föeifage Mittwoch, 30. Mai 1928
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Ueber den blauen Fluten des Genfer Sees liegt leuch- tender Sonnenschein. Dem wolkenlosen Himmel und der schimmern- den Wasserfläche, die am Horizont in eine einzige Ebene zusammen- fließen, entströmt ein Meer von Glanz und Licht. Es hüllt das alte Genf in feine Strahlen ein und verwandelt es in eine herrliche Farbensinfonie. Das sst die Wirkung einer jener unverglcich- lichen Tage, wie sie nur der Süden kennt. Ein Tag, an dem nicht nur die grünen Parkflächen, die Landhäuschen und Villen, die prunkenden Strandcafcs und Hotels, sondern auch die alte Kathedrale pnd die engen winkligen Gassen neues Leben empfangen. Ein be-
Blich auf den Montblanc. rauschender Duft von Lebensfreude und Jugend liegt über der allen Stadt. Die breiten Derkehrsstrahen, die Boulevards, die gepflegten Rcstaurationsräum« der großen Luxushotels, die Landungsstege— alles ist überfüllt von einer Menge lachender, festlich gestimmter Men- schen. Pfeilschnell huschen die„moueUes", die„Mooen", zierlich« kleine Verkehrsboote, dahin, kreuzen geschickt zwischen Segel- booten und großen Vertehrsdampfern hindurch. In der Ferne taucht ein kleines Dörfchen auf.' Es ist Gran b Saconnet. Ein wundervoller Rundblick auf die Alpen öffnet sich. Weiß schimmernd leuchten die schneebedeckten Riesen der Berg- kette herüber. Ueber dem gewaltigen Gletscher des Montblanc liegen bläuliche Schatten, die dem hellen Bild eine düstere, geheimnis- volle Färbung geben. Weiter führt der Weg auf einer breiten, fchat- tigen Landstraße, der einstigen großen Handels- und Derkehrsoer- bindung zwischen Genf und Paris . Heute fährt die Elektrische hier zu einigen Ausflugsorten, und Autos und Motorräder rattern durch die Stille. In kurzer Zeit sind wir in Ferney-Voltaire , einem sauberen kleinen Städtchen, dem einstigen Wohnsitz des großen jranzösischcn Freigeistes und Schriftstellers Boltaire. In diesem kleinen französischen Winkel, hart an der Grenze, hatte er sich nach seiner Rückkehr aus Preußen angesiedelt. Das Städtchen, damals ein elender, verarmter, kleiner Flecken, gehört zu dem
Das Landhaus follaire». Ländchen G ex, das vom eigentlichen Mutterland fast vollkommen getrennt ist. Auf der einen Seite umschließen es die Höhen des Iura, auf der anderen rauscht der gefährliche, reißende Bergstrom die Dalserine, deren Bett bis zu öll Meter tief ist. In diesem abgelegenen Winkel, der nichts besaß, als seine herrliche Naturschön- heit und sein mildes Klima, hatte der Vielbefehdcte und Verfolgte die Wohnstötte gesunden, die ihm zusagte:„Ich stütze meine Linke auf den Iura/ schrieb er,„meine Rechte auf die Alpen , und ich habe den Genfer See meinem Grundstück gegenüber. Ich besitze außer diesem Schlößchen an der französischen Grenze meine„Einsiedelei". Le Hermitage, im Bereich der Stadt Genf , und ein festes Haus in Lausanne . So kann ich von einem Schlupfwinkel in den anderen kriechen. Denn es ist stets notwendig, daß die Philosophen zwei oder drei unterirdische Löcher haben, damit die verfolgenden Hunde sie »icht fassen können,. ,*
Der abgeschiedene, ärmliche Ort wurde durch Voltaires Auf- enthalt zu einem geistigen Zentrum Europas. Von hier gingen Tausende von Protesten gegen Fanatismus und Unduldsam- keit, gegen Leibeigenschaft und Frondienst, in die Welt hinaus. Reben dieser schriftstellerischen Arbeit wandte sich Boltaire in Ferney vor allem auch kolonisatorischer und kommunaler Tätigkeit zu. Der arme Flecken blühte auf unter seinen Händen. Er besaß die Mittel, um neue landwirtschaftliche Verbesserungen einführen zu können, um die Verluste schlechter Ernten auszugleichen. Er konnte als reicher Schloß- und Gutsbesitzer Straßen anlegen und Oedland in Weide- flächen verwandeln lassen, er besaß die Anziehungskraft, um Kolonisten zum Anbau zu veranlassen. Gewiß gingen hier soziales Wirken und persönliches Interesse Hand in Hand, und dos Eintreten Vol- taires für feine Siedler, feine Bemühungen um die Verbesserung ihrer Lage find eng mit seinem eigenen Bestreben, sich eine günstige Kapitalsanloge durch den Kauf von Ländereien zu erwerben, oer- knüpft. Trotz dieser geschäftstüchtigen Seite Voltaires aber darf man nicht vergessen, daß der Patriarch von Ferney viel Gutes leistete, das der Allgemeinheit, wie den einzelnen Familien, großen Nutzen brachte. Er sorgte mit einer rührenden Sorgfalt für arme Witwen und Waisen. Er ließ ihnen Wohnungen bauen, pachtete chr Land und bezahlte einen Zins, der ihnen ein auskömmliches Leben ge- stattete. Als Voltaire nach Ferney zog, bestand der Flecken aus wenigen primitiven Bauernhäusern, in denen Not und Elend herrscht«. Als der Philosoph nach Zvjährigem Wirken starb, standen über 100 hübsche, geräumige Häuschen in Ferney, umgeben von weiten Feldern, von Weinbergen und Rasenplätzen. Aber nicht nur dem Ackerbau hatte sich Voltaire gewidmet, sondern auch die Industtie fand in ihm einen aufmerksamen und stets gebefreudigen Förderer. Auch heute noch, nach eineinhalb Jahrhunderten, ist Voltaire in Ferney unvergessen. Der Fremde, der zum erstenmal hier weilt, ist überrascht über die Fülle von Erinnerungen und Er- Zählungen, die jetzt noch im Volke lebendig sind. Und wenn man dann durch die Räume des alten Schlosses schreitet, an hohen, vergoldeten Spiegeln und Oclgemälden, an zierlichen Sesseln und be- haglichen Kaminen vorüber, wenn man von den Fenstern aus die blühenden Gärten, dos fruchtbore Land überblickt, dann gewinnt man
Zeichnungen von Krominer. ein lebendigeres Bild von dem Leben Voltaires , als es Bücherweis- heit jemals zu vermitteln vermag. Vieles hat sich feit dem Tode des Philosophen in Ferney verwandelt. Alle Neuerungen der Technik und der'Industrie, denen sich auch die kleine Stadt nicht entziehen
Denlmal in Ferney . konnte, haben dazu beigetragen, das Bild zu verändern. Eines aber ist unverändert geblieben: Wenn man auf die große Terrasse des Schlosses tritt, so grüßt aus der Ferne der blaue See, und der mächtige Gipfel des Montblanc ragt empor in den Himmel. Dann glaubt man Voltaire zu verstehen, man glaubt zu wissen, warum er gerade hier seine letzte Heimat fand.
WAS DER TAG BRINGT. iniiiMiiiiiiiiiniiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiinimniiiiiimnnMiiiMMiiiiiiiimmiiiiiiiiiiiiiniiinnimnniinniiiiiiniiiiiiiiminiiiiiiiiiniitiiiininiiiiiiiuiiiiiiiniiiiniMiiniiiiiiiiiiiiimMiiiiii
Der ewige Schmock. Zweierlei gibt es, den Journalisten und den Schmock. Eine der schönsten, ausgewachsensten, beispielhaftesten, typischsten Schmock«- reien stand dieser Tage im„Berliner Mittag" zu lesen, jener Neu- gründung eines der aufgeblähtesten Wichtcriche der Berliner Presse, des Dr. Paul Oeftreich(der> wie man immer wieder betonen möchte, nicht mit dem gleichnamigen, verdienstvollen und sympa- thischen Schulreformer zu verwechseln ist). Da heißt es also in einer Notiz, die sich mit dem Berbleib des Luftschiffes„Jtalia" be- faßt, folgendermaßen:„Es ist sonach alles gekommen, wie es kommen mußte. Der„Berliner Mittag" hat bereits am 10. Mai die ganze Expedition als ein„Wagnis", das ebensogut glücken, wie mißglücken kann" bezeichnet... Wir haben leider mit unseren Befürchtungen recht gehabt..." Hier muß man einmal jedes Wort auf der Zunge zergehen lassen. Der„Berliner Mittag" hat also am 10. Mai, nach dem Schema:„Es kann regnen, es kann auch schnein, es kann auch schönes Wetter sein", dem Wagnis der„Jtalia" die Prognose gestellt, daß es entweder glücken oder mißglücken müsse. Richtig! ist hier einzuwenden, sehr richtig! ein Drittes gibt es nämlich nicht. Und fürwahr, das Wagnis tat das ein« von beiden: es mißglückte. Woraufhin sich das mtt Prophetenblick begabte Blatt in die Brust wirft und feststellt, daß es recht gehabt und alles vorausgesehen habe. Der Schmock, wie er leibt und lebt! Der Schmock, wie man ihn photographieren muß! Der ewig großmäulige, olles besser wissende, gottähnliche Schmock, der nichts weiß, nichts kann, nichts gelernt hat; außer diesem einem: unter ollen Umständen recht zu behalten. Glückt der Flug der„Jtalia", dann hat er's vorhergesagt. glückt er nicht, dann hat«r's auch vorhergesagt und glückt er zur Hälfte, dann hat er natürlich erst recht ins Schwarze getroffen. Denn er hat es ja gleich erkannt, scharfsichtig, wie er ist, daß ent- weder alles gut oder alles schief gehe, oder daß sich etwas ereignet, was dazwischen liegt. So zieht er sich aus der Affäre, der Schmock, wenn es sich um ein objektives Ereignis handelt. In den weitaus meisten Fällen aber handelt es sich nicht um tatsächliche Nachrichten, die einer einwandfreien Kontrolle unterliegen, sondern um subjektive Wcrtunaen und Meinungen. Dann erst ist Schmock ein wirtlich freier Mann. Dann erst fallen die letzten Fesseln von ihm ob und er braucht sich nicht zu der Kanzcssion herablassen, von einer Sache zu sagen, daß sie entweder glücke oder mißlinge, sondern er kann wohlgemut weissagen, daß sie auf alle Fälle glücke. Ist sie dann dennoch mißlungen, so möchte er. wofern er nur Druckpapier und Setzmaschine zur Verfügung hat, den sehen, der ihm ausredet, daß er nicht dennoch recht behalten habe. Hans Bauer. Transfusion und— Blutsverwandtschaft. Die West ist vor ein neue» Problem gestellt: Darf ein Mensch einen andern heiraten, wenn er mit ihm durch eine Blutübertragung gleichsam blutsverwandt geworden ist? In Brüssel hat sich der Fall ereignet, daß ein junger Mann zur Rettung seiner Verlobten die erforderliche Menge seines eigenen Blutes hergab und daß beiden nun durch den Arzt die Eheschließung untersagt wird, weil ja beide nun miteinander blutsverwandt seien. Dr. D e b u l e, der dieses Verbot ausgesprochen hat, gibt dafür moralische und physio- logische Gründe an. Die sungen Leute sind allerdings nicht an das
I Verbot gebunden, selbst wenn sich die Kirche der Ansicht des Dr. Dä- bule anschließen sollte, da in Belgien auch die nur standesamtlich geschlossene Ehe Gültigkeit hat. Eine Oer ich tsgro teske. Ein vierzehnjähriger Lehrling klaut, verleitet durch den Ge» sellen, bei seinem Sattlermeister einig« Lederstücke. Der Geselle wird abgeurteilt. Der Junge wird zwar vernommen, seine Sache gerät aber in Vergessenheit. Das war im Jahre 1S08. 20 Jahre später, also vor einigen Tagen, erhält der nun Vierunddreißigjährige eine Ladung als Angeklagter in einer Diebstahlssache. Nanu, eine Dieb- stahlssach«? Woher denn? Vor Gericht erfährt er, daß es sich um seinen Dummenjungenstreich von anvc> 1008 handele. Zwanzig Jahre brauchte die Iustizia, um sich der Sache zu«rinnern. Ja, Gottes Mühlen mahlen langsam. Eine Verjährung war nicht eingetreten, da ja eine Bernehmung stattgefunden hatte. Der Staate- anwalt bat um ein den Umständen gemäßes Urteil. Das Gericht in Wien , wo die Geschichte passiert ist, sprach den Angeklagten zwar schuldig, sah jedoch von einer Bestrafung ab. Schuldig nach zwanzig Iahren! Das Attentat auf den Denker Saccos und Var.zettis. Sacco und Vanzetti finden Rächer,— allerdings nicht auf die rechte Art. Anarchisten haben versucht, in New Fort Saccos und Banzettis Henker Robert Elliot und dessen Familie durch Bomben in die Luft zu sprengen. Sein Häuschen in Long Island ist zerstört: er, Frau und Kinder, die die Explosion im Schlaf über- raschte, fanden noch Zeit, in den Garten hinunterzugehen. Kaum hatten sie die Straße betreten, da stürzten auch schon die Wände des Hauses ein. Elliot hatte während der ganzen Zeit nach der Hin- richtung von Sacco und Banzetti Drohbriefe erhalten. Es hieß darin, daß beide Hingerichtete gerächt werden würden. Eine Zeit- lang wurde sein Haus bewacht, dann glaubt Elliot, daß ihm keine Gefahr mehr droh«, bis am 18: Mai in dem Vorort Richond Hill die Detonation erfolgte. Alle Versuche der Polizei, der Attentäter habhast zu werden, blieben bisher erfolglos. Eine Anzahl Anarchisten ist verhaftet worden. Die Ehrfurcht vor dem Papier. Der Mohammedaner, der weder lesen noch schreiben kann, hebt jedes bedruckte oder beschriebene Fetzchen Papier sorgfältig auf, denn es könnte ja unter Umständen ein Satz aus dem Koran sein, der auf dem Papier steht. Ein ähnliches Verhalten dem bedruckten Papier gegenüber begegnet man in China . In der Internationalen Ansiedlung von Schanghai sind auf den Straßen an eingerammten Pfählen tausende von kleinen Hol,zkästchen oder Leinenbeutel be- festigt: achtlos geht der Fremd« an ihnen vorüber, ober der Ein- geborene benutzt sie eifrig. Es ist ein ganz gewöhnlicher Anblick. selbst vornehm angezogene Chinesen zu sehen, die Papierstückchen von der Straße aufheben und in die Kästchen legen, gleichgültig. ob es sich um einen alten Zeitungssetzen oder um ein beschriebenes Blatt handelt. Die Folge davon ist, daß die Straßen im Inter - nationalen Biertel, soweit Papierfetzen in Frage kommen, sauberer sind als die Straßen mancher europäischen Hauptstadt.