Unterhaltung unö Missen
Seilage des Vorwärts
Herrlich spießen die grünen Türme der vier Hauptkirchen in den Somnierhimmel, der sich tief und blau über dem alten Lübeck wölbt. Hinter den Türmen aber und den noch unsichtbaren gotischen Häusern, hinter dem belaubten Grün des wuchernden Walls, hinter dem mittelalterlichen Kern der kleinsten deutschen Stadtrepublik schießen schwarz und grau die dunklen Rauchfontänen eines Hoch- ofenwerks auf, in dem schwedisches Erz verhüttet wird. Acht Kilo- meter vor Lübeck liegt das einsame Heidedorf Palingen, in dem der russische Kriegsgefangene Iakubowski lebte, arbeitete, liebte und litt, ehe ihn die tödliche Maschine der Justiz faßte und zermalmte. Achtzehn Kilometer die Trave aufwärts, da liegt Travemünde , die schwermütige Lübecker Bucht , die großen und kleinen Bäder, an dessen Strandkörben die kaiserliche Fahne weht. Bon Schweden kommen Erzdampser, Holzdampfer, Dänemark schickt Bieh, Fischkutter fahren ein, im Lübecker Hafen liegen auch einige Schisse, aber die Krane und Berladebühnen haben wenig Arbeit: kaum 100 000 Tonnen Schiffsraum werden im Monat überschlagen. Die Trave und die Wackenitz umwandeln Lübeck , die Fluglinie nach Skandinavien , das fliegende Donnern der Neuzeit rührt an der mittelalterlichen Stadt und auch der Wind vom nahen Wasser, der sich in den großen Buchenwäldern verkühlt hat und die Geruchwolken der nahen Fisch- räuchereien mitbringt. Das also ist Lübeck : man denkt an eine schöne, sehr alle Frau, deren Mann schon lange tot ist, die aber mit Würde und Anmut ihre Jahre trägt, klug und lieblich ist und dem Fremden gern die kostbaren Schätze aus der Jugendzeit bringt, damit er sie bewunderte. Die Eisenbahnlinie von Homburg noch Lübeck ist ein Privat- unternehmen. In einer Stunde kommt man aus dem Tumult der großen Welt, aus Hamburg nach Lübeck , ous brüllender Gegenwart in den ungeheuerlichen Glan,; einer großen Vergangenheit. Durch das wundervolle zweitürmige Holftentor geht man in die engen Schluchten steiler Straßen, deren Häuserfronten geschichtliche Denk- mäler sind. Bald ist der Marktplatz erreicht, der an italienische Vorbilder erinnert und sie in der genialen Fassade des Rathauses erreicht und noch übertrumpft. Romanische Rundbogen gehen zur Gotik über, spätere Renaissanceanbauten lockern das steinerne Ge- dicht, das Rathaus, lustvoll auf. Verwundert und immer wieder hingerisien geht der Fremde durch alte Straßen, wird von edlen Kirchen begeistert, von den Fronten gotischer Kaufhäuser, von den beschwingten Fassaden, kostbaren Türen und Verzierungen. Vom Turm der Kirche St. Petri sieht er dann den sanften Hügel, auf dem Lübeck liegt, einer Schildkröte gleich, die ihren Panzer mit den spitzen Dächern uralter Häuser ausgeschmückt hat. Dann geht der Fremde in das gotische Gildenhaus der Schiffer, in die Schiffer- gesellschaft, sitzt bald an einem der langen, schmalen Tische, die aus den Planken alter Segler bei'tehen�zM..kann. wenn er Lust hat. von der Hansa träumen und ihrer Führerin, der Stadt Lübeck . Der Lyriker Geibel war aus Lübeck (die Brüder Mann kommen von Lübeck , die Gräfin Reventlow, der Erich Mühsam lebte lange dort), der Lyriker Geibel hatte in der Schiffergesellschnft seinen Stammtisch, das ist wenig interesiant, aber sehr interessant ist dos Telegramm unter Glas, das nahe jenem Tisch hängt. Es kam mitten im Krieg aus Renal . Wir lesen: Die Kinder der Hanse im Osten, die Revaler Schwarzhäupter, über deren Hause heute die deutsche Fahne weht, grüßen, vom frem- den Joch durch deutsche Stammesbrüder befreit, ihre Mutter, das alte Lübeck . Sie fühlen und denken ebenso deutsch, wie ihre Vor- fahren vor sechshundert Jahren und hoffen, daß Lübeck und Renal nie mehr getrennt werden, sondern zusammenhalten an der Ostsee wie die zwei Arme des Gekreuzigten." Die Antwort des Lübecker Senats hängt auch unter Glas. Sie ging über den Oberbefehlshaber Ost und war durchaus nicht so hymnisch wie die Botschaft der Revaler Schwarzhäupter, die sich erst, als Reoal erobert war, auf ihr Deutschtum besannen, wie die baltischen Barone sich da oben in Estland auch erst aus ihr Deutsch- tum besannen, als dort die Agrarreform durchgeführt wurde. Bei diesen Verhandlungen wurde nicht mchr von den beiden Armen des Gekreuzigten gesprochen. Das Gespräch ging nur um die Silber-
linge. Wir lassen die Schwarzhäupter, wir gehen zu den Weiß» Häuptern, wir gehen zu den alten Leuten im Heiligen-Geist- Hospital . Das Hospital stammt aus dem 13. Jahrhundert, ist eine alte Stiftung, eine alte, fünstürmige Kirche, deren Gottesdienst die Barmherzigkeit sein soll. Wir gehen in„das lang« Haus", den großen Raum, in dem in kleinen Kojen die alten Männer und die alten Frauen nach der Ewigkeit fahren. Die alte Kirche interessiert uns wenig, uns interessiert die lange Halle und die 158 Menschen. Jeder von ihnen muh 60 Jahre alt sein. Die Aelteste ist 92 Jahre alt. Rund 10 000 Jahre Menschenleben sind in deni großen Hause ver- sammelt. Proletendasein, Kleinbürgerdasein, das sich mit 80 Mk. ein- kaufen kann. Die kleinen Kojen, in denen die Leute schlafen, sind nur 3 Meter lang, 2 Meter hoch und anderthalb Meter breit. Ein Glasfenster am Dach gibt Luft und Licht. Die armen Möbel müssen mit eingebracht werden und verfallen, wenn der Mensch stirbt, dem reichen Stift. Hundelöcher sind die Kojen, kein« Meirschenwohnungen. An den schönen Tagen sitzen nun die alten Leute in dem schönen Garten, sie sitzen auch vor dem Hospital, die Männer gehen wohl auch in das große Zimmer mit den Tischen und Bänken. Der Aus- enthaltsraum der Frauen ist trostlos. Nichts als nackte Stühle stehen da, kein Tisch, kein Schrank, keine Blume, keine Schwmmerecke. Die Schwester Oberin aber, die dem Hospital mit vorsteht, verfügt für sich allein über Räume, die 20 Schlafkojen fassen. Es gibt aber auch noch Klassenunterschiede zwischen den alten Leuten, es gibt so- genannte Kammerherren und Kammerfrauen, die 100 Mk. ein- gezahlt haben, in einem kleinen Anbau wohnen und über zwei Jim- mer verfügen. Ein Sechsundsieb, zigjähriger führt uns durch das Hofpi- tal, in die blitzsaubere Küche, in den kleinen Garten, in das schön« Be- ratungszimmer der Verwaltung. Als wir in die Koje des Alten kamen: sie ist etwas größer als die seiner Genossen, zeigte er mit großem Stolz die Denkmünze, die er vom Senat bekam, auch die Urkunde bringt er, und ich notiere: Senat vernommen, daß 23 Jahre als Arbeiter... im Dienst musterhaft geführt und stets mit Fleiß und Treue Pflicht erfüllt haben... Silberne Ehrendenkmünze sür Treue im Dienst... mit dem Wunsch... vergönnt sein möge... Arbeltgeber auch fernerhin noch manche Jahre in Treue zu dienen... Das war 1904, als der Arbeiter das Schreiben bekam, aber er mußte noch 15 Jahre„in Treue" dienen, ehe er die kleine Koje im Hospital bekani und dort den Tod abwarten darf. Das ist der eine Arbeiter, der den Tod abwartet, aber die Arbeiter van Lübeck warten das Leben ab, sie arbeiten und kämpfen wie überall in Deutschland . Der alte Lübecker Staatskern ist gesprengt, ein Kranz neuer Siedlungen hat sich entfaltet. Der bürgerliche Senat ist geiprengt, in der Bürgerschast sitzen 55 Sozia- listen; o Kommunisten und 40 Bürgerliche. Die Partei hat in den' Senat ihr« Vertrauensleute gajchickt. Die Bewegung begann in Lübeck durch die Tabakarbeiter in den 70er Jahren des vorigen Jahr- Hunderts, die Bewegung begann, wie überall in Deutschland , mit der Wucht und Leidenschaft ei»er neuen Religion. Die Arbeiter werden vollenden, was schon oft Lübeck erschütterte: soziale Ausstände der Gilden und Ziiirft«, Komps der Bürger gegen die Geschlechter, die Kämpfe im 14. und 15. und im 16. Jahrhundert..Hinrich Paternoster- maker, der Führer der rebellischen Knochenhouer, Filzmocher und Bäcker, wurde im Kerker zu Tode gefoltert, sein Leichnam aus einer Kuhhaut zur Richtstatt geschleppt, gerädert, geoierteilt und dann aus? Rad geflochten. Jürg Wullenweber, der machwolle Führer der lübb- scheu Bürger, mußte sterben, wurde gefoltert, wurde verraten. Die Hanfe war nicht nur eine Handelsorganisation, die auch den Krieg nicht scheute, sie war auch ein eisern geschienter Klassenverband und bestimmte l418: Jede Siadt, welche sich gegen ihre alte Obrigkeit auflehnte, ist vom Bunde auszuschließen(das hieß: wirtschaftlich zu erdrosseln), und die Anstifter und Aufrührer solcher Verschwörungen sind mit dem Tode zu bestrafen. Die alte Hanse ist tot Die Gesellen und Gehilfen der alten Kausleute, Handwerker und Seefahrer, das moderne Proletariat, dos Volk, zertrümmert den Klassenstaat, um sich als Nation zu mani- festieren. Die Ansänge dieser Manifestation sind überall zu sehen. Auch in Lübeck . Max Barth« l.
Mittwoch 15. Juli 1928 ommmmmmmmmmmmmmm
Der Sturm. Von Arnold Ilst'tz. Der Schreiber Warb v der einem lumpigen Lohn zuliebe seine Handschrift mit schier mönchischer Zärtlichkeit zirkelte, wurde von seinem Vorgesetzten, dem Stadtrot, gebeten, die Tisch- und Speise- karten zum Hochzeitsgelage seiner Tochter zu schreiben. Um ja die Amtszeit nicht zu mißbrauchen, begab sich Worbs am nächsten Tage schon gegen 6 Uhr morgens zum Rathaus, kaum daß die letzten Trunkenbolde In ihre Häuser gewankt waren. Da bemerkte er— es war in einer verrufenen Gegend— einen Gegenstand, der quer über den eisernen Stäben eines Kanaldeckels lag, wandte sich flüch- tig, bückte sich hastig: eine Brieftasche aus rotem Saffianleder lag da. Wördens ehrliches Gehirn wußte von keinem Diebstahl, und dennoch lugte er, als er den Fund in die Brusttasche barg, scheu wie e'» Dieb umher. Er dachte:„Ich werde die Tasche mittags ab- liefern," ober es war, als fei der stumme Gedanke ein gebrülltes Wort, so möchtig dröhnten ihm Herz und Schädel. Er knöpfte die Jacke zu, und das Portefeuille preßte ihn steinhaft, bedrängte, ver- engte fein Herz, bis es schlug, als fei er auf atemloser Flucht. Als die morgendliche Stille des Amtsgebäudes ihn schweigend verpan- zerte, öffnete er zitternd. Er fand ein Dutzend Photographien mit schleicrberiefelten Tänzerinnen und schüttelte darüber nur den Kopf, aber da war auch einiges Papiergeld, sechsundfünfzig Mark, die er murmelnd zählte, und er errechnete stockenden Herzschlags den ge- fetzlichen Finderlohn von zehn Prozenten.„Ich kann zufrieden fein, ich kann zufrieden s�in," stammelte er nnd lächelte. Dieses Lächeln bohrte in die Mundwinkel einen leisen eigenartigen Schmerz, weil es ein verlogenes Lächeln war, aber dos wußte er nichk. Er raffte die mit bunten Girlanden bedruckten Karten des Stadtrats heran und begann fein zierliches Werk. Seine Zunge glitt, selber spitzt wie eine Zcichenfeder, leicht zwischen den Lippen hin und her, und an gefährlichen Buchstabenbiegungen trat sie wie in gewaltiger Spannung hervor, und die geplagten Schreiberaugen sperrten sich in fanatischer Pflichtheiligkcit krankhaftgroß auseinander. Die Haar- iiriche bebten heute in feiner Schlängelung, doch konnte man meinen, es liege eine künstlerisch« Absicht vor, wo in Wahrheit eine Er- regung, die vorerst weder Worte noch Visionen fand, das Blut durch- bebte und alle Nerven durchschwang. Er schrieb stadtbekannte Namen, deren Träger er«ms ehrfürchtiger Ferne sogar kannte, und groß- ortige Titulaturen, und zum erstenmal im Leben wuchs giftig und bitter aus seiner Schreiberdemut eine sonderbare Weinerlichkeit und dos Gefühl, es lohne sich nilht, zu leben. Als er sodann die Speise- karten schrieb, hohe Säulen, wundersamer, nie geschmeckter Gerichte, Braten, Suppen, Torten, Eis, Früchte, wandelte sich der weinerliche Kummer in geifernde Wut, die erste Wut seines Lebens, in Hunger, Heißhunger, kreischende, ächzende Gier, einmal gute Dinge zu essen, zu fressen, bis das Fett vom Munde triefe, bis der Mund von Süßigkeit klebe. Gegen acht Uhr kamen die übrigen Beamten und sahen den Frühaufsteher mißgünstig an. Ihr Gruß war höhnische Höflichkeit: Worbs dankt« geduckt, so daß sie meinten, ihr Hohn schlage ihn nieder, ober ihn schlug etwas Unbekanntes und Namenloses nieder. Deutungen wollten sich finden; daß er keine Schulbildung habe, daß er nicht verheiratet sei, daß seine Wirtin ihn auspowere. Allen diesen Gespenstern nickte er zu, alles stimmte. Aber böse in der Ferne mußte noch ein anderer Kobold hocken: der löste noch nicht die Larve vom Gesicht. Der Stadtrat wollte ihm zwanzig Mark und zwei Zigarren für die gelungene Arbelt geben, Worbs jedoch wand sich vor Bescheidenheit, er lehnte olles ab, er besah gierig den unge- knickten Schein und lehnte dennoch ab, als habe er den Anspruch auf huldvolle Behandlung irgendwie verscherzt. Mittags, beim Heimgehen, schalt er sich dafür, schalt über alles, zumeist über den verdammten Fund. Er war auffallend müde, vermutete das An- schleichen einer Influenza jetzt im wohligsten Sommer; nein, sagte er sich, er werde erst einmal sein redlich verdientes Mittagsschläfchen genießen, er werde sich wegen eines Schlemmers, der bei irgend- einer Dirne gelegen habe, nicht die Beine ablaufen; der Mann habe Zeit, die lumpigen sechsundfünfzig Mark und die schamlosen Bilder kämen für diesen Ehrenmann immer noch zurecht. Er fuhr mit der Hand katzenhaft in die Brusttosche und ritzte mit dem Fingernagel rachsüchtig ins weiche Leder des Portefeuilles. Das wurde ein scheußlicher� schwerer Schlaf, der ihn nicht erquickte. Cr stand auf, und sein Blut floß widerlich schwer, wie Leim vor dem Erhörten, die Knochen taten ihm weh.„Mos ist los," fragte er sich. Bis sechs Uhr gab es noch Arbeit, für den Abend aber leuchtete eine sanfte Hoffnung auf Gutes; er bemühte sich, den Abend freudig zu er- warten, wie an jedem Tag im Sommer, denn am Abend ging er an den Fluß, legte sich in den Sand, ruhte, trank Sonne. Das war die Sommerlust der Schreiber, nur Wollüstlinge mit Saffian- lcdertaschen konnten Reisen machen. Es war ein erbärmliches Leben, und er spie aufs Pflaster und wurde häßlich vor Gram und Neid. Ilm halb sieben war er am Fluß, die Sonne gab noch immer Milde her, und er lagerte unter dem Weidenbusch, an den er sich gewöhnt hatte. Die Leute, die da badeten, kannte er, aber es war eine kühle Bekanntschaft, man grüßte, man bewachte gegenseitig die Kleider, das war alles. An diesem Tage waren dies« Leute sehr aufgeregt, denn ein kleiner Beamter feiert« seine Gehaltserhöhung und ließ eine Flasche Schnaps im Kreise wandern. Schon waren sie ein wenig betrunken, grölten zu jedem Dampfer hin, jubelten Schwimmern am jenseitigen ilier zu und sangen, obwohl sie allesamt Sozialisten waren, Soldatenlieder des uyselig vergangenen Krieges. Ein grausiger Krüppel war auch unter ihnen, ein auf einen hölzernen Karren geschnallter Mens6)enstumpf ohne Beine, der sich mit feinen Armen wie mit Rudern durch die Straßen stieß. Und auch der Menschenstumpf sang mit. Aber seine Frau lag selig-träge im Sand«, rveit hintenüber, so daß er ihr Gesicht nicht sah, und lächelte und züngelte dem Schnapsspender zu. Der war verrückt vor Lust- erwartung, liebte die ganze Welt, gab wieder und wieder dem Krüppel zu trinken, tanzte Iazz-Band. zeigte sich, wiegte sich vor der Geliebten.„Ja. du, ja, der!" dacht« Worbs in unendlichem Kummer und schalt sich sofort wegen seiner unbegreiflichen Laune. „Was ist los, was ist los?" Da kam der Schnapsmann auf ihn zu:„Trinke , Mensch!" schrie er,„ich habe Geburtstag oder Hochzeits. tag. ich weiß es selber nicht genau!" Da» Weib kicherte.„Trinke , Mensch!" schrie er wieder und zwang dem Schreiber die Flasche in den Mund, und da trank Worbs. Wie siedende Springflut�stürzte Verwandlung über ihn hin; sein Leib war eine lohende Säule, das weiche Wandern des ver- dämmernden Flusses wurde posaunendes Gedröhn, Automobilrufe hinten auf der Chaussee wurden zu Elefantensignalen, und plötzlich
schnellte aus dem körperlichen Zaubergefühl etwas Neues, noch Heißeres, Höheres; ein« hemmungslos freche Courage und Taten- tust. Aber er war ein lächerlich täppischer Abenteurer, er wußte zwar, daß fürchterlicher Mut in ihm loderte, aber er hatte keine Einfälle, keine Phantasie, und hätte nicht der Zufall ihm Verlockungen vor die plumpen Füße geworfen, er wäre niemals gestolpert. (Schluß folgt.)
Roter Kakteenfarbstoff/ Cochenittelaus Von Dr. W. Wächter. Betrachten wir die vielen Hunderte wissenschaftlicher botani- scher Arbeiten, die wöchentlich erscheinen, so finden wir höchst selten einmal eine Arbeit, die ein größeres Publikum ohne weiteres inter- essiert. Die meisten Arbeiten kann man als Ziselierarbeiten be- zeichnen. Neuland ist nur noch wenig zu finden, ganz wie in der Erdkunde. Was an Ländern und Völkern bekannt ist, ist im wesent- lichen in seinen großen Zügen erforscht. Jetzt muß man dazu über- gehen, Einzelheiten und innere Bvrgöng« zu studieren. So geht es auch m den experimentellen Wissenschaften. Wo früher quanti- tative Arbeit die interessantesten Ergebnisse zutage förderte, wird jetzt qualitativ gearbeitet. Die Resultat« solcher Arbeiten populär darzustellen, stößt deswegen auf große Schwierigkeiten, weil allzu viele Kenntnisse vorausgesetzt werden müssen. Professor M o l i s ch in Wien besitzt nun die groß« Gab«, immer noch vielfach Entdeckungen zu machen, die ohne weiteres eine größere Lesermasse zu fesseln imstande sind. So veröffentlichte er vor kurzem in den„Berichten der Deutschen Botanischen Gesell» schaft" eine Abhandlung, m der über den ziegelroten bis tarmin- roten Farbstoff der Kakteen berichtet wird. Er beobachtete bei seiner Beschäftigung mit Kakteen wiederholt, daß verschiedene Kak» teen an frischen Wundflächen in feuchtem Raum naß gehalten, an ihrer Oberfläche in 2 bis 5 Togen diesen roten Farbstoff zeigten. Dies« Beobachtung interessiert« den Forscher aufs äußerste und«r
dehnte seine Untersuchungen aus 28 weiter« Kakteen au?. 27 dieser Kakteen zeigten regelmäßig die Farbreaktion, so daß man die Er- scheinung wohl mit Recht als eine allgemein« Eigenschaft der Kak- teen betrachten kann. Daß diese bisher übersehen worden war, liegt daran, daß frühere Forscher� bei ihren Arbeiten kein« Beranlassung hatten, SchniUstücke gerade'in der Weise, wie es Molisch tot, zu behandeln. Wie sich zeigte, bildet sich der Farbstoff erst in den wten Zellen der Oberfläche. Molisch kam nun auf den Gedanken, ob nicht ein« Beziehung besteht zwischen dem neuentdeckten Farbstoff und dem Farbstoff der Eochentlleläuse. Diese Läufe leben wild auf verschiedenen Kakteen in Mexiko . Die Weibchen entholten nach der Befruchtung einen rotbraunen Farbstoff, aus dem das prachtvoll rote Karmin gewonnen wird. Gegenwärtig werden die Cochenilleläuse in sehr vielen Tropengegenden, ja jetzt sogar aus den Kanarischen Inseln, künstlich gezüchtet. Die befruchteten Weibchen werden vor völliger Entwicklung ihr« Eier einige Mal« im Jahr von den Pflanzen abgebürstet und im Osen oder an der Sonne getrocknet. Die ge- trockneten Läuse sind kaum linsengroß und lassen sich leicht zerreiben, so daß die Verarbeitung zu Karmin kein« großen Schwierigkeiten bereitet. Aus den« bisher Mitgeteilten geht aber hervor, daß die Läuse den Farbstoff nicht fertig in der Pflanz« vorfinden. Sie müssen demnach irgendeinen Körper der Pflanze entnehmen, den sie dann m ihrem eigenen Leibe zum Farbstoff»«arbeiten. Es handelt sich hier offenbar um einen ähnlichen Vorgang wie bei den verletzten und absterbenden Zellen der Kakteen. Auch hier werden in den tief« liegenden Zellen jedenfalls fermentartig« Körper gebildet, die bei Zutritt von Luft den Kakteenfarbstoff bilden. Wie die Ding« im einzelnen vor sich gehen, das zu erforschen, wird sicher noch viel Arbeit und Mühe kosten. Di- Schwierigkeit wird noch dadurch ge» steigert, daß der neugefunden« Farbstoff in den Kakteen in chimi- scher Beziehung keineswegs mit dem Cochenillefarbstoff übereln» stimmt, wenngleich der Farbstoffbildner in den Kakteen wahrschein» lich identisch ist mit dem, den die Läuse für ihre Ernährung ver- wenden....