Beilage
Donnerstag, 1. November 1928.
Was geht in Sowjetrußland vor?
Der Abend
Spalausgabe des Vorwärts
,, Abweichungen" rechts und links.- Die ,, Flüsterer". Die Wirtschaftskrise spitzt sich zu.
Die gegenwärtige Bage in Rußland fann am besten mit dem französischen Wort malaise( Unbehagen) bezeichnet werden. Eine Krise? Gewiß: Stagnation und Rückgang der verstaatlichten Industrie in Mai Juli, Zerrüttung der Landwirtschaft, Mißernte und Hunger in der Ukraine , der Kornkammer Rußlands , Teuerung und Produktenmangel in der Stadt, Warenmangel auf dem flachen Lande, zunehmende Arbeitslosigkeit, Zerrüttung der Arbeitsdisziplin, Depression bei den Spezialisten nach dem Schachty - Prozeß, allgemeine unzufriedenheit. Aber der Begriff Krise trifft in diesem Falle nicht ganz zu. Denn Krise bedeutet einen akuten, aber vorübergehenden Zustand. In Sowjetrußland ist es nicht nur eine Krise, sondern vielmehr eine Sadgasse.
Dasselbe malaise ergreift auch die herrschende Partei
wer's glaubt! Denn die gegenwärtige Wirtschaftsfrise, die unvermeidlich zur sozialen und politischen Gärung führt, ist eine Kon iunkturkrise. Es ist keine leber produktions-, sondern eine unter produktionsfrise. Die Wirtschaftstrise von heute ist Hauptsächlich dadurch veranlaßt, daß die neue ökonomische Politik" sich erschöpft hat. Noch vor kurzem fonnte man glauben, daß die Birt. schaftskrise nur durch den demagogischen Linksturs verursacht wurde und daß sie mit der Aufhebung der außerordentlichen Maßnahmen" bei der Getreidebereitstellung bald überwunden sein werde. Aber immer deutlicher stellt es sich heraus, daß der Linkskurs die Wirtschaftskrise nicht erzeugt, sondern nur verschärft hatte. Die außerordentlichen Maßregeln" wurden durch das Dekret vom 19. Juli aufgehoben, die Krise aber ist geblieben, ja jogar ver: tiest und verallgemeinert worden. Der enge Rahmen der Nep" reichte, um die Boltswirtschaft auf das
regierung wenigstens die Brotversorgung der Industriearbeiter zu sichern, um Unruhen in den politischen Zentren zu vereiteln.
Bergebens fucht die Stalinsche Führung den Ausweg aus der Sadgasse in den Auslandskrediten und Konzeffionen zu finden. Es ist eine Utopie zu glauben, daß das angeblich ,, sozialistische" Wirtschaftssystem mit Hilfe des internationalen Rapitals zu retten fei. Es ist eine Utopie zu glauben, daß Entwicklung der Landwirtschaft und Kapitalanhäufung auf dem flachen Lande stattfinden tönnen, während ein Bernichtungskampf gegen die bemittelten Bauern fortgesetzt wird. Es ist eine Utopie zu glauben, daß ohne die Aufhebung des Systems der Rechtlosigkeit und des Terrors die Gesundung der russischen Volkswirtschaft möglich sei.
bon unten bis oben. Der Fraktionstampf blieb bis Die ,, Nep" versagte aber, als es sich um die technische Umrüstung Gegner und Gefahren. Im Lande wächst das Unbehagen. Oben
zur letzten Stunde aus; denn die Troßtisten waren grausam unterdrückt, und die Rechten" wollten nicht gleich den Trozkisten in die ,, Unterwelt " verdrängt werden. Sie lauerten lieber auf ihre Stunde", in der sie Stalin ebenso erledigen würden wie Trokki von Stalin erledigt wurde.
Aber die„ Atempause" dauerte nicht lange. Die Birtschaftstrije führte unvermeidlich zur neuen Parteifrise. Der Frattionsgeist ist wieder aufgewacht. Sogar die Stalinfche Presse kann das Wiedererwachen der oppofitionellen Stimmungen und ,, Abweichungen" in der Partei nicht mehr verheimlichen. Auch innerhalb der fühlenden Clique der Kreml - Bewohner verschärfen sich die
unüberbrüdbaren Gegenjähe
von Tag zu un
Tag.
Es sputt im Kreml . Man hat die Richtung ver loren. Man weiß nicht mehr, wohin zu steuern. Selbst Stalin , der Mann mit der eisernen Faust", ist ermattet. Sein fast magischer Einfluß scheint ziemlich gesunken zu sein.
Zwischen ihm und Rytow tobt im„ Polbureau" ein dumpfer Kampf.
Alle anderen Führer" tommen nicht in Betracht. Es sind lauter Richtigkeiten und Mameluten. Sie hängen in Wirklichkeit nicht an Stalin , sondern an der Macht. Sie folgen Stalin nur solange er am Ruder ist.
Esiputt im Krem Der ängstlich gewordene Diftator verteilt- feine Hiebe blindlings bald nach links, bald nach rechts. Gestern noch galt der Troztismus als Hauptfeind. Heute ist es die ,, rechte", opportunistische", fleinbürgerliche" Richtung, die zur radikalen, Revision des Parteiturses im Sinne einer Aussöhnung mit der Mittel- und Großbauernschaft drängt. Und siehe: die ,, rechte Gefahr" hat sich ganz in der Nähe, wörtlich vor den Toren des Kremis, in der Moskauer Parteiorganisation, eingenistet! Jetzt greift das Staliniche Zentralfomitee ein, um die rechte Gefahr im Reime zu ersticken. In einem offenen Brief an die Mitglieder der Moskauer Parteiorganisation brandmarkt das beunruhigte Zentralfomitee die opportunistische" Abweichung in der bisherigen Moskauer Parteiführung als ein„ Schlupfloch für die bürgerlich- demokratischen Tendenzen" und billigt den Abbau einer Reihe von führenden Persönlichkeiten der Mostauer Organisation wie Moros, Rütin und Mandelstamm
Esiputtim Kremt. Die allgemeine Berlegenheit und Zerfahrenheit erzeugt Furcht. Man fürchtet alles. Die Machthaber n im Kremi jehen überall Gefahren wirtliche underfundene, von rechts und von links. Sie sehen ringsum GeSpenster, weil sie selbst fast schon Gespenster geworden sind.
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Aber noch gefährlicher scheint den beunruhigten Macht habern im Kreml eine besondere Feindegattung- die Scheptuny",
die Flüfferer.
und Erweiterung der Industrie und der Landwirtschaft handelte. Die offiziellen statistischen Kurven gehen in die Höhe, der Wohlstand der Bevölkerung in Stabt wie im Lande sinkt aber immer tiefer. Sogar das tägliche Brot wird wie in der Zeit des Kriegskommunismus wiederum ein Privilegium der Wenigen. Da die Brotversorgung der Stäble Da die Brotversorgung ber Städte troß des Ausbleibens des Getreideerports in diesem Jahre bedroht ist, versucht die Sowjet
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topflose Führung", unten elementare, reflegartige, einsta weilen passive Resistenz der Bauernschaft. Dazwischen steht die desorientierte und desorganisierte Arbeiterklasse, die unter der Wirtschaftsweise am meisten zu leiden hat, deren politischer Wille aber einstweilen völlig gelähmt ist. Und dabei schicken sich die Bankerotteure vom Kreml an, die Wegweiser der internationalen Arbeitera bewegung zu spielen und als Generalstab der Weltrevolution aufs Peter Garmŋ. zutreten!
Was der ,, Trud" berichtet.
masser. In den Bergwerken gibt es feine Räume, in denen sich die Arbeiter erwärmen und erholen können. Der Bruch der Kollektiv. verträge wirft sich auch auf die Arbeitslöhne aus. Die Trusts sezen in weitem Maße die Löhne herunter."
Es ist nachgerade fein Geheimnis mehr, daß Somjet| Schmutz häuft sich vor den Wohnungstüren. Es fehlt an Trint rußland die Arbeiterfasse nicht in die verheißene beffere Zukunft führen konnte, daß es sich bei den so hoch gepriesenen ,, Errungenschaften" um Dinge handelt, die der westeuropäischen Arbeiterschaft längst selbstverständlich geworden sind, daß der Arbeiter nach wie vor der Ausgebeutete ist, dem Wohlgemerkt: Alles das meldet nicht etwa ein antibolsche statt des Zarismus heute die Sowjetbureautratie auf dem Nacken wistisches Blatt, sondern das Organ der russischen Gewerfa sigt. Wer ein wirkliches Bild von dem Leben der Arbeiterschaften. Wie muß es da in Rußland erst in Wirklichkeit aus tlaffe in Rußland gewinnen will, der hält sich am besten an die fehen offizielle Zeitschrift der räterrifischen Zentralverwaltung der Gewerkschaften ,, Trud". Dort steht zu lesen, wie den Arbeitern und Angestellten oft der Arbeitslohn nicht ausgezahlt wird, wie die Gefeße über den Arbeitsschuß nicht beobachtet werden, wie die Arbeiter bis zu 12 Stunden an der Maschine stehen usw. Aber lassen wir Zitate aus dem Trud" selbst sprechen. In Nr. 184 des„ Trud" heißt es: Bei einem Brüdenbau in Samartand find nicht einmal die elementarsten Gefeße des Arbeitsschutzes beobachtet worden. 3wei Arbeiter murden bei den Sprengarbeiten schwer verstümmelt. Aus Mangel an Reparaturen stürzte eine Wohnbarade ein und begrub drei festgestellt worden, über welche die Bermattung sich ausgefchwiegen Arbeiter unter ihren Trümmern. Außerdem find 12 llnglücksfälle hat. Ferner wurde fonstatiert, daß im vergangenen Winter von der Verwaltung vier Arbeiter ungefeßlich entlassen murden. Sie mußten mitten in der Nacht, in Unterwäsche, die Baraden verlassen. Drei Arbeiter sind spurios verschwunden, der vierte wurde mit erfrorenen Händen und Füßen aufgefunden.
Die Lage der Arbeiter iff schredlich:
der Arbeitslohn wird nur mit großer Berspätung ausgezahlt, so etwa nach 2 bis 3 Monaten; in den Baraden wimmelt es von Ungeziefer; für 200 Menschen ist nur ein Geschirr zum Mundspülen vorhanden; es ist nichts da, um Waffer zu tochen."
In Nr. 210 des Trud lesen wir über Unglüdsfälle im Uraler Industriegebiet folgendes: Die Zahl der Unglüdsfälle in den Uraler Industrieunternehmungen ist von 25 000 in den Jahren 1925/26 auf 37,000 in den Jahren 1926/27 angewachsen. Diese Zunahme der Unglücksfälle erklärt sich nur dadurch, daß die Betriebe die Verträge über die Anbringung von Schutzvorrichtungen, trotz der ihnen hierfür überwiesenen Geldmittel, nicht erfüllen.
Sowjet Paradies.
Eine Arbeiterdelegation aus Schweden Tommt nach Sowjetrußland. Große Empfangsfeierlichkeiten in Moskau . Eine Reihe sozialer Einrichtungen werden in der Kremlstadt besichtigt, dann fährt man nach Petrograd . Der Delegation gehören meist. Kommu misten an, aber auch ein Sozialdemokrat war dabei. Von Petrograd schönem weißen Sand. aus fährt die Delegation ans Meer. Dort ist ein Badestrand mit Da sagt ein schwedischer Kommunist zu seinem sozialdemokratischen Landsmann:
„ Schau dir odch mal diesen herrlichen, weichen Sand an Go schön haben wir ihn am Badestrand in Stockholm nicht!"
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Und wenn shon," meint der Sozialdemokrat, der Sand war unter dem Zarismus hier schon genau so schön.
Darauf der Kommunist voller Entrüstung: ,, So etwas fann nur ein sozialdemokratischer Arbeiterverräter behaupten!"
Eine famose Währung.
Kurz nach der Stabilisierung der Sowjet- Währung durch Ein führung des Tscherwonez unterhält man sich in Moskau über Währungsfragen. Man spricht vom Dollar, vom englischen Pfund, von der deutschen Mark und streitet darüber, welche Währung wohl die sicherste sei. Da mischt sich Karl Radet in die Unterhaltung und erklärt:
„ Die bestfimdierteste Währung ist doch unser sowjetrussischer Ticherwoney; sie ist nämlich gedeckt durch das ganze Stapital von Rarl Marg...."
Sie sind überall- und nirgends. Je ummerklicher, desto schädlicher. Nicht in den Parteiversammlungen denn es wäre dort gefährlich, sondern zwischen vier Wänden, bei der Taffe Tee oder einem Glas Wodka verbreiten, die Flüsterer allerlei Undinge und Fabeln über die Gegensäge in dem Zentralfomitee, über die rechten Abweichungen in der Parteiführung usw." Aber je mehr diese Klatschgeschichten" widerlegt werden, desto stärker wird die allge- Arbeitsverhältnisse mitgeteilt: Die Rommiffion der Gewerkschafts Aufenthalts in Berlin 1927/28 zu einer Silvefterfeier eingeladen.
meine Ueberzeugung, daß fie der Wirklichkeit doch entsprechen. Die Flüsterer" erfüllen nur die Funktion der unterdrückten öffentLichen Meinung. Wo es teine Pressefreiheit gibt, dort gedeihen die Klatschgeschichten" als Ersatz für eine unabhängige Information. Esiputt im Kreml . Man wird immer ängstlicher. Angst bor mem? Gewiß nicht so sehr vor den innerparteilichen Feinden" aller Schattierungen, als vor der dunklen und gefahr bergenden Bauernhölle. Die inneren Feinde von links und von rechts find nicht an sich für die Alleinherrschaft Stalins gefährlich, sondern nur insoweit sie der Niederschlag der erwachenden jozialen Kräfte find.
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In Nr. 208 des Trud" wird folgendes über russische organisation stellte
in der Naphthaindustrie von Uzbek
außerordentlich schwierige Arbeitsverhältnisse jest. Die Arbeiter leben dort in fleinen engen Zimmern, Berheiratete und Unverheiratete zusammen. Die Lebensmittelversorgung ist nicht geregelt. In den genossenschaftlichen Berkaufsstellen der Betriebe wird für die Arbeiter schlechtes, mit Malariabazillen durchsetztes Fleisch verkauft. Die Ambulanz ist nicht in Orammg. Die chirur gischen Instrumente liegen verstaubt auf dem Fensterbrett. Obgleich die Mittel schon bezahlt worden sind, ist bis jetzt mit dem
Krankenhausbau noch nicht begonnen worden... Aus einzelnen Gebieten werden Beschwerden laut, daß das Bezirks. Exekutivkomitee in großem Maße die Arbeitslöhne zurüd hält, und zwar besonders für das Sanitätspersonal und für die Lehrer. In mehreren Gebieten ist der Arbeitslohn schon seit zwei Monaten nicht ausgezahlt worden."
In Nr. 207 des„ Trud" ist folgendes zu lesen:„ In allen
Bucharin selbst hat vor kurzem( Brawda" Nr. 228) feft gestellt, daß die Krise der Getreidebereitstellung der Sowjetmacht große Gefahren" in fich berge. Die Wirtschaftsfrise merde von wichtigen sozialen Erscheinungen begleitet. Im Lande gären zweifelsohne die uns gegnerischen Kräfte: das„ Kulaten tum" auf dem flachen Lande, die Reste der alten Bourgeoisie und die neuen bürgerlichen Gruppierungen in der Stadt." Bergwerksunternehmungen des Ural ist eine Durchbrech Die Ideologen der klein- und Mittelbourgeoisie versuchen unsere der Kollektivverträge zu beobachten. Wie sich das bei 16 politische Linie allmählich zu unterwühlen". Auch unter den Sowjet- ben Arbeitern auswirkt, zeigt folgendes: Die Bohnungen hes beamten gibt es viele, die heute bereit sind, einen beliebigen ultra- ber Arbeiter befinden sich linken Induſtrialiſierungsplan auszuarbeiten und übermorgen mit unferen Gegnern zu pattieren".
in efelerregendem Zustand.
Bucharin versichert freilich seine beunruhigte Herde, daß die In den Gemeinschaftsräumen herrscht Unsauberkeit, die Arbeiter Barteiführung Serbe, minden find mit Ungeziefer bebedt. Die Sjoftum eit, die Arbeiter
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und alle spre Widersacher nieberschmetters werde. Glüdlich, Aborte befinden sich in höchst unhygienischem Zustand, Der
Frau Lunartscharsti, die Gattin des Boltskommissars mit ihrem Mann gelegentlich ihres
Ein junger Mann mar von ihrer Schönheit so begeistert, daß er einen etwas undiplomatischen, tastenden Annäherungsversuch wagte. Die so stürmisch Attadierte mies den Angriff ab, indem sie dem liebesentflammten Jüngling die kommunistische Parole zurief: Hände weg von Sowjetrußland!"
Sozialisierung.
Am Vormarsch der Roten Armee nach der Krim gegen die weißgardistischen Truppen des Generals Wrangel nahm auch Stalin teil. Später erzählte er Radek, wie glänzend sich die Revolutionstruppen geschlagen hätten:
Wir drangen so überraschend vor, daß wir das Hauptquartier im Sturm einnehmen konnten... Was wir da alles fanden...! Diesen Offizierslugus! Das kannst du dir gar nicht ausdenken! Auch ein sehr vornehmes Bordell war da....
Was hast du damit getan....?"
Ich habe das Kartensystem eingeführt.....!" Stalin oder Trokki.
Während des Kampfes der sowjetrussischen Opposition gegen den Stalin - Kurs wurde in einem Moskauer Arbeiterklub dieses Gespräch belauscht:
Wer wird denn siegen, Genosse...?" .Selbstverständlich unsere
„ Na, wer sind denn unsere?" „ Diejenigen, die siegen werden.