß die Augenbrau« mit einem abgebrannt« Streichhölzchen nachgeschwärzt«erden. Natur! Natur! Einige tausend Schritte weit« steht man dann endlich am Ziel, in d» wahr« Gemeinschaft echt» Raturmensch«. Ein jung» Tischler, ganz Ekstatrk«. my N«i neumensch, hat hi» ans d» Semd
Haide gebaut. Die Inflation Haff ihm wertlosen Grund in größerem Bezirk zu erw»bm, einige Gesinnungsgenossen find ihm bemüh gefolgt, es bildet sich eine bescheidene handw»k»koloule h«MX< Dies» Tischlermeister ist ganz und gar Raturmensch. Er hat das Leb« in d» Großstadt bis zum Hals fatt. Er liest keine Zeitung. » will nichts von Politik wiss«. Ihn interessier« keine Wahlen. nicht», rein nichts, was nur im geringst« nach Kulturgemeins chaft schmeckt. Mit ein» leicht« Badehose bekleidet, steht» mit seinem braunen, mag»«, muskulösen Körp» in d» Werkstatt und baut—- Hock« und Tische für B»lin» Restaurants und Barstuben. Bis m da» innerste Wesen wird jeder Siedl ungsgenoss« geprüft, wenn« es wagt, hier auf des Tischters Land eine Heimstätte zu suchen, ob et die Bedingung«„reiner menschlicher Brüderlich-- keit"»füllt. Eine Schar blond» klein» Kind« bevölkert sei» Hauswesen, auch seine Frau hat das verzückte tiefe Leuchten in den Aug« wie die meisten Frau«, die allem für sich und die Familie leben.„Mein Seelch«" n«nt» sie. ein altes Wort, das im Groß- ftadtgetriebe verlorongegang« ist- Qu» durch den Wald geht der Weg mied» zur Chaussee zurück. lind damit dem Großstadtbesuch» eine Ahnung wird, was es bs» deutet, abseits d» Straßen d» Zivilisation zu wandeln, fetzt ein furchtbares Gewitter ein, das die Fremd« hilflos und ohne Weg- künde im Wald herum irr« läßt. Links und reckst» zünben Blitze, über«in» Halde sieht man plötzlich helle Feuergarben und Rauchwolken emporsteigen, d» Blitz hat im nächst« Dorf eingeschlagen. Man fitzt wied« im Zug. durchnäßt bis aufs Hemd und man hat genug, sattsam genug für dies« Tag von Naturmensch« und dem schön« Lied„Wo find ich dich, unendliche Natur". In Vierter-Klasse sind Händl» emgestieg«, die zentnerweise Schilf aus den Seen bei Neuruppin nach Berfw schleppen, den berühmt«„Kalmus", d» Pfingstan in jed» Berlin » Stube prangt. Und so kommt es, wenn man diese Tagesarbeit auf d» Suche nach Naturmensch« mit d«m Pfingstfest in Gedankenverbindung bringt, daß man mit Humor zu der Erkenntnis gelangt.„Auf d« Kalmus piepen wir nicht!" N, Märkische Eigenbrötler. Wenn heute eine originelle oder wenigstens origin«l�-ich«M.nd<> Idee durch den Mund eines Mannes oder einer Frau ausgesprochen wird, finden sich gleich weitere„Anhänger" und die Sektenbildung ist vollzogen. Sehr oft schließt sich dann auch eine Koloniegründung oitf In früher« Jahrzehnten war dieser„Zug der Zeit" nicht so sehr zu bemerken, höchstens dann, wenn es sich um religiöse Dinge han-- delte. Ab» dort, wo es galt, in der Natur einfach, ohne Luxus, zu leb«, war d» Andrang nickst so groß: der Stadtmensch las gewiß gern von diesen Sonderlingen und Eigenbrötlern in seinem.Lntelli- genzblatt", ob» zog seine Mahagonimöbel und Polsterbetten und seinen sonntäglichen Schweinebraten doch dem Leben i la Robiisson vor. Von einigen Originalen alter Zeit hat Fontane in sein« „Wanderungen in der Mark" und„Fünf Schlössern" berichtet. Da ist zunächst der tolle„G e i st von Beeren", der seine eigenen Gedanken über die Landwirffchaft hatte und eine Schrift gegen den berühmten Landwirtfchastslehrer Tha» schreibt:„Die preußische Laninvirtschaft ohne T h e e r".— Als aber die Gegenschrift„die preußische Landwirtschaft ohne Geist" erschien, uvar» klug genug. den Streit aufzugeben. Er war meist mit den Behörden im Kample und liebt« es, seinen Spott drastisch zu äußern. Als in einem Jahre die Kicnraupen sehr zahlreich waren, und zu ihrer Bekämpfung die Negierung eine dem<Aicn Geist unpraktisch erscheinende Verfügung erließ, berichtete er wie folgt:„Ich bin in den Wald gegang«, habe den Kienraupen das Reskript einer königlichen Regierung oor--� gelesen und siehe da, die Raupen haben sich sämtlich tot gelacht." Sonderling mit wechselnden Neigungen, die aber schon ganz a» Strömungen unserer Zeit erinnern, war Graf Heinrich von
„Nadelstuhe" in QildenhäH.
Schlabrendorf, Sohn des friderizionisch« Ministers von Schlesien . Graf Heinrich nun hatte die merkwürdige Passion: seinen Schafen verordnete er zum Schutz gegen die.�Drehkrankheit" täglich drei Hoffmannstropfen auf Zucker und oersah sie mit roten Leibchen und Mützen... Dan» folgte d» Reifefimmel.„Beständiger Ortswechsel wurde ihm Lebensbedürfnis", aber ungleich Wilhelm II. , dem„Keisetaiser". liebte es dies» Arisw- trat, im allgemeinen die stein« Leute als sein« Gasig et»»«utp»: