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BERLIN Donnerstag, 14. Juni

1928

Der Abend

Erscheint täglich außer Sonntags. Sugleich Abendausgabe des Vorwärts". Bezugspreis beide Ausgaben 85 Pf. pro Woche, 3,60 M. pro Monat.

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66

Spalausgabe des Vorwärts

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Nr. 278

B 137 45. Jahrgang.

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Ein zweiter Fall Leister.

Erst 15 Jahre Zuchthaus, dann vom Mordverdacht losgesprochen! Die verhinderte Todesstrafe. Sozialdemokratinnen im Reichstag.

,, Gott ! Auf welchen Grundlagen beruht

die menschliche Gerechtigkeit!"

Hebbel .

Mit diesem verzweifelten Ausruf Hebbels schließen der Universitätsprofeffor Dr. Molitoris- Erlangen und R.-A. Dr. Hirschberg- München im Archiv für Kriminologie ihre ausführ­liche Schilderung eines neuen Fehlurteils in einer Mordsache.

Wenn im Falle des anfangs zum Tode Ber­urteilten und eben erst in Eisenach freigesprochenen Maurers Leister die vorurteilsvolle Einstellung des Ge­richts, die irrtümliche Belastung durch Zeugen und das unge­nügende Schießgutachten zum verhängnisvollen Justiz irr. tum geführt haben, so war es hier das unzureichende medizi­nische Gutachten und die falsche Würdigung der Indizien durch das Gericht. In beiden Fällen hatten die Angeklagten bis zum letzten Augenblic ihre Unschuld. beteuert. Wie im Falle Leister war auch hier der Angeklagte ein Mauter. Wo sollte diefer Mann aus dem Bolte das Geld hernehmen für einen prominenten Berteidiger und einen hervorragenden Sachver­ftändigen? So war er gleich seinem Leidensgenoffen Leiffer auf Gnade und Ungnade den Richtern ausgeliefert und diese waren beide male allein Berufsrichter: Ohne Teil­nahme von Laienrichtern haben sie ihre Fehlurteile gefällt. Gerade deshalb verdient auch dieser Juffiziertum in aller Kürze dargestellt zu werden.

Am 29. Juni 1923 wurde in einem Walde, eine halbe Stunde von F. entfernt, die Leiche der Fabritarbeiterin Babette G. aufge= funden. Sie unterhielt seit ungefähr drei Jahren ein Liebesverhält­nis mit dem Maurer Johann Pf., Vater von sechs Kindern. Die Obduktion der Leiche ergab, daß die G. schwanger gewesen war. In der Tiefe der Mundhöhle fand man ihr fünstliches Gebiß, eine Ober­fieferplatte mit zwölf Zähnen. Das Gutachten des Sachver= ständigen stellte den Tod durch Erstiden fest; das fünftliche Gebiß hatte die Luftwege versperrt.

Am Abend des gleichen Tages stellte sich der Maurer Pf. der Staatsanwaltschaft. Er bestritt mit aller Entschiedenheit seine Täter­schaft. Er habe, sagte er, die G. auf ihren Wunsch in den Wald begleitet, ohne zu missen, was sie da beabsichtige. Hier habe sie einen Abtreibungsversuch bei sich vorgenommen. Plötzlich sei sie dann rückwärts zu Boden gesunken, ohne noch weitere Lebenszeichen von fich zu geben. Da er sie in einer Ohnmacht wähnte, habe er ihre Schläfen beneßt, sie in einer Weise gerüttelt und geschüttelt, daß man ihre Zähne im Munde herumkollern hörte; da er schließlich annahm, daß sie sich nur verstelle, sei er nach Hause schlafen gegangen. Am nächsten Morgen sei es ihm eingefallen, daß er im Walde seine Beste habe liegen lassen, die er der G. unter den Kopf gelegt hatte, er sei in den Wald zurückgegangen und habe hier zu seinem Entsetzen die G. tot aufgefunden. Er habe seine Weste und auch den Gummi­schlauch, den die G. am Tage vorher benutzt hatte, mitgenommen, sei mit seiner Frau zusammen dann nach B. gefahren und habe sich in X. gestellt.

Der Staatsanwalt beantragt die Todesstrafe. Die Anklage vor dem Volksgericht in B. am 12. Oftober 1923 lautete auf Mord. Der Staatsanwalt beantragte die Todes ftrafe. Das Boltsgericht verurteilte Pf. wegen Totschlags zur Höchſt­strafe von 15 Jahren Zuchthaus .

Die Urteilsbegründung ging davon aus, daß die Schwangerschaft der G. für den Angeklagten eine schwere Last sein mußte und er sie aus diesem Grunde unter Drohungen veranlaßt hatte, ihm in den Wald zu folgen, um an ihr dort eine Abtreibung vorzunehmen. Bf. habe es verabsäumt, sofort am Morgen jemand über das Ereig­nis zu verständigen; er fühlte sich eben schuldig. 3war seien nicht alle Umstände geflärt, doch lasse das Gutachten des Sachverständigen keinen Zweifel darüber, daß das Gebiß durch eine Gewaltanwendung in die Mundhöhle gedrückt worden sei. Daß das zur Knebelung benuzte Taschentuch bei der bakteriologischen Untersuchung einen negativen Befund gezeigt habe, beweise nichts.

Bf., der im Zuchthaus Blaffenburg seine Strafe verbüßte, be­feuerte nach wie vor seine Unschuld, sofern es sich um den Totschlag ( Fortsetzung auf der 2. Seite.)

Die Verhandlungen über die Neubildung der Regierung.

Bericht 2. Seite.

Von links nach rechts: 1. Reihe( sitzend): Marie Juchacz ( Potsdam I), Anna Nemitz ( Liegnitz ), Marie Kunert ( Potsdam II), Mathilde Wurm ( Thüringen ).

2. Reihe( stehend): Luise Schröder( Schleswig- Holstein ), Luise Schiffgens( Köln- Aachen), Marie Arning ( Magdeburg ), Toni Sender ( Dresden ), Adele Schreiber- Krieger ( Osthannover), Klara Weich( München ), Marie Reese( Hannover ), Anna Siemsen Leipzig ), Hanna Reitze( Hamburg ), Nanny Kurfürst( Mecklenburg ), Berta Schulz( Westfalen ), Marie Ansorge ( Waldenburg)

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Die Sozialdemokratische Partei ist seit ihrem Bestehen für die Gleichberechtigung der Frau neben dem Mann einge­treten. Als noch alle anderen Parteien die Zurücksetzung der Frau verteidigten, hat schon die Sozialdemokratie für die berechtigten Forde­rungen der weiblichen Staatsbürger gefämpft. Nach dem Zusammen­bruch im November 1918 war es die erste Tat der sozialdemokratischen Volksbeauftragten, den Frauen das gleiche Wahlrecht mit den Männern zu geben. Im neuen Reichstag ist die Anzahl der weib­lichen Abgeordneten bei den bürgerlichen Parteien erheblich geringer als früher. Nur durch die Erfolge der Sozialdemokratischen Partei ist es verhindert worden, daß im allgemeinen ein stärkerer Rückgang

der weiblichen Abgeordneten eintrat. Die bürgerlichen Parteien haben insgesamt neun Frauen unter 284 Abgeordneten. Bei den Kommunisten finden wir unter 54 Abgeordneten nur drei Frauen. Dagegen hat die sozialdemokratische Frattion bei 152 Abgeordneten 20 Frauen. Also auch die besonderen Frauen. intereffen sind bei der Sozialdemokratischen Partei am besten gewahrt.

Unser Bild zeigt die weiblichen Abgeordneten der sozialdemo fratischen Reichstagsfraktion. Es fehlen die Frauen Bohm- Schuch, Lore Agnes , Toni Pfülf und Dr. Stegmann.

Die Hilfsaktion für Nobile.

Nur geringe Fortschritte.- Die verletzten Teilnehmer.

Die Meldungen aus kings bay, Oslo und Mos­ kau über die Hilfsaktion zur Rettung der Expedition No­biles geben leider keine Beranlaffung zu besonderen Hoff­nungen. Nach Ansicht aller Sachverständigen muß die Aktion spätestens in 14 Tagen durchgeführt sein, wenn sie überhaupt Aussicht auf Erfolg haben foll; aber wird das ge­schafft werden können?

In Kingsban find der dänische Ingenieur Varming und der holländische Hundeführer van Dongen mit ihrem Hunde­gespann eingetroffen. Die Braganza", die für heute in Kings. ban erwartet wird, soll die Hundeschlittenegpedition an Bord nehmen. Die obby" wird für heute abend in der Wahlen­borgban erwartet. Ein Hundegespann soll von hier längs der Küfte nach Nordost land aufbrechen, um den drei Mann der " Italia " entgegenzugehen, die nach dem Lande unterwegs sind. Die Hobby" wird zurückkehren, während die Braganza"

auf die Hundeschlitten wartet.

Der russische Eisbrecher ,, Krassin" wird heute in See stechen. An der Rettungsaktion nehmen 140 Personen teil, darunter acht ruffische Gelehrte. Es befinden sich Nahrungsmittel für unge­fähr sechs Monate an Bord. Da man auf dem 80. Grad 30 min. nördlicher Breite eine Eisdede von Meter Dide

festgestellt hat, fürchtet man, daß auch der russische Eisbrecher nicht in der Lage sein wird, sich dort einen Weg zu bahnen. Das Wasser­flugzeug Savoia 55" ist in Lulea angekommen und wird sofort nach der Benzinaufnahme nach der Kingsbaŋ weiter. fliegen.

Nobile hat inzwischen durch Radio die Namen der Verletzteit seines Trupps mitgeteilt: Professor Malmgreen hat eine starte Quetschung des Armes erlitten, Schiffstechniker Cecioni brach sich das rechte Bein unterhalb des Knies, Nobile selbst hat Ver­letzungen des rechten Armes und des rechten Beines davongetragen, die aber nicht ernster Natur zu sein scheinen.

Professor Berson, der bekannte deutsche Geograph und Höhenforscher, erklärte dem Vertreter eines Berliner Blattes, daß er eine Rettung der Mannschaft der Italia " noch für durchaus möglich halte. In Frage fämen vor allem Großflugzeuge mit weitem Aktionsradius. Eine noch größere Aussicht böte selbst. verständlich das Luftschiff.

Größte Bescheunigung aber täte not.

Da die Temperaturen zurzeit in der Eiszone nicht viel unter Null Grad liegen, brauche die Rälte nicht als ein besonderer Feind der Rettungsaftion betrachtet werden.

Der Sturm über Spißbergen hat sich gelegt und flarem fonnigem Better Platz gemacht.

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