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dßeila�e Montag, 27. August 1928.
Ein Volk wird modernisiert!
Die Zigeuner sollen Den Zigeunern in Osteuropa   stehen böse Zeiten bevor. Man will sie sozusagen mit Gewalt zu den Segnungen unserer Zivili- sation bekehren, indem man ste zu geregeller Arbeit zwingt. Die Regierungen der Tschechoslowakei  , Ungarns   und Rumäniens   haben vor kurzem den Beschlust gefastt, die Zigeuner in Arbeitskolonien zu vereinigen und ihnen dadurch das Umherziehen unmöglich zu machen. Damit findet das Schicksal eines Volkes eine bedeutsame Wen- dung, das jahrhundertelang eine Sonderstellung unter den«uro- xäischen Völkern eingenommen hat. Die Zigeuner stammen, ihrer Sprache, demZ i g a n e h' nach zu schließen, aus Indien  . Unbekannt sind die Ursachen, die sie dazu veranlaßt haben, ihre eigentliche Heimat zu verlassen. Sie haben sich über die ganze Well zerstreut, aber ihre Eigenart, ihre seltsamen Rasseeigenschaften haben sie behalten. Tausende dieser dunkelhäutigen, schwarzhaarigen Menschen leben heute noch auf eine Weise, die im Vergleich mit der unseren um Jahrhunderte zurück- geblieben zu sein scheint. Zahlreich findet man unter den Zigeunern nomadisierende Stämme. In Neinen Gruppen, geführt von ihren Häuptlingen
Zigeunerkolonie in Weslungarn.
V a j J) a* genannt, ziehen sie in der Welt herum. Es gibt Wan- derzigeuner, die irgendein Gewerbe ausüben. Sie arbeiten als Trogmacher, Kesselflicker oder Silberschmiede, und es sehlt ihnen durchaus nicht an Geschicklichkeit und Kunstsinn. Meistens ist aber diese Arbeit eher nur ein Dorwand, um das Umherziehen zu erleichtern. Bei diesen nomadisierenden Stämmen herrschen oft urzeit- lich patriarchalische Verhältnisse. Das Stammes- oberhoupt oerwaltet das meist recht spärliche Vermögen der Gemein- schaft, ihm müssen alle Angehörigen des Stammes Gehorsam leisten.
Zirkus fem Daß es so etwas wirklich gibt! Ich kannte Zirkusie nur durch Wildwestfilme und durch Ca plins unvergleichliches Stück. Nicht wahr: als Berliner   geht man so mit sechs, acht Jahren mal zu Busch, und dann kommt man vielleicht noch mal hin, wenn Besuch aus der Provinz kommt, mit kleinen Kindern. Man kennt Revuen, Riesenkinos, Theater, man geht auch in die Skala, aber wenn man im Kino einen richtigen Zirkus sieht mit viel Leinewand, Pferden und Elefanten, dann meint man, drüben in Filmwildwest sei das vielleicht so.... Und mm braucht man nur ganz kurze Zeit in einer mittel- großen deutschen   Stadt zu leben, um zu erfahren, daß.es wirklich noch einen Zirkus gibt. Das riesige Zelt steht auf einer Anhöhe und beherrscht auf einmal die Stadt: die Menschenmassen werden hingezogen. An der Kasse sitzt ganz hoch, daß sie aus uns alle allmächtig herunterschauen kann, eine dicke Frau, unablässig Zigaretten rauchend. Sie hat pechschwarze Haare und fette Hände mit vielen Ringen, und sie kann sicher wahrsagen und ihr Großvater war vielleicht noch Zigeuner. Da, wo solange sonntäglicher Rasen war, stehen Logen mit Holzstühlen, dahinter schieben sich Bankreihen in die Höhe für Tausende von Menschen. Zu sehen gibt es viel mehr, als man verdauen kann. Da steht einer Kopf, hier jongliert einer, dort schaukelt jemand kopsüber durch die Luft Die Besucher des Zirkus gucken aber immer nur dorthin, wo es gerade am ge- fährlichstcn aussieht. Die anderen hängen dann hilflos in der Luft, lächeln verlegen und trostlos und werden bei der nächsten Krise zuerst abgebaut. Die Stallburschen reiten mal als Cowboys, mal als Kosaken rund herum. Als Cowboys müssen sie immerzu schießen., als Kosaken singen sieWolga, Wolga' und haben Mesier im Mund. Ganz junge Burschen lausen mit großen Schippen hinter den Pferden her. es stinkt aber trotzdem schrecklich nach Tier und Mensch. Das Publikum freut sich am meisten, wenn es ge- fahrlich wird, wenn ein Mensch als Kanonenkugel durch die Luft ge- schrfsen wird, wenn die Löwen   schauerlich brüllen und mit den Tatzen schlagen. Für eine Mark fünfzig Eintrittsgeld ein Mensch in Lebensaefahr, das ist doch etwas! Die Kapelle spielt Walzer und Polka, als ob wir ungefähr lNU hätten. Denn Tier« gewöhnen sich nicht so schnell an Neues wie wir Menschen, was mal drin sitzt, kann nicht sobald geändert werden. Und so kann man an der Musik, zu dem der Schimmel   seine hohe Schule vorführt, genau erkennen, wi« alt dieNummer' ist:Mädle aus dem Schwarzenwald' tönt es alt und vertraut ich habe als Schulmädel meine ersten Tanzversuche dabei unternommen. Die Glanznummer, die Frau Direktor persönlich auf weißem Hengst, in vieler schimmernder Seide und abwechselnd grün und rot bestrahlt, tanzt spanisches Ballett: ha, Valencia  ! Aber die Pferde sind, so will es uns scheinen, nun mal an Polka gewöhnt, und Valencia   als Polka ist scheußlich, scheußlicher als Holzauktion im
angesiedelt werden. Viele Zigeuner befassen sich mit Pferdehandel. Ihre Geschäftsmethoden genießen eine traurige Berühmtheit. Mir ist z. B. aus eigener Erfahrung der Fall eines Bauern bekannt, der auf einem Markt in Ungarn   seinen altgcwordencn Ackergaul ver- kaust und bald darauf ein anderes, anscheinend junges Pferd er- standen hat. Erst zu Hause, im Stall, merkte er zu seinem Schrecken, daß er sein altes Pferd teuer wiedererstanden hatte. Di« Zigeuner   waren an der Arbeit: eine Stunde hatte für sie genügt, um dem Pferd ein vollständig verändertes Aussehen zu geben. Die kultivierteste Klasse der Zigeuner sind die berufsmäßigen Musikanten. Sie sind seßhaft, bauen bereits gemauerte Häuser und leben in kleinen, streng abgesonderten Kolonien in der Nähe der Dörfer. Manche unter diesen Musikanten wurden sogar berühmt und erwarben nicht unbeträchtlich« Vermögen, z. B. der Zigeunerprimas R ä c z Loci, der eine ganze Dynastie be- kannter Zigeunerkapellmeister begründet hat, von der jetzt Racz Lac« der XXXVII. in Budapest   konzertiert. Zu erwähnen ist noch der Primas N y a r i Rudi, der insbesondere in Amerika  Erfolg hatte, und die Zigeunerin C i n.k a P a n n a, die mit dem ungarischen Freiheitskämpfer R a k o c z i in die Verbannung ging und deren Kompositionen heute noch, nach mehr als 2SO Jahren, in Ungarn   zur populären Musik gerechnet werden können. Musik ist überhaupt so ziemlich das einzige Gebiet, auf dem die Zigeuner bedeutende Leistungen vollbracht haben. Ihre feurigen, sehnsucht- erfüllten Volkslieder und Tänze sind über die Grenzen Ungarns  hinaus bekannt, und so manche ungarische Operette verdankt ihre Schlager und ihren Welterfolg Zigeuncrmeiodien unbekannter Schöpfer. Alle Zigeuner zeigen die gleichen Eigenschaften. Sie sind ein schöner Menschenschlag: schlank, von tiefbrauner Hautfarbe und sehr intelligent. Ihre abenteuerliche Lebensweise, die sie sehr bald in Gegensatz zu den Menschen, unter denen sie leben, bringt, die immerwährende Verfolgung, unter der sie zu leiden haben, hat in ihnen ganz besondere Eigenschaften entwickelt. Zigeuner   besitzen einen hochentwickelten Orientierungssinn, eine ungewöhnlich scharfe Beobachtungsgabe und unglaubliche Geschmeidigkeit. Die Wurf- angel, eine kleine dreifache Angel, die in jeder Lage greift, wird von ihnen meisterhaft gehandhabt. Pflanzengifte, insbesondere die gefährlichen Säfte verschiedener Nachtschattengewächse finden bei ihnen sowohl als Heilmittel wie auch als Gift häufig Verwendung. Die Zigeuner sind leidenschaftliche Fleifchesser, und da es ihnen nicht immer möglich ist, sich teueres frisches Fleisch zu beschaffen, schrecken manch« von ihnen auch nicht vor dem Genuß verendeter, halb verwester Tiere zurück. Der Igel ist ein bei ihnen besonders beliebtes Nationalgericht. Die Zigeuner sind unübertreffliche Jäger und Fischer. Ein scharfer Instinkt ergänzt, was ihren Werkzeugen an Vollkommenheit fehlt. Ein Volk, das bisher Paria war, steht an der Schwelle einer neuen Entwicklung. Gelingt es, seine hohe Intelligenz in den Dienst neuzeitlicher Arbeit zu stellen, dann ist es nicht schade um die verlorene Romantik und die Musik, die aus ihr entstanden ist und nun kein Thema mehr finden wird. Viktor Sanguessa.
von Berlin  . Grunewald  . Die Ballettmädchen selbst sind nett und schlank. Aber sie benehmen sich, wie sich di« Mädchen benehmen auf den bunten Elfenreigenbildern, die man früher für neun Mark fünfzig bei kleinen Glafermeistern in Seitenstraßen als Hochzeitsgeschenke erstehen komite. Ein Bein rechts rüber, eins links rüber, alle Mann im Kreis herum. Als ob es weder Tillergirls gäbe, noch Gymnastik, weder Jazzband noch Iosephine. Wir Habens in der Schule im Turnunterricht machen müssen früher. Auch den Parade- marsch: vor der- großen Pause kommt ein BildFridericus, ein Schaustück:ei von jeglicher Politik'. Es geschieht wirklich nichts. Die Kapell« macht Krach und di« Mädchen spielen: rech:-- umkehrtweine nicht Lowife" Gewehr überwisch ab das Gesicht' das Ganze halt. Es ist die langwelligste Nummer des ganzen Programms, aber sicher die jüngste und deshalb der Stolz des Direktors. Am Manegeneingang hängt ein Bllhnenz�tel: Als Auguste fungieren während des ganzen Abends die Herren..' Dann kommen sehr bürgerliche Namen. Es sind kleine Kerlchen, die ohne Schminke merkwürdig genug aussehen. Einer mimt den Bajazzo und spielt schmalzig auf der Zither. Am anderen Morgen steht an der Kasse angeschlagen, daß wegen des großen Andrangs die Vorzugstarten weiter gültig blieben. Zirkusiogik! Ein paar Cowboys ziehen durch die Stadt, Kinder besichtigen die Raubtierkäfige und gucken in die Wohnwagen. Die Ballettmädchen laufen schwitzend einher, und ich meine, jeden Augen­blick müßte Tom Mix   auftauchen und die stattliche Frau Direktor entführen. -» Daß es so«'.was wirklich gibt: diesen ganz modernen kleinen T r u st mit angestellten Handwerkern, Pressechef?, Schreibfräuleins und Dalletmädchen mit Kündigungsterminen und 5brankenkassenversicherung. in dem Gewände einer Mittelalter- lichen Zigeunergesellschas't und mit einem Programm, das seit altersher dasselbe ist! Wo in einer Stadt mit einem dvtzendmal mehr Einwohnern, wenige Bahnstunden entfernt, das Kabarett der Komiker spielt, der Zirkus Schumann eine Riesenrevue ist. der Panzerkreuzer Potemkin   zensiert wird, Mary Wigman   tanzt und im Sommer Primaner politische Reden halten. Hier aber kommt man mit dem Auto aus den umliegenden Nestern, hier sehen sich zehntausende Erwachsener für eine ganze Menge Geld Cowboys und jonglierende Mädchen an. Die T h e a t e r s a i s o n begmt eben erst in vier Wochen. Und selbst die Kabaretts sind geschlossen. Man kann auch keine erlebnis- reichen Weekendausflüge machen, denn wenn man vom Zentrum der Stadt aus«ine halbe Stunde spazie.'engeht, ist man mitten kn Wald und Wiese. Die politischen Versammlungen fallen aus, das bürgerliche Lokalblatt schreibt fest acht Tagen nur vom Zirkus, und
über den Panzerkreuzer steht eine Notiz auf der dritten Seil« in Petit. Es ist gar nichts, gar nichts los hier. Man möchte etwas passieren lassen. Man möchte zum Bei- spiel einen Menschenaustausch einführen zwischen Mittel- und Großstadt. Einen Austausch, der wichtiger wäre vielleicht als der von Studenten zwischen Paris   und Berlin  . Vielleicht gäbe es dann in Zukunft weniger Klatsch, Beleidigungsklagen und ähnliches hier. Es würde irgend etwas getan, man spielte nicht mehr in ganz Deutschland  , wenige Stunden von Berlin   entfernt, so ruhig- gefährlich 1914. Herta Zerna  .
Revision nach 37 Jahren. Die Verurtcilien gestorben: in Zuchthaus und Irrenhaus. Im Jahre 1891 verurteilte das Schwurgericht in E p i n a l (Frankreich  ) Vater, Mutter und Sohn Adam wegen Mordes zu je IS Jahren Zwangsarbeiten: sie waren angeklagt, im Juli 1888 ihre Pensionärin, die Witwe Barthelemy auf grausamste Weise getötet zu haben. Vor wenigen Tagen also 49 Jahre nach der Tat beschloß der Kassationshof die Wieder- aufnähme des Verfahrens... Und die vor 37 Iahren Verurteilten: Der Vater im Bagno gestorben: die Mutter noch während der Untersuchungshaft im Irrenhaus elend zugrunde gegangen zu Hause klagten
Zigeunerkapelle bei einem ländlichen Fest. Zu dem Artikel:Ein Volk wird modernisiert!"
um sie minderjährige Kinder. Und der Sohn? Als einziger, der Freiheit wiedergegeben, fand er den Tod im selben Irrenhaus wie seine Mutter! Der verzweifelte Kampf um seine Rehabilitierung hatte bei ihm Wahnideen ausgelöst. Drei Menschen- leben vernichtet um eines Justizirrtums willen! Alle drei Bater, Mutter und Sohn leugneten vom ersten Tage an ihre Schuld. Was nutzten aber all ihre Be- teuerungen, da ihr Nachbar, ein Mensch von krimineller Vergangenheit, mit den Angeklagten verfeindet, als einziger Zeuge untrügliche Beweise ihrer Schuld erbrachte. Da dursten sie mit noch so vielen Eiden ihre Unschuld beschwören nichts konnte sie retten. Das Gericht schenkte dem Nachbarn Glauben. Das Urteil lautete auf je 15 Jahre Zwangsarbeiten für Vater und Sohn die Mutter war ja nicht mehr. Der Nachbar ober, der Mann mit der kriminellen Vergangenheit triumphierte. Aus dem fernen Bagno, von Guyana  , der Deportiertenhölle, schrieben Vater und Sohn wiederholt an den Iustizminister nach wie vor beteuerten sie ihre Unschuld! Vergeblich: es gab keinen formellen Grund für eine Wiederaufnahme. Die Schuld- losen hofften aber trotzdem und litten Qual und Pein zwischen Mördern und Räubern, Notzüchtern und Falschmünzern, büßten jahrelang eine Tat, die sie nicht begangen. Der Vater ging un- gehört zugrunde, der Sohn erblickte die Freiheit, um den Verstand zu verlieren. Sein jüngerer Bruder, Louis Adam, ließ aber nicht locker. Er wußte, daß das Leben von Vater, Mutter und Bruder üm eines Dösewichtes willen vernichtet worden war und trug den Sieg davon. Nach 37 Iahren. An die zehnmal wurde versucht, ein Wiederaufnahmeverfahren durchzusetzen. Mitunter wollte es fast scheinen, als sollte es ge- lingen. Seit 1997 bemühte sich die Liga der Menschenrechte, dem Rechte zum Siege zu verhelfen. Vergeblich! Der Kampf ging aber weiter. Im Frühling dieses Jahres trat plötzlich eine Wendung �in. Witwe und Tochter des früheren Leiters des Bagno   in Guyana  gaben unaufgefordert die Erklärung ab, daß auch sie von der Un- schuld aller drei Vater, Mutter und Sohn seit langem über­zeugt seien. Louis Adams Anwalt machte diese Erklärung zum Ausgangspunkt neuer Bemühungen. Und diese, gemeinsam mit den Ermittlungen des vortrefflichen Kriminalkommissars Bufföt, ergaben tatsächlich die Unschuld aller drei Verurteilten. per einzige Belastungszeuge FeUcien Duchane war tot. Da meldete sich eines Tages beim Untersuchungsrichter in Gadoruppe so hieß das Heimatsdorf Adams In den Vogesen   ein altes Frauchen, Dorfbewohnerin Claude. Und beichtete: Sie sei Zeugin der grausigen Tat in der verhängnisvollen Iulinacht 1888 gewesen. Den Mord haben aber nicht Adam und dessen Sohn begangen nein. Ortsfremde, Unbekannte. Sie habe geschwiegen ans Furcht vor Felicien Duchane. Zeitlebens habe ihr aber das Gewissen keine Ruhe gelassen. Nun sei Duchane tot: da habe sie sich entschlossen, endlich die Wahrheit zu sagen... Nur kurz war die Verhandlung vor dem Kassationshof. Weder Publikum noch Presse waren vertreten, bloß der Sohn, der jähre- lang um die Ehre seiner Familie gekämpft, und die wenigen An- gehörigen der unschuldig Verurteilten alle in Trauer. Im Winter dieses Jahres wird die Wiederaufnahmeverhandlung statt» finden. Den Verurteilten wird ihr Recht werden. Nach 37 Jahren... Ein Justizirrtum mehr! Die Angeklagten waren nicht zum Tode verurteilt worden. Nur zu 15 Iahren Bagno. Das Urteil kam aber dem Tode gleich. Juftitia du darfst auf deine Diener stolz sein! I-eo Rosenthal.