Morgenausgabe
Rr. 469
A 238
45.Jahrgang
Böchentlich 85 31. monatlich 3,60 m. bm vorans zahlbar, Bostbezug 4,32 m. einschl. Bestellgeld. Auslandsabonne
ment 6,- M. pro Monat.
*
Der Borwärts erscheint wochentag lich zweimal, Sonntags und Montags einmal, die Abendausgaben für Berlin und im Handel mit dem Titel Der Abend", Illuftrierte Beilagen Bolt und Zeit" und Kinderfreund". Ferner Unterhaltung und Wissen", Frauen ftimme". Technit". Blid in bie Bücherwelt" und Jugend- Borwärts
Vorwärts
Donnerstag 4. Oftober 1928
Groß- Berlin 10 Pf. Auswärts 15 Pf.
Die einipaltige Ronpareillezetle 80 Pfennig. Reflamezeile- Reichs mart. Aleine Anzeigen" das fettge brudte Bort 25 Pfennig( aulaffig me Jettgebrudte Borte), jebes weitere Bort 12 Bfennig. Steuengesuche das erste Wort 15 Bfennig, jedes weitere Bort 10 Pfennig. Borte über 15 Buchstaben zählen für zwei Borte. Arbeitsmartt Beile 60 Pfennig. Familienanzeigen für Abonnenten Zeile 40 Pfennig. Anzeigen annahme im Hauptgeschäft Lindene traße 3, wochentägl, von 81/, bis 17 Uhr,
Redaktion und Berlag: Berlin SW 68, Lindenstraße 3 Bernsprecher: Dönhoff 292-297 Telegramm- Adr.: Soztaldemokrat Berlis
G.m.
Paris , 3. Oftober.( Eigenbericht.) Angesichts der Spannung, mit der die franzöfifche Oeffentlichkeit den kommenden Räumungsverhandlungen entgegensieht, mehren sich in der Preffe die Kombinationen und Versuchsballons, die famt und fonders den Tatsachen stark vorauseilen. Das läßt sich insbesondere von einer Meldung des„ In franfigeant" fagen, nach der im Ministerrat vom Dienstag der Außenminister Briand einen langen Bericht über die„ in diesem Augenblid" gepflogenen Besprechungen erstattet haben soll. Nach der gleichen Quelle soll Poincaré bereits die Zustimmung des Kabinetts erlangt haben, Frankreichs Gesamtforderung für die Regelung an Reparatio. en auf 30 milliarden Goldmart feffzusehen, und mitgeteilt haben, daß die von der Sechserkonferenz vorgesehene Finanztommiffion nach einer zwischen Deutschland und Frankreich getroffenen Bereinbarung im Dezember in Paris zusammentreten wird. Hierzu ist zunächst zu jagen, daß die in Genf befchloffenen Verhandlungen
noch feineswegs eingesetzt
haben. Dazu bedarf es, wie das betreffende Blatt felbft feststellt, eines offiziellen Schrittes der deutschen Regierung. Da der deutsche Botschafter v. Hoesch erst Ende nächster Woche auf feinen Boffen zurüdfehrt, fann also frühestens zu diesem Datum mit der Einleitung der Vorverhandlungen gerechnet werden.
Auch die Meldung von den 30 Milliarden, die Frankreich zu verlangen gedenkt, ist mit Borsicht aufzunehmen. Die Forderungen Frankreichs find in den letzten Reden Poincarés zum erstenmal dahin umriffen worden, daß Deutschland die Zahlung der französischen Schuld an die Alliierten zu über. nehmen und darüber hinaus einen„ anständigen Beitrag zur Wiedergutmachung der Kriegsschäden zu leisten habe. Poincaré hat nichts von der vollen Rückerstattung der für die kriegsschäden aufgewandten kosten erwähnt, aber selbst wenn man das annehmen wollte, wäre der Betrag von 30 Milliarden zu hoch gegriffen. Was die Schulden an die Alliierten betrifft, so beziffert sich ihr Gegenwartswert auf 1,7 milliarden Dollar für Amerika und 223 Millionen Pfund für England, das find
rund 11,5 milliarden Goldmart.
-
Bostscheckkonto: Berlin 37 536. Bankkonto: Bank der Arbeiter, Angestellten und Beamten Wallstr. 65. Diskonto- Gesellschaft, Depofitenkaffe Lindenstr.&
Das Hungerland.
Der Streit im Waldenburger Elendsgebiet.. ( Von unserem Sonderkorrespondenten.)
Waldenburg, 3. Oftober. T Aus den fruchtbaren Ebenen bei Liegnig und Breslau zieht sich die Eisenbahn pustend und stöhnend in das herbstliche Waldenburger Bergland hinein. Die Landwirtschaft, die der reichen schlesischen Ebene ihr Gepräge gibt, hört hier auf. In den Bergen drängen sich rußige Fabriken und unzählige Werkstätten, sigen seit altersher Glasindustrie, Keramit und Textilgewerbe. Im Tal ist der Bergbau zu Hause. Düfter und storr reden sich seine Wahrzeichen, schwarze Fördergestelle, in die rußige Luft. In dielem klassifchen Industriegebiet, dichter bevölkert als die Industriegegenden in Rheinland und Westfalen , streiken seit Dienstag 27 000 Bergleute. Sie fordern eine Lohnerhöhung Don 15 Pro 3., die von den Bergherren abgelehnt wird.
-
-
Wir wissen, der niederschlesische Bergbau ist, wenn er auch die beste Kohle Deutschlands fördert, nicht auf Rosen gebettet. Die Flöge liegen, verglichen mit denen in OberRechnet man hierzu noch die Gesamtheit der rund 90 Milliarden schlesien und Westfalen, äußerst schlecht. Sie stehen unter Franken, die Frankreich tatsächlich für feinen Wiederaufbau auf- startem Gebirgsdrud, und der gefürchtete Staubanfall ift gewandt hat, so würde sich die französische Gesamtforderung auf etwa bei der Kohlengewinnung äußerst groß. Der niederschlesische 25 milliarden 2 art belaufen. Selbstverständlich handelt es Bergbau hat das sei ohne weiteres zugegeben gerade sich hier nur um die französische Verhandlungsbasis, nach dem Krieg, nach der Zerschlagung wichtiger Absat und diese Summe dürfte fraglos im Laufe der Verhandlungen noch erhebliche Modifikationen erfahren.( Frankreichs Reparationsanfell gebite, heute doppelt schwer zu kämpfen. Deshalb ist der Kampf, der gegenwärtig im Waldenburger und Neuroder wurde bisher auf 55 proz. der Gesamtfumme festgesetzt. Red, des Revier geführt wird, vor allem wirtschaftspolitisch zu werten. „ Vorw.".) Diesem Revier muß Hilfe gebracht werden, aber zuvor ist der notleidenden Industriebevölkerung in den schlesischen Bergen zu helfen. Hungerland hat man dieses Revier schon vor dem Kriege genannt, und Hungerland ist dieses Revier noch heute. Wir haben uns in den Jahren nach dem Kriege, in den Jahren einer fürchter lichen Wohnungsmijere, an Wohnungsnot und Wohnungs elend gewöhnt. Wir kennen die Elendsquartiere in den deutschen Großstädten, in Berlin und in den traurigen Mietsfasernen Rheinlands und Westfalens. Man ist abgeftumpft. In Waldenburg aber wird angesichts der Wohnungsmisere ieder aufs neue und aufs tieffte erschüttert. Hier ist die Wohnfrage eine Lohnfrage. Blaffe Gesichter und unterernährte Körver zeugen von beispiellofem Elend. Wir haben felbstverständlich für die wirtschaftlichen Nöte der Industrie Dieses Gebietes volles Verständnis, aber wer bringt ange fichts dieses Hungerlandes den sozialen Mut auf, dieser notleidenden Bergarbeiterbevölkerung die bescheidene Lohnerhöhung von 15 Proz. zu bestreiten? Die Erfüllung der Bergarbeiterforderung ist eine soziale Notwendigkeit. Sie barf feinen Tag auf sich warten laffen.
Die Kommunalwahlen vertagt.
Gegen die Stimmen der Sozialdemokraten im Ausschuß beschlossen. Der Landtagsausschuß für Gemeindeangelegenheiten befaßte| unbedingte Notwendigkeit einer balbigen Wahl unterstrichen hatte, fich in seiner Sigung am 3. Oftober bereits mit der vom Landtag nahm der Genoffe 2 einert das Wort zu grundsäglichen Aus. überwiesenen Gesetzesvorlage zur Feftfegung der Wahlen zu den führungen. Er hob besonders hervor, daß mit dem Unrecht der Kreis und Provinziallandtagen. Er beschloß om bereits verlängerten Legislaturperiode der Gemeindevertretungen Ende seiner sehr ausgedehnten Debatte mit 16 gegen endlich Schluß gemacht werden muß und bewies an hand von Bei13 Stimmen, die Vorlage des Staatsministeriums dahingehend spielen, daß die Gemeinden heute einfach nicht in der Lage feien, abzuändern, daß die Wahlen nicht bis 31. Dezember 1928, sondern ihre Verwaltungen im notwendigen Maße zu befehen.( Gefeß der bis 1 Ottober 1929 stattzufinden haben. Mit derselben 3weidrittelmehrheit.) Dieser Zustand muß durch baldige Neuwahl Mehrheit wurde auch ein Antrag der Demokraten durch die Bolts- geändert werden. Es geht weiter nicht an, daß den über 1,2 mil. partei bahingehend abgeändert, daß das Gesetz zur Festsetzung der lionen Einwohnern der ehemaligen Gutsbezirte das Gemeindewahlen vom 18. April 1928 diefelbe enbe. tommunale Wahlrecht länger vorenthalten bleibt. Die Sozialdemo rung erfährt, angenommen. Gegen die Sozialdemokraten und fraten würden geschlossen für den allgemeinen kommunalen Groß 5 ausnahmsweise auch die Stommunisten stimmten alle bürger mahltag ftimmen, um die Bevölkerung zu ihrem Rechte zu ver lichen Parteien für diese Hinausschiebung des kommunalen helfen. Bei dieser Gelegenheit brachten die sozialdemokratischen Großwahltages. Bertreter auch den Antrag ein, den am Orte verhinderten Wählern das Wahlrecht vom Aufenthaltsorte zu sichern.
9
a
e
39
Für die Sozialdemokraten sprach sich zunächst der Genoffe Saas mit aller Schärfe für die kommunale Großwahl am 2. Dezember d. J. aus. Er begrüßte bie in diesem Sinne gehaltene Borlage der Regierung.
Heute tritt der Ausschuß um 2 Uhr erneut zusammen, um in die Einzelberatung einzutreten. Es muß mit allen parla mentarischen Mitteln versucht werden, mindestens die GeNachdem noch einmal der Genoffe Harnisch- Neukölln die meindewahlen am 2. Dezember zu ermöglichen.
Die Hugenbergsche Telegraphen Union hat die Nachricht verbreitet, daß das Luftschiff Haus Doorn über. flogen habe und Dom Ertaiser und seiner Frau lebhaft begrüßt worden sei. Eine Bestätigung dieser Nachricht war bis in die späten bendstunden nicht zu erlangen. Das BTB. verbreitete zu dieser Angelegenheit folgende Melbung:
Belm Reichsvertehrsminifterium liegt zurzelt noch eine Bestätigung der von einzelnen Zeitungen gebrachten Meldung bor , wonach das Luftschiff Graf Zeppelin" Haus Doorn überflogen haben foll. Hierüber wird zunächst der Bericht des vom Reichsverkehrsminister zur Mitfahrt als paffagier entfandten Ministerialtals Mühlig- Hofmann abgewartet, über den der Reichsverkehrs miniffer von Guérard erst nach seiner Rüdtehr aus Ostpreußen eine Entscheidung wird treffen können.
Wie wir aus Friedrichshafen kurz vor Redaktionsfchluß erfahren, ist die Nachricht der Telegraphen- Union felsch. Das Luftschiff hat Haus Doorn nicht überflogen, fondern ist geraden Kurs nach Rotterdam gesteuert.
Die Art der Berichterstattung der Hugenbergschen TelegraphenUnion richtet fich von selbst. Sie ist ein Tell bes Bersuches, der gulegt mit Hilfe des Hugenberg- Nachrichtenmonopols ange
stellt wurde, aus dieser Zeppelinfahrt eine schwarzweißrote Hugenberg- Angelegenheit zu machen. Hoffentlich sieht Herr Dr. Edener ein, in welche bedenkliche Situation er sich mit der Erteilung eines derartigen Nachrichtenmonopols gebracht hat.
Man droht schon wieder mit Aufständen!
München , 3. Oftober.( Eigenbericht.) In der Eröffnungsfigung der Bayerischen Landesbauernkammer hielt deren Präsident Brieger eine Rede, in der er offen mit Bauernaufständen drohte. Die Geduld der Bauern sei zu Ende, er marne die Reichsregierung und die Parlamente in letter Stunde. Wenn sie weder den Willen noch die Kraft aufbrächten, ben Wünschen der Landwirtschaft zu genügen, fo würden die Bauern zur Selbsthilfe greifen, die schwere Erschütterungen unferes Staatswesens mit sich bringen merde. Aus dieser Drohung spricht weniger die Spißenvertretung der bayerischen Landwirtschaft als der deutschrationale Land. bündler, ber die zum Teil bestehende Noilage der Landwirtschaft zu einer offenfundigen Heße gegen die junferreine Reidysregierung mißbraucht. Diefer Präsident Brieger, der für seine Person ein herzlich unbedeutender, aber wohlfituierter Herrenbauer aus Unterfranten ist, ist bei den Wahlen am 20. Mai auf der deutschnationalen Liste durch gefallen. Bielleicht hat ihn das nachträglich zu dem tuf nach Bauernaufftänden veranlaßt.
Bor uns liegt ein sportärztlicher Jahresbericht der Ge meinde Waldenburg. Danach find 2,5 Proz. der Schuljugend tuberkulös, 30 Proz. zeigen Reichen von Skrofulose , 1,9 Proz. haben Berkrümmungen der Wirbelsäule und 32 Broz. zeigen Bergrößerungen der Schilddrüse. Untersucht wurden 6133 Kinder in den Bolts- und 1815 in den Berufsschulen. Man hat franten Kindern eine Aufforderung an die Eltern ausgehändigt, fie unverzüglich ärztlicher Behandlung zuzuführen. Der amtliche Bericht muß aber feststellen, daß dieser Aufforderung in vielen Fällen nicht entsprochen wurde. Schuld daran war die wirtschaftliche Not und der Mangel an tassenärztlicher Berforgung bei den Familienangehörigen der im Bergbau beschäftigten Arbeiter. Nach einer anderen Statistik waren von den untersuchten Kindern 30,6 Proz. frant, 8.8 Proz. der untersuchten Kinder blieben ohne erstes Früh ftüd, 9 Broz. ohne zweites Frühstüd und 6.2 Broz. fonnte fein warmes Mittagessen gegeben werden. Auf das Besperbrot mußten 35 Proz. verzichten. Ohne Abendbrot gingen 4,9 Proz. ins Bett, 3,2 Proz. dieser Kinder hatten tein Schuhwert und 3,3 Broz. verfügten über feine Strümpfe. Bei 20,7 Broz. fonnte festgestellt werden. daß zu Hause nur eine mal Bettwäsche vorhanden war. 5,5 Proz. mußten ohne Bettwäsche austommen. Für 2,1 Proz. vermerkt die er barmungslose Statistit, daß überhaupt fein Hemb Dorhanden war, und 21,4 Broz. blieben bei fürchterlichfter Winterfälte ohne schüßenden Mantel. 16 Proz. dieser untersuchten Kinder haufen in Wohnungen, die in einem Raum mehr als fünf Personen beherbergen, und 9,6 Proz. mußten- Proletarierjugend, Proletarierlos- mitverdienen. helfen.
Schließen wir diese Elendsstatistit mit einem Bitat aus einer Denkschrift, in der der Magistrat der Stadt Waldenburg fagt:
., Die Löhne reichen mit fnapper Not für Familien mit höchstens 1 bis 2 Kindern bei voller Gesundheit aller Familienmitglieder. Wo dann aber infolge längerer Arbeitslosigkeit die normalen Einkünfte gefehlt haben oder bei Krankheitsfällen unvorhergesehene Ausgaben entstanden find, herrschen Notstände, die es den betreffenden Familien faum noch ermöglichen, auch bei wiedereinsetzendem nor. malen Berdienst in geordnete Berhältnisse zu fommen. Es gehört zu den alltäglichen Borfommnissen, daß auf Anträge auch der Volle verbiener aus Wohlfahrtsmitteln für Mietrüdstände eingetreten merden muß, um fonft unvermeidliche Räumungsflagen