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Morgenausgabe Jtr. 271
A 142
45. Jahrgang
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P> Berliner   Voltsblatt
Oonnersiag 1.4. Juni 1928 Groß-ÄerlinlOpf. Auswärts 45 ps.
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röffnung des Reichstags.
Würdiger Verlauf der ersten Sitzung.
Der Reichstag   wurde gestern mittag eröffnet. Schon lange vor 3 Uhr war das Parlamentshaus voller Menschen, vor dem Eingang in der Simsonstraße harrte eine Menge der neuen Volksvertreter, die Tribünen waren schon lange vor Beginn mit interessierten Besuchern überfüllt. D i e A b- geordneten strömten früher in den Sitzungssaal als sonst, aalt es doch für die Mehrzahl, sich ihre neuen Plätze zu suchen. Ganz links vom Präsidentenstuhl aus betrachtet sah man an Stelle der abgesägten Lintskommunisten ein Bäckerdutzend meist junger Gesichter: die neue Garnitur kommunistischer Abgeordneten, die sich wohl vorkamen wie Knaben, die ihren ersten Schultag erleben: einen von ihnen hatte seine Mutter nicht in den richtigen Anzug gesteckt, er trug als Rotfrontmann Uniform, während auf der Rechten die ehemaligen Offiziere und Soldaten in bürgerlicher Kleidung erschienen. Die Kommunisten füllen den ersten Ausschnitt der Sitzreihen. Der zweite und dritte ist jetzt von der weitaus stärksten Fraktion des Hauses, den 1S2 Sozialdemokraten be» setzt: die Sommerkleider der 20 Frauen unter ihnen geben diesen Bänken einen helleren Farbton als den anderen. Die Sozialdemokraten haben die Demokraten vom dritten auf den vierten Kreisausschnitt verdrängt: ihr« dünne Linie ein Mann sitzt hinter dem anderen trennt die Sozialdemokraten von den Zentrums- l e u t e n, die dei? mittleren Sektor des Saales ein- nehmen. Rechts von diesen ist wieder die Voltspartei pla- ziert, an sie schließen sich Wirtschaftspartei. Bayerische Volks- partei und die bürgerlichen Splitter an; sie besetzen weithin die Bänke, die früher die Deutschnationalen inne- hatten. Die, in der Wahl arg zusammengehauen, besetzen nur noch die äußersten Reihen ganz rechts hin. Ueber ihnen find die Sessel der Reichsregierung leer. Auf der anderen Seite schauen die Ländervertreter dem Reichstage zu. Aus allen Ministerien, trotzdem sie keine Minister haben, sind in Scharen die Beamten zu dem Schauplatz gekommen, auf dem sich die höchste politische Körperschaft der deutschen Re- publik konstituiert. Dann trat der älteste Abgeordnete des Hauses, der 8Zjährige, auf den Platz des Präsidenten. Es ist Genosse B o ck- G o t h a, der nun zum drittenmal als Alters- Präsident die Glocke schwingt, die den neuen Reichstag einläutet. Mit ganz wenigen, schlichten Worten sprach er von den Opfern der Reichsbahnkatastrophe in Bayern   deren in Trauer zu gedenken Abgeordnete und Besucher sich erheben und gedachte in zu Herzen gehender Weise der sozialen Pflichten des Reichstags gegenüber den Entrechteten, den Armen, den Kriegsopfern, den Kleinrentnern und ausge- steuerten Erwerbslosen. Dann begann der Namensaufruf der Abgeordneten. 462 von den 491 Gewählten waren erschienen. Man wird über- legen müssen, ob diese Zeremonie noch Sinn hat. Sie stammt aus der Zeit, wo diegeistlichen und weltlichen Herren" und die Abgeordneten der Gemeinden Englands auf schlechten Wegen zu Pferd oder im Wagen sich langsam in London   ver- sammelten, und es oft Tage, manchmal eine Woche und noch länger dauerte, bis eine beschlußfähige.Mehrheit oersammelt war, die das Parlament dann als konstituiert er- klärte. Wo heute mit der Bahn stets sicher die über- wältigende Mehrheit der Abgeordneten am ersten Tage an- wesend ist, erscheint diese Sitte nur als ein ideologischer Ueber- rest, der aus alter Zeit stehen blieb, während die gesellschaft- lichen Verhältnisse sich längst umgewandelt haben. Der Preußische Landtag hat übrigens dieser Umwälzung der Ver- kehrsoerhältnisse durch Abschaffung des Namensaufrufs längst Rechnung getragen. Als der Alterspräsident das Haus beschlußfähig erklärt hatte, stieg die Spannung der Tausend, die gekommen waren, die Geburtsstunde des dritten Reichstags zu erleben. Würden die Kommunisten sich wieder, wie im Landtag, wild auf- führen und auch das Reichsparlament vor der Bureaukratie beschämen? Nein, sie betrugen sich gesittet. Genosse Bock gab von ihrem Freilassungsantrag für einen inhaftierten W- geordneten Kenntnis und ließ dann ihren Amnestie- gesetzentwurf und einen Antrag des Zentrums auf Aus- zahlung von Geldern für die besetzten Gebiete verlesen: beide Anträge wurden auf die Tagesordnung für heute gesetzt. So ging der erste Parlamentstag würdig vorüber. Heut« nachmittag um 2 Uhr findet die zweite Sitzung statt, in der der Präsident, die drei Dizeprästdenten und da« übrige Bureau für die Dauer de» Reichslage» gewählt werden sollen.
Der Reichstag   war gestern bei seiner ersten Sitzung dicht besetzt. Alterspräsident Abg. Bock- Gotha(Soz.) eröffnete die Sitzung. Er stellte fest, daß er am 2S. November 1846 geboren, also mit 82 Jahren das ölte st e Mitglied sei. Alters- Präsident Bock gedenkt zunächst, während sich die Abgeordneten von den Sitzen erheben, der furchtbaren Eisenbahntotastroph« bei Siegelsdorf   und spricht den Hinterbliebenen der Opfer das herzlich« Beileid des Reichstages aus. Er beruft dann zu Schristführern die Abgg. Dr. Philipp (Dtn.), Frau Teusch(Ztr.), Torgler  (Komm.) und Runkel  (D. Vp.). Ansprache des Alterspräsidenten  . Der Reichstag  , so führt der AUerspräsident in einer kurzen Ansprache aus, steht vor großen Aufgaben. Millionen er- warten von ihm die Linderung ihrer Rot, die Witwen und Waisen, die Kriegsinvaliden, die Sozialrentner und Kleinrentner. Der Reichstag   kann diese Not lindern, wenn er will.(Rufe bei den Rat.- Soz. und Komm.:Er will aber nichtl Laßt alle Hoffnung fahren!") Die Gefahren, die dem Volke aus einer übermächtigen Kon- zernwirtschaft drohen, gilt es zu bannen. MSg« das dem Reichstag gelingen. Schriftführer Abg. Dr. Philipp(Dtn.) nimmt darauf den Namensaufruf vor. Beim Aufruf des Abg. Dr. v. K« u d e l l (Dtn.) kommen von den Kommunisten, bei dem Namen Koch- Weser(Dem.) von den Nationalsozialisten höhnische Zuruf«. Beim Aufruf des Abg. Künstler(Soz.) rufen die KommunistenDer Einseifer!". Auf den kommunistischen Abg. Leow wird von den Sozialdemokraten mit lauten Zurufen hingewiesen well er in der Uniform des Rotfrontbundes mit roter Armbind« erschienen ist. Wg. Dr. Marx(Z.) wird von links mit dem RufReichsbanner- kamerad a. D.I" begrüßt. Am Schluß des Nomenaufrufs stellt der Alterspräsident Bock fest, daß 468 Abgeordnet« anwesend sind, das Haus also beschlußfähig ist. Die ersten Anträge. Der Schriftführer verliest dann die handschrifllich«ingegangenen kommunistifchen Anträge. Tin Antrag oerlangt die Hastent- lasfung de» kommunistischen Abg. Kippenberg« r. Ein anderer fordert die Amnestierung der politischen Gefangenen mit Ausnahme der Fememörder. Ein Zentrumsantrag for- dert schleunig« Hilfsmaßnahmen für das besetzte Gebiet. Ein deutsch  - nationaler Antrag verlangt allgemeine Amnestie für po- lltisch« Derbrechen mit Ausnahme des Landesverrats und des Ver- rats militärischer Geheimnisse. Der Antrag erstreckt sich auch auf Disziplinarverfahren gegen Beamte. Alterspräsident Dock schlägt vor, sämtliche verlesenen Anträge auf die Tagesordnung der Donnerstagsitzung nach der Wahl des Präsidium» zu setzen. Abg. F r i ck(Rai.-Soz.) verlangt unter miß­billigenden Zurufen anderer Abgeordneter das Wort zur Geschäfts- ordnung und überreicht einen Antrag. Alterspräsident Bock erklärt unter Zustimmungsäußerungen der Mehrheit, er erteile jetzt nicht das Wort zur Geschäftsordnung, werde aber den eingereichten Antrag mit auf die Tagesordnung fetzen. Um 16 Uhr stellt der Mterspräsident das Einverständnis des Hauses damit fest, daß die nächst« Sitzung am Donnerstag 14 Uhr stattfindet und auf die Tagesordnung die Wahl de» Bureaus und die eingereichten Anträge gefetzt werden. Wer wird S. Mzeprästdent? Di« Kommunistische Reichstagsfraktion hat am Mtttwvch beschlosien, Anspruch auf das Amt des 3. Vizepräsidenten zu erheben. Als Kandidat soll der Abgeordnet« G e s ch k e in Vor» schlag gebracht werden. Die Reichstagsfrottion der Bolkspartei hat beschlosien, für den Posten des dritten Vizepräsidenten des Reichstags den Abgeordneten v. Kardorff vorzuschlagen. Kar- dorff ist damit starker Gegenkandidat. Die endgültige Stellung- nähme der Sozialdemokratischen Fraktion zur Wahl der Vizepräsidenten wird in einer Sitzung am Donnerstag vormittag erfolgen, nachdem die Koinmunistifche Fraktion erNärt hat, ob sie bereit ist, die Boraussetzungen zu erfüllen, nämlich die Geschäfts- ordnung und die Ansprüche der stärkeren Parteien anzuerkennen. Eine neue Fraktion? Zwischen der Deutschen   Bauernpartei, der Thristlichnationolen Bauernpartei und der Deutschhannoverschen Partei sind heute im Reichstag   Derhandlungen über einen Zusammenschluß dieser Trupp« Ml einer Frattionsgemeinschaft Angeleitet
worden Diese Derhandlungen haben bisher noch nicht zu einem Resultat geführt und werden nach der Plenarsttzung fortgesetzt werden. Cisenbahnkatastrophen. Don K. Scheffel, M. d. R., Vorsitzender des Ginheüsverbandes der Eisenbahner. Im Laufe der letzten Jahre waren zahlreiche Zugentglei- sungen und ähnliche Unglücksfälle zu verzeichnen, die Grauen und Entsetzen verbreiteten. Wir leben geradezu in einer Zeit der sich häufenden Zugkatastrophen. Die Zahl der Todes- opfer und der Schwerverletzten ging in den verschiedensten Fällen in die Dutzende. Bei dem letzten furchtbaren Un- glück in der Nähe von Siegelsdorf   fuhren wiederum 24 Men- sechn nichtsahnend in den grausigen Tod. Die Oeffentlichkeit verlangt mit vollem Recht eine restlose, peinlich genaue Untersuchung der Ursache dieses lata- strophalen Unglücks. Der ganze behördliche Apparat ist in Siegelsdorf   bereits in Funktion getreten. An sich ist nicht anzuzweifeln, daß man sich in jedem Falle bemüht, den Ur- fachen derart trauriger Ereignisse auf die Spur zu kommen. Es ist selbstverständlich, daß sich die Sachverständigen dabei einer gewiffen, von einem hohen Verantwortlichkeitsgefühl getragenen Zurückhaltung befleißigen, bis sich näheres
ergeben hat. Der letzte schwere, bei Leiferde   durch ein Ver- brechen verursachte Unglücksfall nötigt zu weiser Vorsicht. Nichtsdestoweniger und vor allen Dingen im Interesse des reifenden Publikums hat a l l e s zur Erhöhung der Sicherheit des bedeutendsten Verkehrsmittels, der Eisenbahn, zu ge- schehen. Gewiß ist es nur zu loben, wenn im vorliegenden Falle in möglichst kurzer Zeit Hilfszüge zur Stelle waren und eine umfangreiche Hilfsaktion in die Wege geleitet wurde. Ebenso dringend erforderlich und noch wichtiger ist aber die Aufgabe der Eisenbahnverwaltung, Unglücksfälle zu verhüten oder sie auf ein menschenmögliches Maß zu beschränken. Der Fall Siegelsdorf dürfte den mit der Untersuchung betrauten Instanzen eineharteRußzu knacken geben. Schon der Laie weiß, daß einer Eisenbahnkatastrophe die verschiedensten Ursachen zugrunde liegen können. Mitunter ist sie zurück- zuführen auf das Wirken der Naturgewalten: starker anhal- tender Regen oder«in Woltenbruch kann den Damm unter- spülen. Der Zug kommt ins Rutschen, Schwellen und Gleise verlieren den erforderlichen Halt. Materialschäden und Ma- terialbrüche sind ebenfalls, trotz der Güte des gerade bei den Lokomotiven zur Verwendung gelangenden Materials und trotz aller Leiftungsproden nicht ganz vermeidbar. Vernachlässigung der Strecken, Pflichtveraessenheit von Vor- gesetzten oder Untergebenen oder oeides, Unterlassungssünden der verschiedensten Art können eine Rolle spielen, desgleichen auch Ueberanftrengung und Ermüdung des Personals u. a. m. In Siegelsdorf   haben sich nach den vorliegenden Meldun- en über die Ursache des Unglücks bis jetzt wenig positive An- altspunkte ergeben. Die Strecke wurde 1927 üoerholt: sie ist nach der Meinung der zuständigen Instanzen in gutem Zu- stände gewesen. Eine einwandfreie Feststellung wird darüber kaum noch möglich fein. Wenn ein Schnellzug, von einem Normalgewicht von Ist 000 Zentnern, vorwärts getrieben von einer Maschine, die rund 1000 entwickelt bei einer Ge- schwindigkett von 80 Km, plötzlich aus den Gleisen geworfen wird, so ergibt das nicht nur einen Trümmerhaufen von Eisen und Holz: auch der frühere Zustand des Oberbaues, die Be- fchaffenheit des Bahndammes, der Schwellen, der Bettung usw. ist kaum noch zu erkennen. Nach übereinstimmenden Mutmaßungen sachverständiger Persönlichkeiten ist die Mög- lichkeit eines Bruchs des vorderen Achsgestells der Lokomotive nicht ausgeschlossen. Einige Anhaltspunkte er- geben sich in dieser Beziehung aus der eigenartigen L a g e d e r M a s ch i n e, die mit den Rädern nach oben vor- efunden wurde. Die gleiche Wirkung kann jedoch auch in irscheinung treten bei einem plötzlichen Nachgeben des Bahn- dammes. Nicht ganz ohne Belang ist der Umstand, daß sich das Unglück in einer Kurve ereignete, die mit der allerdings auf Grund des Dienstplanes zulässigen Ge- schwindigkett von 80 Km durchfahren wird. Es handett sich hier um eine große, weitgespannte Krümmung mit einem Radius von 600 Metern. Das Publikum will nicht nur sicher, es will auch schnell befordert werden. Immerhin taucht die
Frage auf, ob es trotzdem nicht angebracht ist, die Geschwür- digkeit bei dem Durchfahren von Kurven zu reduzieren. Die amtliche» Stelle» werden sich auch mtt dieser Frage ernsthaft