Nr. 277.
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Ar 1895 unter Nr. 7128.
Vorwärts
12. Jahrg.
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Redaktion: SW. 19, Beuth- Straße 2.
Mittwoch, den 27. November 1895.
die Sozialdemokratie? Sie hat, seit Herr Tessendorf sie zu vernichten sich vermaß, in Preußen die Zahl ihrer Anhänger mehr als versechs facht.
Der Köller geht herum. Am gestrigen Tage wurde die Freiheit im Deutschen Reich glänzend illustrirt: In der neuen Kaiserstadt Berlin Es sind seitdem verschiedene Sankt George aufgetaucht. drang die Polizei ริน gleicher Zeit in 70 bis Sie wurden einer nach dem andern von der voranschreitenden 80 Wohnungen, nahm Einsicht von allen Papieren, draug Sozialdemokratie getessendorfft. Freilich es finden sich noch in die geheimsten Familienangelegenheiten, und beschlag- immer Liebhaber für die Rolle wir bewundern ihren nahmte Briefe und Schriftstücke ohne Wahl. Sie suchte nach Muth und gönnen ihnen das Fiasko, dem sie tapfer entBeweisen dafür, daß das preußische Vereinsgegengehen.
alles.
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Expedition: SW. 19, Beuth- Straße 3.
Buzug ist fernzuhalten!
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Genosse Kunert, Redakteur des Borwärts", und Genosse Päzold, Arbeitsvermittler des Metallarbeiter Verbandes, hatten ein Strafmandat von je 50 M. wegen groben Unfugs bekommen, weil sie im Vorwärts" gelegentlich des Streits gegen die Firma Welles die öffentlichen Aufforderungen Zuzug ist fernzuhalten" und" Buzug ist streng feruz halten" veröffentlicht batten. Beide hatten Widerspruch erhoben, und so stand die Sache gestern vor dem Amtsgericht I zu Berlin zur schöffengerichtlichen Verhandlung.
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geie verlegt worden sei. Verletzt dadurch, daß mehrere Aus der Herenküche der Reaktion, wo jetzt gar eifrig Vereine" mit einander in Verbindung getreten seien. gekocht und gebraut wird, ertönt ein Gewirr von Rufen. bestand zu, bestreiten aber, sich des groben Unfugs Die beiden Angeklagten geben selbstverständlich den ThatWir Deutsche , die wir an der Spitze der Zivili- und ein Ruf hebt sich aus dem Gewirr heraus schuldig gemacht zu haben; Bägold ging näher auf die Ent sation marfchiren", mächtiger sind als alle übrigen Nationen", Sächsische Praktiken! Die Praxis der hellen" stehungsgeschichte des Streits bei Welles ein, der nur wegen des und vor fremden Bölferu uns so gewaltig in die Brust Sachsen ! rücksichtslosen Vorgehens der Firma ausgebrochen sei. Das werfen, als seien wir die Herren der Welt zu Hause Sächsische Praktiken! das heißt, daß die Polizeigewalt Koalitionsrecht der Arbeiter sei praktisch ganz werthlos, wenn es haben wir nicht das Recht, frei mit einander zu verkehren; und die Strafgesetze aufs äußerste gegen die Sozial- nicht mehr erlaubt sein solle, die Arbeiter zu einem gemeinsamen und über Politik und andere öffentliche Angelegen- demokratie angespannt" werden sollen. Handeln gegen die Unternehmer öffentlich auszufordern. Wohin heiten dürfen wir nicht reden, ohne daß wir es Ju Sachsen, wo die Klassengegensätze am schroffsten folle es führen, wenn ein gefeßlich gewährleistetes Recht zu geAußer brauchen juristisch grober Unfug genannt würde? vorher der Polizei anzeigen, damit sie förperlich in und das Klassenbewußtsein am schärfsten ist, hat man dem habe, wie Kunert noch hinzufügte, kein Dolus zu einer strafbaren unserer Mitte sein und uns beaufsichtigen tann. So will diese Praxis feit anderthalb Jahrzehnten in ein System Sandlung vorgelegen, da ja in den Zeitungen sofort diese seit es das Vereinsgesetz" und Verein" ist in Deutschland gebracht. Nichts wurde dort unversucht gelassen, um die Jahren geübte Art von Aufforderungen unterblieben sei, nachDrei Menschen, die ein Geschäft leiten, drei Re- Sozialdemokratie zu vernichten". Haussuchungen, Maß dem einmal eine Verurtheilung bekannt geworden sei. dakteure einer Zeit ung, drei Vertrauenspersonen, die irgend regelungen jeder Art, Versammlungsverbote, Versammlungs- Der Am 13 anwalt Schröer beantragte gleichwohl eine einen Auftrag zu besorgen haben Verein, Verein, Ber- auflösungen, Verbot jeder Organisation, Auflösung aller Strafe von 50 M. event. 10 Tagen Haft für jeden Angeklagten ein, wenn die Polizei es will. Und wenn ein Verein" Vereine und aller Gewerkschaften, Konfiskation der auf grund der bekannten Reichsgerichts Entscheidung wegen mit einem anderen Verein" in einer Droschke zusammen- Rassengelder, nichts, aber auch gar nichts, was der Boykott. Rechtsanwalt Dr. Hersfeld führte dann fitt, kann es eine ,, verbotene Versammlung" sein, die streng pfiffigste Polizeiverstand ersinnen konnte, blieb unversucht. wirkungsvoller Rede aus, daß dieser Prozeß von großem bestraft wird. Und dazu drakonische Strafen. Die weitgehendste Aus- prinzipiellen Interesse sei, weil es sich darum handele, nugung des groben Unfugparagraphen. Förmliche Prozeß ob die Arbeiter das Recht, das ihnen in der Gewerbe- Ordnung epidemien. von 1869 zugestanden sei, noch weiter behalten sollten oder nicht; Und das Ergebniß? es sei für den Arbeiter eine Lebensfrage, feine Arbeitskraft so theuer wie möglich zu verkaufen; weil er aber isolirt dem Unter nehmerthum machtlos gegenüberstände, übe er auf grund des§ 152 meinsamen Vorgehen; das Naturrecht des einzelnen sei ganz logisch der G.-D. das Recht, sich mit seinesgleichen zusammenzuthun zum ge richtig auf die Gesammtheit übertragen. So fei es ein gefeßliches Recht der Arbeiter geworden, in einen Streit einzutreten, oder eine Sperre zu verhängen. Und im vorliegenden Falle habe die
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Seit die sächsische Regierung diese Taktik befolgt hat, befolgt unter dem Jubel und mit Unterstützung sämmtlicher tapitalistischen Parteien, hat die Sozialdemokratie die Zahl ihrer Anhänger in Sachsen verdreifach t.
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Was der Zweck der gestrigen Polizei Razzia war, wissen wir nicht, und es ist uns auch gleichgiltig. Denkt man an einen Monftreprozeß" wegen Verlegung des Vereinsgesches? An einen Geheimbunds- Prozeß? An die Auflösung der Wahlvereine? An die Auflösung der Partei? Wie gesagt, wir wissen es nicht. Wir zerbrechen uns auch den Kopf nicht. Die Polizei kann nichts thun, was uns überrascht, worauf wir nicht vorbereitet sind. Es ist ja alles auch schon dagewesen. In Preußen Und wenn Preußen und das übrige Deutschland das hatten wir einst die Aera Tessendorf. Wo ist sie? sächsische Beispiel befolgen, werden sie auch dieselben Früchte Organisation der Metallarbeiter resp. der Tischler im vollen Herr Teffendorff war vor 20 und mehr Jahren der Ritter ernten, wie in Sachsen . Auf dem politischen Schachbrett Rechte einen Streit erklärt und damit das den weit auseinanderSankt Georg, der den Lindwurm, die Sozialdemokratie er- haben sie feinen Zug, für welchen wir nicht den wohnenden Kollegen bekannt würde, hätten sie in die und Ankündigung Aufforderung erlassen. legen wollte. Er war für Preußen der Erfinder des Systems Gegenzug hätten. neuen Spieler Breffe Wenn das verboten werde, dann nähme man den Köller. Wo ist Tessendorff heute? Was ist er? Dann und wann werden nicht mehr Glück haben, als die alten. bei Prozessen, für die man meist aus sehr guten Gründen die Wir sind sicher zu gewinnen. Die Sozialdemokratie hat man ihnen gesetzlich zugeftanden habe. Leidenschaftsloser, objektiver Arbeitern- obwohl unabfichtlich durch die Jurisdiktion, was Deffentlichkeit ausschließen muß, figurirt er als Ober- eine Helferin, die uns nicht verlieren läßt: die Logik der und gemäßigter hätten die Bekanntmachungen aber gar nicht geReichsgerichtsanwalt. Sonst ist er ein stiller Mann. Und Thatsachen. Wer die Partie mit uns wagt, wird matt. fchehen können, als in dem vorliegenden Falle. Ueberhaupt
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Ein Verrückter.( Nachdr. verboten. Kampf und Ende eines Lehrer 3. Roman von Joseph Ruederer.
Möge es Sr. Exzellenz beschieden sein, in unseren Bergen die Erholung von der aufreibenden Thätigkeit im Staatsdie Gattl brach die Lektüre ab.
Der Minister hier? Das war der einzige Mensch,
Die Nur zu!
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der
arzt und dem Forstmeister hervortrat, gehörte der Gattin ich im Namen der Mariakirchener Bevölkerung Seiner des Herrn Bahnhofexpeditors. Ihr saß der griesgrämige Exzellenz unterthänigst danken darf für die hohe Ghre des Rentbeamte mit der Frau des Herrn Obergeometers gegen alljährlichen Besuches. Möge Möge das ist unser über. Diese trug ein oft gewaschenes, cremefarbenes Kleid aller Wunsch, Seine Exzellenz und hochdero Familie in und unterhielt sich lebhaft mit dem immer lächelnden Herrn unseren Bergen Kräftigung und Genesung finden, möge das Amtsrichter. Um die hochschulterige, dürre Tochter des Be- Flehen von tausend Herzen unseres fernigen, unverfälschten zirksamtmanns, die ein rofaseidenes Gesellschaftskleid und Gebirgsvolls erhört werden, möge Seine Exzellenz wieder Blumen im Haar trug, bemühte sich ein kleiner, frumm- mit neuen Kräften an die schwere Aufgabe gehen, das nafiger Rechtspraktikant, der ihr auffallend den Hof machte schwankende Staatsschiff zu leiten... zu leiten, zum Wohl und sich niemals nach der Seite drehte, wo die einfach von uns allen!
Die Musik fiel mit schmetterndem Tusch ein und spielte
gekleidete Frau des Bezirksoffizianten faß. Ihr merkte man Mit gütiger Erlaubniß des Herrn Defans und des der noch helfen konnte! Balder mußte ihn aufsuchen, an, daß sie in diesem Kreise nur eine Geduldete war, denn Herrn Bezirksamtmanns bitte ich alle Anwesenden mit mir so bald als möglich! Aber halt! Balder war ja noch sie wagte kaum die Augen aufzurichten und ihren Nachbar, einzustimmen in den Ruf: fern und bis er zurückkehrte, konnte ja schon alles zu spät den Redakteur vom Mariatirchener Boten anzublicken. Seine Erzellenz, der Herr Minister Dr. von Schulz, sein! Wann findet die Feier statt? Am 3. Juni? Das Dieser, ein fettbäuchiger, unterscßter Mann mit Hängebacken er lebe hoch, hoch, hoch!" war ja heute! Wenn er selbst zum Minister ginge? Aber und goldener Brille, schloß sich an die lange Reihe der das war ja heller Wahnsinn! Einen so hohen Herrn an- weiteren Gäste an, die ohne weibliche Gesellschaft an der die Nationalbynine. reden! Und doch geschehen mußte etwas, denn das zer Tafel saßen und ihre Zigarren in wohl abgemessenen Bauſen fuitterte Schriftstück in der Tasche braunte wie Feuer. Mit festem Entschlusse sprang der Lehrer auf und eilte zum Munde führten. Ueber der ganzen Versammlung lag jetzt, wo die laute Musik aussette, jene andächtige Halbstille, die die Anwesen Was er vorhatte, wußte er selbst noch nicht recht, jedenheit einflußreicher Persönlichkeiten hervorzubringen pflegt. falls aber wollte er einmal in den Gasthof gehen, wo man Man unterhielt sich mit sanftem Gemurmel und richtete die das Fest feierte. Augen stets so vorsichtig auf den Platz des Ministers, daß es nie unangenehm auffallen fonnte.
in's Freie.
Unmittelbar darauf erhob sich der Minister. Freundlich lächelnd ließ er erst seine Blicke über die ganze Gesellschaft gleiten, die gespannt an seinen Lippen hing. Seine Sprech weise zeichnete sich durch eine vornehme Ruhe aus und man merkte ihr außer der genauen Ueberlegung eines jeden Wortes auch eine gewisse Zurückhaltung und Vorsicht an. Leichte Handbewegungen begleiteten die Rede.
Am start besetzten Geländer der hochgelegenen Musik- Eine blaue, qualmende Wolke kroch über die Geselltribüne gelang es dem Lehrer noch ein Blätzchen zu erhaschen schaft dahin und setzte sich zwischen den Petroleumlüftern Sie bereiten mir hier einen Festabend, der, was meine und einen Blick über den ganzen Saal zu gewinnen. Neben fest, träge und schläfrig.
Meine verehrten Damen und Herren! Ich befinde mich Ihnen gegenüber eigentlich in einiger Verlegenheit. Person anlangt, ein unverdienter genannt werden muß. Gestatten Sie mir daher, daß ich diese schönen Stunden lediglich als Ausdruck Ihrer treuergebenen Gesinnung für das gemeinsame Band auffasse, das uns alle umschlingt: für unser Vaterland!
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ihm bliesen die Musikanten, daß der Boden zitterte. Er Da erhob sich der Herr Redakteur sehr wichtig von mußte lange suchen, bis er den Minister fand, weil vor dem seinem Stuhle und flopste mit dem Zinndeckel mehrmals Ehrenplage der hufeisenförmig aufgestellten Tafel ein auf seinen Bierkrug. Alles drehte sich zu ihm und lauschte riesiger Strauß von rothen Mohnblumen stand, der den seinen Worten. Gefeierten etwas verdeckte. Also, er war wirklich da in-" Hochverehrte Festversammlung!" begann er mit einem Nicht mit unrecht hat der Herr Vorredner bemerkt, mitten der sämmtlichen Honoratioren Mariakirchens! Neben sonoren Baßorgane.„ Es ist eine schöne Sitte... eine daß es ein biederes ich möchte abfichtlich beifügen- ihm saß die Frau Bezirksamtmann in einer grauseidenen schöne Sitte... und wir sind es ja gewohnt, daß das gottesfürchtiges Volk ist, das in diesen Bergen wohnt, und Toilette mit zum Plazen engen Aermeln und schwarzem hohe Beamtenthum unseres Vaterlandes in so loyaler als langjähriger, trener Gast kann ich Ihnen sagen, daß Spißenbesatz. Auf der anderen. Seite befand sich die Frau Weise mit uns Bürgern von Stadt und Land zu verkehren gerade dieser Bezirk unserem allergnädigsten Herrn Die hohe Oberamt srichter in lilafarbenem Kleide, das an den Hand- die... die Güte hat. Aber selbst die höchsten Stellen des ganz besonders ans Herz gewachsen ist. geleuten weiße Atlasschleifen verzierten. Dann tam der Beamtenthums meugen fich ja bei uns ins Volk und ver- Fürsorge unseres allerdurchlauchtigsten Herrschers für ein leuchtendes Herr Apothefer mit der Frau des Bezirksamts- Assessors. fehren da in der herzlichsten Weise, wie mit ihres jeden seiner Unterthanen ist mir Diese trug über dem braunen Satinkleide eine rothe Korallen- gleichen. Ein solches Beispiel giebt, treu der Ueber- Vorbild und ist es jedem Beamten unseres Landes. unferes erhabenen fette und blickte ärgerlich auf die Frau des Kreisthierarztes, lieferung Herricherhauses, unser Teshalb auch die strenge Pflichterfüllung, deshalb auch die ein weißgemustertes, hellblanes Sommerkleid schmückte. hoch verehrter Gaft, Eeine Exzellenz der Herr Mi der Grund, warum jedem Angehörigen sein Recht wird und Der Herr Bezirksamts- Assessor hatte sie zu Tische geführt. nifter Dr. von Schulg. Mir... Mir... Mir als deshalb auch das herzliche Verhältniß zu ischen Beamten und Lie tuallrothe Robe, die zwischen dem Herrn Bezirks. Eingeborenem ist die Auszeichnung zutheil geworden, daß Bürgern. ( Fortschung folgt.)