Nr. 37S» 45. Jahrgang Freiiag.�o. August-l92»
Im G Erste Herbstwinde wehen, doch noch überflutet Sonnenschein das Land. Die Zeit ist noch nicht vorbei, wo Rucksack und Wanderstab zu ihrem Rechte kommen. Fort treibt es uns von dem steinernen Meer der Grohstadt. Von Kangfchleuse aus. Mit den Zügen der Stadtbahn fahren wir über Fried- richshagcn und Erkner (hier umsteigen, Fahrplan wegen der Anschlußzüge vorher einsehen) nach Fangschleusc. Von Fried- richshagen an geht die Fahrt fast immer durch echt märkischen Kiefernwald. Das Gelände ist völlig eben, nur vor W i l- Helmshagen wird ein chügelzug gekreuzt, die P ü t t b e r g e, ein Binnendünengebiet, das sich bis W o l t e r sd o r f erstreckt. In Fangschleuse verlassen wir den Zug. Wir find sogleich mitten im Wolde , einem Kiefernwald, wie wir ihn so ausgeprägt selten in anderen Gegenden unseres Vaterlandes als in der Mark Branden- bürg antreffen. Auf der von Grünheide kommenden Chaussee wen- den wir uns südlich, jedoch schon nach knapp 100 Metern geht es
halblinks ob auf den Weg zur Försterei Störitzsee. Der ffiog ist von Birken eingefaßt, die ia ihren, hell schimmernden Kleid einen amnnflgen Gegensah zu den düsteren Kiefern bilden. Der Wald lichtet sich, der Blick wird frei, die Wassersloch« eines Sees weitet sich vor uns. es ist der S t ö r i tz f e e. Am Nordufer liegt die Försterei Störitzsee, eine Stunde vom Bahnhof Fangschleufe ent- fernt(keine Erfrischungen). In einsamer Ruhe liegt der See, von Kiefernwald rings umgeben. Seine Fläche ist fast kreisrund, sie mißt etwa 700 Meter im Durchmesser. Auch am Störitzsee ist das Gelände völlig eben. Ein gewaltiges llrstromtal. Wir befinden uns nämlich von Berlin an ständig in einem weiten Tal, wodurch uns das ebene Gelände erklärlich wird. Es ist eines jener gewaltigen U r st r o m t ä l e r, die Norddcutschland durchziehen und in denen Schmelzwasser des Eises der Eiszeit zum Weltmeer abflössen. Unser Tal läßt sich von Warschau durch Polen und die Mark Brandenburg bis zum Elbtal verfolgen. Auch
Y G WPvG Vch Berlin liegt mitten in diesem Tal, das daher den Namen„B s r- l i n e r Urstromtal" erhalten hat. Mehrere Kilometer ist das Tal breit, das hier von der Spree durchflössen wird, die jedoch nur einen ganz winzigen Raum in der ungeheuren Weite des Tals ein- nimmt: sie gleicht der Maus im Käfig des Löwen , wie einmal ein großer Geologe gesagt hat. Die vom Urstrom abgelagerten Sand- Massen bedecken die Talebene auf weite Strecken. Der Sand ist wenig fruchtbar, er gibt keinen guten Ackerboden: von den Waldbäumen gedeihen auf ihm nur Kiefern und Birken, die in ihrer Genügsamkeit mit dem nährstosfarmen Boden vorlieb nehmen. Deshalb konnten wir auch, sobald wir die Großstadt mit ihren Ausläufern hinter uns hatten, bemerken, daß die Gegend nur wenig besiedelt ist und daß der Kiefernwald vorherrscht. Funde aus der Vergangenheit. Vom Forsthaus Störitzsee wandern wir zunächst auf der Straße gen Nordost, biegen jedoch bald rechts ab und kommen dicht an den See heran. Hier herrscht zur warmen Jahreszeit ein r e g e s B a d e l e b c n. Die Kiefern, die am See etwas lichter stehen, haben sich mitunter zu stattlichen Bäumen von kräftigem Wuchs mit schöner, eigenartiger Krone entwickelt. Auch der so oft in Gesell- schast mit der Kiefer auftretende Wacholder ist hier anzutreffen. Der in der Nähe des Sees feuchtere Boden sagt ihm anscheinend gut zu. Oestlich vom See führt in' südwestlicher Richtung eine schöne Waidstraße vorüber, der wir folgen. Nach 15 Minuten kreuzen wir die Chaussee bei Kilometerstein 10,5. 12 Minuten weiter: kurz vor W i l h e l ni s a u e, wenden wir uns nach rechts. Wir kommen in die Nähe des Spreetals. Das Gelände gewährt ein« weite Aussicht, hier wurden bei Wilhelmsaue bedeutsame Funde aus vorgeschichtlicher Zeil gemacht. Sowohl Siedlungsspuren aus der jüngeren Steinzeit(2. bis 3. Jahrtausend v. Chr.) als auch o st germanische Brandgrubengräber aus der römischen Kaiserzeit(300 bis 400 n. Chr.) wurden aufgedeckt. Diese Gräber zeigen die Merkwürdigkeit, daß die Asche der Bestatteten nicht in Gefäßen beigesetzt, sondern ohne Gefäß der Erde übergeben wurde. Diese Bcstattungsart wird den ostgcrmanischen Bur-
Am Störitzsee.
AjeAachtnachdemVenat. 30] Nomon von£iom O'Flaherty . l«u« dem Englischen übersetzt von«.Häuser.; Ein großer, sauergesichtiger Mann mit einer wie eine umgekehrte Sichel gebogenen roten Nase war foeben herein- gekommen; er sah der alten Frau topfschüttelnd nach und murmelte etwas vor sich hin. Die Alte blieb stehen und blickte ihn verächtlich an. „Was hast du da zu kichern, du da mit deinem Gesicht wie ein Teller angebrannten Brei?" Lautes Lachen erhob sich. „Mary Hynes," sagte der hakennasiae Mann,„wenn du dich besser um die Erziehung deines Sohnes und um seine unsterbliche Seele gekümmert hättest, dann würdest du jetzt nicht in dem Zustand sein, in dem du bist. Brüstest du dich der Gesetzlosigkeit deines Sohnes, wie? Brüstest du dich der Verbrechen, die er in diesem Leben beging, wo er schon da- hingegangen ist. um vor seinem Gott zu treten?" Der hakennasige Mann erhob seine Rechte theatralisch gen Himmel und stierte die Alte mit finsterer, drohender Traurigkeit an. Aber seine Worte riefen bei der alten Fraw eine andere als die erwartete Wirkung hervor. Sie sah ihn voll Ver- achtung an und kräuselte ärgerlich den Mund. Erstaunt und entrüstet rief sie: herrje, nennst du's ein Verbrechen,'nen Polypen zu verprügeln?" „Sicherlich ist's ein Verbrechenl" rief der Hakennasige. „Verdammt und verflucht, was schwatzt du da. Boxer Lydon?" schrie ein stämmiger Bursche, kam auf Lydon las und starrte ihm erregt und ärgerlich ins Gesicht:„Hast du nicht gehört, was die Polypen heute mit Francis McPhillip gemacht haben? Nennst du's ein Verbrechen, die Mörder- bände kaputtzuschlagen, wie? Oder sie niederzuknallen?" „Ich sage ja nicht, daß sie damit im Recht waren, was sie heute taten." Lydon erhob seine Stimme zu quängelndem Schreien, um den Aufruhr zu ersticken. „Aber ebensowenig will ich sagen, daß der Tote im Recht war mit dem, was er getan hat. Denkt keiner von euch an den Manu, den McPHUUp gemoUist hat? War das nicht
auch ein Mensch wir ihr? War er nicht auch ein Ire vom gleichen Fleisch und Blut?" „Ach was, das ist Rationalismus!" schrie jemand.„Ist ein Ire vielleicht mehr als«in Türke? Du gehörst zur Irischen Brüderschaft, daher kommt dein Gequassel. Auf, ihr Arbeiter!" Der Hakennasige wartete mit erhobener Hand, bis die Unterbrechung zu Ende war. Dann fuhr er unentwegt fort: „Denkt denn keiner von euch daran, daß der Mann vielleicht 'ne alte Mutter hinterlassen hat und'n..." Aber er mußte aufhören. Seine Stimme ertrank im Aufruhr und im Handgemenge. Die alte Frau begann zu singen:„LeUv, the boy from Kiliane" und trollte sich aus der Tür. Ein anderer Mann bahnte sich mit Püffen durch die Menge einen Weg zu dem Hakennasigen. Dieser Reu- ankömmling hatte eine Zeitlang an der Tür gestanden. Er war von Kopf bis zu Fuß in«inen schweren, schwarzen Mantel gekleidet. Er war besser gekleidet als die anderen, sah aber fahl und hager aus wie alle. Sein Gesicht zuckte beständig, und seine Augen waren blutunterlaufen. Er blickte den Hakennasigen finster an und faßte ihn nervös beim Knopfloch. Der Hakennasige wich zurück. „Hör' um Gottes willen auf mit dem Gefabbel." Der Neuankömmling stotterte bei jedem Wort. Seine Oberlippe zuckte, als läge er im Krampf. „Laß mich gehen," schrie der Hakennasige.„Ich ver- lange das Wort, und ich laß mich von keinem sozialistischen Agitator ins Bockshorn jagen. Zurück da von mir!" Der andere stieß hervor:„Ich wollte dir bloß sagen, wollte dir sagen... ich sage... ich sage..." Dann war nichts mehr in dem Aufruhr zu unterscheiden. Jeder nahm teil an dem Streit. Die zerlumpten Burschen, die mit Gypo zusammen hereingekommen waren, nahmen— sonderbar genug— an dem Zank kein Interesse. Diejenigen, die nicht schon verschwunden waren, sobald sie ihre Portion erhatten hatten, machten sich setzt dünn, als der Streit be- gann. Es lag sogar ein ängstlicher Zug auf chren Gesichtern, als sie fortschlichen, als ob diese demonstrative Teilnahme an den Angelegenheiten der Welt sie erschreckte, sie, die für nichts mehr Teilnahme hatten, seit ihre Seelen in Hoffnungslosig- keit und Verzweiflung untergegangen waren. Nur ein paar der Verkommensten blieben, an die Tonbank gekauert, im »tröstlichen Schatten von Gypos enormer Größe. Sie blieben da, wall die Gegenwart seiner mächtigen Persönlichtett ihnen
g u n d e n zugeschrieben, die am Ansang der Völkerwanderungszeit hier durchzogen und dabei einige Zeit seßhaft blieben. An den Rändern des Spreetals, hüben und drüben, tauchen Siedlungen auf, Einzelgehöfte und auch Dörfer. Jenseits, in der Ferne, erheben sich die G o s e n e r Berge, gekrönt von der S ch i l l e r w a r t e, und die Berge bei Wernsdorf und N e u z i t t a u, die den füd- iichen Rand des Urstromtals bezeichnen. Oer Nückweg nach Erkner . Am Spreetal , zwischen Wald und Wiese, wandern wir weiter. Abwechslungsreich, aber immer gleich schön bleibt das Landschafts- bild. Wir bleiben immer am Waldrand— nicht den Weg über den Acker— und kommen nach Freienbrink. Kurz vor dem Ort steht an der Straße, die von Nordost hereinfuhrt, eine merk- würdig gewachsene Kiefer, deren Stamm eine Strecke weit auf deni Boden dahiukriecht, ehe er sich in die Luft erhebt. Wir, bleiben weiter am Rande von Waid und Wiese. Bald kommen wir an die Spree, die hier an den äußersten Band ihres Tals tritt und unmittelbar an dem etwas ansteigenden Talhang dahinfließt. Wir verlassen jetzt die Spreenicderung und wenden uns woldeinwärts. An der großen Geflügelfarm Jägerbude vorüber wandern wir nach H o h e n b i» d e. Bis hierher ist im Somnier Motorboot- verkehr von Erkner aus. In nördlicher Richtung verlassen wir den freundlichen Ort. Am jenseitigen Ufer sehen wir Neu- Zittau, in der Ferne tauchen die M üg gelberge auf. Dann geht es durch schönen K i e f e r n h o ch w a l d, der von birken. besäumten Wegen durchzogen wird, und am K a r u tz s e e vorüber. der allerdings von einem Drahtzaun umgeben ist, in einer knappen. Stunde nach Erkner . * Ein Gang durch diesen, an der alten Heerstraße von Berlin nach Frankfurt gelegenen Ort, dessen Entstehung in die Mitte des 18. Jahrhunderts fällt, beschließt unsere Wanderung. Da- mals wurden drei Pfälzer Familien angesiedelt, jetzt ist der Ort ei» beliebtes Ausflugsziel und eine gern aufgesuchte Sommers frische der Berliner mit vielen Häusern und weit über 4000 Ein>< wohnern. Die Friedrichstraße führt uns zum Bahnhof, von dem aus wir die Heimfahrt antreten.
Berlins neues Kraftwerk„Ltnierspree". Baubeginn voraussichtlich am 1. Oktober. Die überaus günstige Entwicklung der Berliner Eicktrizi- tcilswirlfchaft hat bekanntlich dazu geführt, daß das neu- erbaute Kraftwerk Klingcnberg in Bummelsburg schon in mehreren Zahren nicht mehr den Anforderungen der Industrie und der übrigen Stromabnehmer bezüglich der Elektrizitätsversorgung wird gerecht werden können. Damit nicht die Aufträge für neu« Elektrizität, sowohl füe Kraft wie für Beleuchtungszwecke zurückgewiesen werden müssen, well die Kapazität der vorhandenen Werke nicht ausreichte, planen die Berliner Städtischen Elektrizitätswerke bekanntlich genviyfanz � mit dem Siemens-Konzcrn den Bau eines neuen Kraft» werks an der Unterjpree. Dieses- Kraftwerk soll«ine ähnliche Größe wie das Wert Kling<mberg darstellen und eine Clektri- zitäts menge von 200000 Kilowatt liesern, mit den»:» hauptfächlich der Berliner Westen und die Jndustric.zonen in Span - dau usw. versorgt werden sollen. Man will mit dem Bau dieses neuen Kraftwerks, das an der Unterspree in der Röhe des Hoch- bahnkraftwerks seinen Platz finden wird, nach Möglichkeit noch in diesem Jahr« beginnen. Falls die Finanzierunqsvcrhand- lungen, die bisher bereits ziemlich aussichtsreich geführt worden sind, noch im Laufe der beiden nächsten Monate zum Abschluß gclangr sind, wird der Baubeginn schon am 1. Oktober d. I. erfolgen. Das Kraftwerk wird natürlich nach den modernsten Errungenschaften der Technik ausgeführt werden, und man will sich auch alle Er- fghrungen und Neuerungen zunutze machen, die auf dem Gebiete der Stromerzeugung feit der Fertigstellung des Kraftwerkes Klin- genberg, das ja eine technische Sehenswürdigteil darstellt, zutage getreten sind. Neben dem Bau dieses Parallelkraftwerkcs wird aber auch die Errichtung einer Reihe von neuen Abspann�
angenehm war und ihnen das Gefühl einflößte von einem Etwas, das sie schützte vor der Drohung zivilisierten Lebens. Die sich jetzt an dem Streit beteiligten, gehörten zu einer besseren Schichr. Es waren Arbeiter aller Berufe, Mitglieder von Gewerkschaften und respektable Leute. Sie waren irgendwie dazugekommen, einer nach dem anderen, aber schnell nacheinander, auf jene geheimnisvolle Art, in der Menschenmassen von verschiedener Art in der Gegend der Tittstreet zusammenkommen zu einem hitzig geführten Sireit� Gypo wandte sich plötzlich um und schaute auf die sich drängende Gruppe, die geöffneten Münder, die lauschenden. Ohren, die funkelnden Augen. Er horchte. Er blinzelte» Dann lachte er leise in sich hinein. Er spürte ein verrücktes Verlangen und sich mit den Fäusten über sie zu stürzen. Das Lärmgemisch ihrer aufgeregten Stimmen machte ihn oerrückt. Aber er sah auf die Tonbank zurück. Er hatte noch zu essen und fuhr in seiner Mahlzeit fort. Der Streit ging weiter. Der Mann in dem langen Mantel, der gerade gekommen war, fesselte die Aufmerksamkeit der Menge. Er war in diesem Bezirk und in der ganzen Stadt sehr bekannt. Ihm gehörte ein kleiner Tabaks- und Zeitungsladen. Man nannte ihn den„Schrullen-Shonahan", und Schrullen halte er in der Tat. Er gehörte keiner Organisation an, ging allein um-- her, war bei jeder politischen Versammlung in der Stadt an- wesend, und ununterbrochen, bei jedem Wetter, verkündete und predigte er mit lauter, schriller Stimme seine eigene, merkwürdige Philosophie des sozialen Lebens. Diese Philo- sophie war eine Mischung aller möglichen politischen Glaubensbekenntnisse, aber ihre Hauptgrundlage war Auf- löyrtung gegen jede bestehende Einrichtung, gegen Gewohn- heit und Glauben. Er wurde ein Anarchist genannt, aber er war kein Anarchist. Er war einfach ein Fanatiker, der vom Leben enttäuscht war. Des Nachts war er schrecklichen, trankhaften Vor- stellungen ausgeliefert, die ihn veranlaßten, sich in seinem Zimmer einzuschließen, es zu verriegeln und, den Kopf in das Laken zu vergraben, zu schlafen. Man erzählte sich sogar, daß er nachts Watte in seine Ohren stopfe, um ja keinen' Laut zu hören. Einmal fand ihn ein Schutzmann morgens um drei Uhr in der Straße, in der er wohnte, nur mit einem zerrissenen Nachthemd bekleidet, während er zitternd, mit vor Angst klappernden Zähnen umherirrte. Er war durch einen Alpdruck erschreckt aufgesprungen und in diesem Zustand aus dt« Htratze gestürzt,. föMtsetpwg jotgrz.