Einzelbild herunterladen
 

Morgenausgabe Nr. 259

A 145

45. Jahrgang

WSchentNch 85 Pfg� monatNch 8.60«. «m ooraut zahlbar. Postbezug 4,32«. einschl. Bestellgeld. Luslandsabonne» ment 6, M. pro Monat. * Der �Vorwärts" erscheint Wochentag» lich zweimal, Sonntags und Montags einmal, die Abendausgaben für Berlin und im Handel mit dem Titel.Der Abends Illustrierte Beilagen.Voll und Zelt� und.Kinderfreuno" Ferner .Unterhalwng und Wissen"..Frauen» stimme",.Technik",»Blick in die Bücherwelt" und»Iugend-Vorwärt»".

P> Berliner Voltsblatt

Donnerstag 21. Juni 1923 Groß-Äerlin 1V pf. Auswärts 15 pf.

Die einspaltige Nonpareillezeile 80 Pfennig. Reklamezeile 5. Reichs- mark.»Kleine Anzeigen" das iettge- Druckte Wort 25 Pfennig tzu lässig zwei engedruckte Worte),!edes weitere Wort 12 Pfennig. Stellengewche das erste Wort 15 Pfennig. iedes'weitere Won 10 Pfennig. Worte über 15 Buchstaben ählen für zwei Worte. Arbettsmarkt >ile 60 Pfennig. Familienanzeigen iür bonnenten Zeile 40 Pfennig. Anzeigen- annähme im Hauptgeschäft Linden - strafte T wochentägl. von 81/3 bis 17 Uhr.

Jentralorgan der Sozialdemokratischen Variei Deutschlands

Redaktion und Verlag: Berlin SW 68, Lindenstraße 3 Fernsprecher: Dönhoss 292297. lelegramm-Adr.: Sozialdemokrat Berlin

Vorwarts-Verlag G.m.b.H.

Postschecklonto: Berlin 37536. Bankkonto: Bank der Arbeiter. Ängestellien und Beamten Wallsir. 66. Diikonto-Gesellschast. Deposiienkasie Lindenstr 3

Mord im Belgrader Parlament. Zwei kroatische Abgeordnete erschossen, einer schwer verletzt.

Belgrad » 20. Juni. (Eigenbericht.) In der«kupschtina ist es nach einer scharfen Rede Stefan Raditschs z« großen Lärmszene« ge» kommen, in deren Verlauf der radikale Abgeordnete Statschitsch eine» Revolver gezogen und mehrere Schüsse abgegeben hat. Der erste Schuß hat Paul Raditsch. den Neffen Stefan Raditschs. tödlich getroffen. Von de« weiteren Schüssen sind die Abgeordneten P e r n a r und Basaricek von der kroatischen Bauernpar- t e i schwer verletzt worden. Ratschitsch, der von den Saaldienern der Polizei übergeben wurde, ließ sich die Mordwaffe nur mit größter Mühe entreißen. Die Vorgänge in der Skupschtina. Belgrad , 20. Juni. Die Obstruktion der oppositionellen Parteien nahm auch in der heutigen Sitzung ihren Fortgang. Dabei kam es gleich zu Beginn der Sitzung zu erregten Zusammenstößen zwischen den Abgeordneten der Regierungsparteien und den oppositionellen Abge- ordneten. Als Stefan Raditsch den Bänken der radikalen Abge- ordneten zurief:Ihr benehmt euch wie das liebe Vieh!" entstand ein ungeheurer Tumult. Der Präsident schwang unablässig

die Glocke, machte dann mit beiden Armen ein Zeichen der Hilf- losigkeit und hob die Sitzung auf. In diesem Augenblick sprang der radikale Abgeordnete Punisa Ratschitsch von seinem Sitz, zog«inen Revolver und begann wie irrsinnig planlos umherzuschießen. Als erster wurde der Abgeordnet« Paul Raditsch von mehreren Kugeln getroffen und sank ohnmächtig zu- sammen. Obgleich sofort ein Arzt zur Stelle war, starb der Abge- ordnete binnen weniger Minuten. Durch weitere Reoolverschüsse wurden die beiden anderen genannten Abgeordneten Dr. Pernar und Dr. Basaricek schwer verletzt. Mehrere radikale Abgeordnete stürzten sich sofort aus Punisa Ratschitsch und entwanden ihm die Waffe. Das aus sechs Kugeln bestehende Magazin des Revolvers war aber bereits vers.chossen. Sosott nach der Schießerei erschien Gendarmerie im Saal, verhastete den Revolverhelden und fühtte ihn ab. Ein zweites Todesopfer. Belgrad , 20. Juni. 3 in Lause des Rachmillags ist auch der durch Schüsse schwer ver­letzte Abgeordnete Basaricek von der kroatischen Bauernpartei gestorben. Der erschossene Abgeordnete Paul Raditsch hinterläßt eine Witwe und acht Kinder. (Weitere Meldungen siehe 2. Seite.)

Roch keine Entscheidung! -II Punkte. Ungelöste Schwierigkeiten.'

Die von den bürgerlichen Parteien beliebten VerHand- lungsmethoden haben dazu geführt, daß der interfraktionelle Llusschuß der Zweiundzwanzig gestern nachmittag 5 Uhr über 17 Punkte zu beraten hatte, die vom Genossen Her- mann Müller formuliert worden waren. Man mußte beim 15. Punkt Schluß machen, weil es inzwischen 7 Uhr abend geworden war und verschiedene Fraktionen auf Bericht warteten. In der sozialdemokratsichen berichtete Hermann Müller ; es wurde nicht diskutiert und nichts beschlossen. Die Interfraktionellen fahren heute 10 Uhr vormittags fort, um 4 Uhr nachmittags versammelt sich wieder die sozialdemo- kratische Fraktion. Die Bolkspartei hat an den Besprechungen teilgenom- men, aber mitgeteilt, daß sie in der Preußensrage bei der bis- herigen Auffassung beharre. In Preußen hat Otto Braun erklart, daß für die Aufnahme der Volkspartei zurzeit keine Neigung" bestehe. Die Unterhändler haben sich dann an die Geschäslsführung des Preußenzentrums gewandt und dort die Auskunft erhalten, daß vor dem 10. Juli eine Fraktionssitzung nicht möglich sei/ Es heißt jetzt, die Volkspartei wolle sich mit einer Garantie" dafür begnügen, daß man sie in die preußische Regierung später aufnehmen werde. Wie aber soll, bei dem besten Willen, diese Angelegenheit zu gegebener Zeit zu ordnen, jetzt eine jolche Garantie gegeben werden? Vor aussetzung ist doch eine von der V o l k s p a r t e i gegebene Garantie, daß sie den bisherigen republikanischen Kurs in Preußen unterstützen werde. Wird die Volkspartei bereit sein, diese Garantie zu geben? Ihr Verhalten bei den Ver- Handlungen im Reichstag spricht kaum dafür. Auf alle Fälle sind Verhandlungen, die zu einem derartigen festen Garantieaustausch führen, im Augenblick gar nicht möglich. Der Gedanke aber, die Entscheidung im Reiche solange hinauszuschieben, bis nach Wochen oder Monaten! auch in Preußen eine Entscheidung getroffen werden kann, ist indiskutabel. Nimmt man dazu, daß es auch bei den Verhandlungen im Reichstag starke, noch unausgeglichene Differenzen gibt, so sieht man die Möglichkeit, zur Großen Koalition zu kommen, sich immer weiter in der Ferne verlieren. Würde die Bildung der Großen Koalition zurzeit scheitern, so wäre das für die Sozialdemokratie noch lange kein Grund, die Führung aus der Hand zu geben. Seit dem Bekanntwerden des Wahl- ergebnisses ist hier immer wieder gesagt worden, daß es falsch ist, die Bildung einer Großen Koalition als die ein- z i g e gegebene Möglichkeit hinzustellen. Angesichts des schleppenden und nicht besonders günstigen Standes der Verhandlungen scheint es an der Zeit, auch diese anderen Möglichkeiten ins Auge zu fassen. Die äußerst treffende Bemerkung des ehemaligen Reichs- konzlers Luther , irgendwie müsse doch regiert werden, gilt noch immer. Daß eine Regierung ohne Sozialdemokratie picht möglich ist, hat nach den Wahlen selbst der größte Teil

der deutschnationalen Presse zugegeben. Dann bleibt eben nur noch eine sozialdemokratisch geführte Regierung, die vor den Reichstag tritt und sich dort für ihre Arbeit eine Mehrheit sucht. Jede andere Regierung, mit der man es am Ende doch versuchen wollte, würde auf eine entschiedene Opposition der Sozialdemokratie stoßen. Alles in allem: sind Gang und Stand der Verhandlungen auch wenig erfreulich, so ist doch die Stellung der Sozialdemokratie so stark, daß man mit Ruhe die weitere Entwicklung abwarten kann. * Der Sozialdemokratische Pressedienst berichtet: Am Mittwoch nachmittag 5 Uhr traten die Führer der an der Regierungsbildung beteiligten Parteien unter dem Vorsitz des Abgeordneten Müller- Franken aufs neue zu einer Besprechung zusammen. Den Erörterungen lagen zugrunde die von dem Abgeordneten Müller-Franken for- mulierten und am Vormittag den Fraktionen unterbreiteten Vorschläge für die nächsten Aufgaben der Regierungspolitik. Diese Vorschläge waren aufgestellt unter Berücksichtigung der von den beteiligten fünf Parteien in den vorher gegangenen Konferenzen gegebenen Anregungen. In einer Reihe von Punkten wurde Uebereinstimmung unter Vorbehalt redak- tioneller Aenderungen festgestellt. Bei anderen Fragen er- oben sich zum Teil wesentliche Meinungsver- chiedenheiten. So zunächst in der gesetzlichen Fest- legung des 11. August als Nationalfeiertag. Sozialdemo- kraten, Demokraten, Zentrum und bayerische Volkspartei sind bereit, diese gesetzliche Festlegung vorzunehmen mit der Ein- schränkung, daß, so wie das in Baden der Fall ist, für dringende Erntearbeiten gegebenenfalls Ausnahmen gestattet werden. Weiterhin konnte keine völlige Uebereinstimmung erzielt werden in denjenigen- Punkten, die sich auf die Durch- führung eines Amnestiegesetzes vor der Vertagung des Reichs- tages, auf die Abschaffung der Todesstrafe und auf die vorbehaltlose Ratifizierung des Washingtoner Arbeitszeitabkommens be- ziehen. Endlich bestehen nach w'e vor Differenzen bezüglich der Erweiterung derMitbeteiligungderArbeiser an der Gestaltung der Wirtschaft und ebenso der Frage des Agrarschutzzolles. Nach einer Meldung aus anderer Quelle gab der Vor- sitzende der Reichstagsfraktion der Deutschen Volkspartei, Abg. Dr. Scholz eine Erklärung ab, wonach aus der Teil- nähme seiner Fraktion an den sachlichen Programmberatun- gen nicht der Schluß gezogen werden dürfe, daß die Fraktion ihren Standpunkt in der Preußenfrage aufgegeben Hobe. * Die Zentrumsfraktion des Reichstags be- fchöftigte sich in ihrer gestrigen Sitzung mit dem von dem Abg. Müller- Franken vorgelegten Regierungsprogramm. Wie DDZ. nieldet, hat die Aussprache in der Zentrum- fraktion ergeben, daß in allen wesentlichen Punkten mit Ausnahme der Schulfrage Uebereinstimmung besteht.

Schüsse in der Skupschtina. Oer Kampf zwischen Alt-Serben und Kroaten . Von Hermann Wendel . Hätte sich die Bluttat in der Belgrader Skupschtina, der drei kroatische Abgeordnete, darunter der Reffe des bekannten Bauernführers Stefan Raditsch, zum Opfer gefallen sind, vor dem Weltkriege abgespielt, der durch- schnittliche Zeitungsleser in Mitteleuropa wäre wohl mit einem Achselzucken darüber hingegangen: Balkan ! Aber seit auch in Deutschland durch die Hakenkreuzhetzereien der gemeine politische Meuchelmord seine Stätte gefunden hat, haben wir keinen Anlaß mehr, hochmütig auf balkanische Revolverschießereien herabzusehen, und zum zweiten liegt das neue Reich, dessen Hauptstadt Belgrad ist, mit seinem Kara- wankentor fast an unserer Schwelle. Belgrad ist nicht mehrhinten fern in der Türkei ", und was dort vor- fällt, kann uns allen zum Schicksal werden. Die Schußwaffe, die ein wildgewordener radikaler Ab- geordneter gegen die Bünte der Opposition blindlings ab- feuerte, ist ein drastischer Beweis dafür, daß das südslawische Parlament in einer ausweglosen Situation steckt. Die Gründung des Staates der Serben, Kroaten und Slowenen am Ende des Weltkrieges war ein weltgeschicht- liches Ereignis von einer Tragweite ähnlich der nationalen Einigung der Deutschen und Italiener vor zwei Menschen- altern. Aber wie in Deutschland und Italien durch Jahr und Tag der Partikularismus im Namen überlebter Jnter- effen sein Haupt erhob, so setzten und klärten sich die Ber- Hältnisse auch im Südslawenstaat nicht sogleich. Heftige Kämpfe der Stämme des einen südslawischen Volkes gegen- einander, namentlich der Serben und Kroaten , er- fchütterten den jungen Staatsbau, bis mit dem Eintritt der Kroatischen Dauernpartei in die Regierung 1925 diese Phase abgeschlossen schien. Aber auch jetzt löste keine ruhige Eni- Wicklung das gärende Chaos ab. Wieder stehen sich zwei Lager im Staat, im politischen Leben, im Parlament mit unversöhnlicher Feindschaft gegenüber, nur daß sich hinter beiden nicht mehr der ideologische Gegensatz der Stämme, sondern der realere Wider st reit der Landesteile erhebt. Die Regierung Wukitsche- witsch gilt, obwohl ihr auch die slowenischen Christlich - sozialen angehören, als eine Vertretung ders e r b i a- nischen" Interessen, d. h. der Interessen des früheren Königreichs Serbien . Gegen sie laufen Sturm dieDrübigen", das will sagen die ehemals österreichisch-ungari- s ch e n Gebiete, vertreten hauptsächlich durch die Koalition zwischen denSelbständigen Demokraten" hinter P r i b i t- s ch e w i t s ch und der Kroatischen Bauernpartei hinter Raditsch, aber auch slowenische Demokraten scharen sich hinter diese Fahne. Werden politische und parlamentarische Kämpfe im slawischen Süden im allgemeinen nicht sänftiglich geführt, so nahm dieser Konflikt eine bislang auch in Belgrad un- erhörte Schärfe an, als am 30. Mai die Gendarmerie in der Hauptstadt die gegen den italienischen Fa- s ch i s m u s demonstrierenden Hochschüler mit brutalster Gewalt atackierte. Da sich die Regierung weigerte, einem parlamentarischen Ausschuß die Untersuchung dieser Vor- kommnisse zu übertragen, begann die Opposition eine rück- sichtslose Obstruktion, um die Arbeiten des Par- laments zu lähiken und darüber hinaus Neuwahlen zu erzwingen, aber ebenso rücksichtslos gegen die Regie- rungsmehrheit dieser Obstruktion zu Leibe zu gehen und setzte eine durchgreifende Aenderung der Geschäfts- ordnung im reaktionären Sinne durch. Tolle Szenen er- lebte die skupschtina vor 10 Tagen, als neun ausgeschlossene Abgeordnete auf Weisung des Präsidenten von der Gen» darmerie aus dem Sitzungssaal geschleift wurden. Damals drohte schon einer der also Behandelten, es werde Blut im Parlament fließen. Jetzt ist Blut geflossen! Zwei Tote und ein Schwerverletzter! Nicht etwa, daß hier wohl überlegter Mord vorläge, sondern einem der heißblütigen Südländer sind einfach die Nerven gerissen, und er hat, um sich zu entspannen, auf das Geratewohl gegen die Opposition losgeknallt. Aber daß die Nerven so zum Zerreißen gespannt sind, ist ein f i n st e r e s Merkzeichen für den jungen Parlamentarismums des jungen Staates. Was jetzt? Möglich, daß dieser schwarze Tag an die Stelle der wütenden Leidenschaft die ruhige Besinnung treten läßt, möglich aber auch, daß die Schüsse des radikalen Ab- geordneten den wildesten Abschnitt des wilden Kampfes er- öffnen. Immer steht dabei drohend im Hintergrund die Militärdiktatur, mit deren Gedanken sehr einfluß- reiche Kreise hinter den Kulissen spielen, und ebenso fällt der Schatten Mussolinis unheimlich über die Bühne. Wie der Druck, den die faschistische Expansionspolitik auf den ganzen Balkan ausübt, die iünerpolitischen Verhältnisse in Südslawien vergiften und die ollgemeine Nervosität steigern half, so vergrößert ein sich in sich zerfleischender Südslawen- staat die verbrecherische Lust des Mussolinismus, durch Wen- teuer auf dem Balkan die ruhige Entwicklung Europas zu