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Beilage

Freitag, 30. November 1928.

Der Abend

Spalausgabe des Vorwärts

Wissenschaft gegen Aberglauben.

Die Irrenpflege von einst und jetzt.

Aberglaube und Wissenschaft, sonst Todfeinde, waren auf einem Gebiete jahrhundertelang friedlich zusammengefoppelt, auf dem Gebiet der Jrrenpflege. 3mar gab es bereits früh Anfänge einer missenschaftlichen Psychiatrie; schon der griechische Arzt Hippokrates im 5 Jahrhundert v. Chr. sah Abnormität des Gehirns als Grundlage der Geiftestrantheiten an und auch Spätere, so der Arzt Aretäus ( 16. n. Chr.) und Galen geben gute Hlinische Beschreibungen von Geistestrankheiten. Im Mittelalter aber fam der große Rüdichritt. Kranke mit Bahnbildungen murden als vom Teufel Besessene aufgefaßt und dem= gemäß behandelt, melancholische oder hysterische Mädchen und Frauen als Heren verbrannt. Diese Auffassung war so tief gewurzelt, daß sie bis fast in unsere Tage in die wissenschaftliche Psychiatrie hinein spukte und die Heilmethoden beeinflußte.

Um zu begreifen, melchen schweren Kampf gegen finstersten Aberglauben die Pinchiatrie zu bestehen hatte und was fie fpeziell in den letzten Jahrzehnten zum Wohle des vielleicht unglüdlichsten Tetles her leidenden Menschheit geleistet hat, tut man gut, jene grausamen, teils unbeholfenen, teils raffinierten Methoden Revue passieren zu lassen, die bis vor kurzem im Schwange waren und das ganze Unvermögen der damaligen Srrenpflege in grellfte Be leuchtung rüden, Methoden, wie sie in übersichtlichster Weise in einem foeben im Berlag Ludm. Rath, Regensburg , erschienenen Rich von dem Oberarzt der dortigen Heilanstalt, Dr. H. A. Adam, 3fammengestellt worden find.

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Eines der dunkelsten Kapitel...

Erschreckend groß ist die Zahl der Dokumente in Wort und Bild, die bezeugen, daß die Behandlung der Geistestrankheiten eines Der dunkelsten Kapitel menschlicher Irrtümer darstellt. Als hifto­risches Ereignis bucht die Geschichte der Psychiatrie die Tat Pinels, der am 24. Mai 1798 in der Bariser Frauen Irrenanstalt Sale petrière die Geistestranten non ihren Ketten befreit haben soll. Daß indessen diese Befreiungstat, falls sie überhaupt historisch ist. fich in Frankreich sowohl wie anderwärts erit fehr viel später ausmirfte, das befundet eine 25 Jahre nachher an den frans zöfifchen Minister des Innern erfolgte Eingabe: Diese Unglüdlichen merden ärger mßhandelt. als Sträflinge und ihre Lage ist schlimmer als die des Biehs. Fast überall hat man die Geistestranten in den feuchtesten und ungesundesten Gebäuden untergebracht. Ich sah fie mit Gumpen hededt und nur im Besitz nom etmas Stroh, um sich gegen die feuchte Kälte des Bilafters zu fdüßen, auf welchem sie liegen, ich fah fie bei grober Kost, der Luft zum Atmen, des Waffers zum Stillen des Durstes beraubt und der einfachsten Lebensmittel bar, in der Gemalt non mirflichen Kerfermeistern und ihrer rohen Behandlung preisgegeben: ich fal fie in engen, schmutzigen und ftinkenden Winkeln ohne Luft und Licht, angefettet in Höhlen, in welche man sich scheuen würde, jene wilden Tiere, einzusperren, die der Lurus der Verwaltungen mit großen Kosten in den Haupt­Städten unterhält. Fast überall sind die vermögenslosen Irren nodi oder mit Lumpen bedeckt."

Unglückliche Geschöpfe werden wie Verbrecher behandelt.

Und etwa um die gleiche Zeit erhebt ein Menschenfreind wie der Hallesche Professor Keil, der an humanitärem Empfinden feiner Zeit weit vorauseilte, bittere Anklage: Wir sperren diese unglückchen Geschöpfe gleich Berbrechern in Tollfoben, aus. geftorbene Gefängnisse, neben den Schlupfwinkeln der Eufen in de Klüfte über den Stadttoren oder in die feuchten Kellergeschoffe der Zuchthäuser, ein wohin mie ein mitleidiger Blid des Menschenfreundes bringt, und lassen sie daselbst, an geschmiedet an Ketten, in ihrem eigenen Unrat ner­faulen. Ihre Fesseln haben ihr Fleisch bis auf die Knochen aufgerieben, immd ihre hohlen und bleichen Ge fichter harren des nahen Grabes, das ihren Jammer und unsere Schande zudedt." Ein solches Dokument der Schande ist auch der so genannte ,, Narrenturm " in Wien , der

Die Zwangsjacke.

wahrscheinlich

gegen Ende des 18. Jahr­hunderts errichtet, heute noch fteht: ein treisrunder, fünf Stockwerke hoher Bau, dessen Zimmer alle nach der äuße ren Mauer zu lagen und nach innen von einer sayma­len, treisrunden Galerie be grenzt waren. Ihr einziges

Baschen, Plätten, Mähen, Rochen, Gemüsepußen somie leichterer Gartenarbeit gehen die Kranten dem Pflegepersonal gern und oft geschickt zur Hand und leisten so wertvolle Arbeit, die ihnen die verlorengegangene Selbftachtung zurücgtbt und sie auf die mirfe famfte Beise von der Beschäftigung mit ihrer Kranfheit und ihren Bahnideen ab­

antlingen. Diese Besessenheit auszutreiben mit immer stärteren| wie sie feinen törperlichen und geiftigen Kräften entspricht. Bein Mitteln: Zwangsjaden und Zwangsgürtein, 3mangstehen, Zwang. förbe und Särgen, mit Drehstühlen und Drehbetten, in denen das tranfe Gemüt des Patienten sich nollends vermirrte, waren die beliebtesten und verbreitetsten Methoden. Auh Sturzbäder und Brausen, tägliches llebergießen mit mehreren hundert Eimern eiskalten Waffers aus so beträchtlicher Höhe, daß die Kopfhaut mit meggerissen wurde, war ein gern angewandtes Verfahren, direkten Einfluß auf das ertrantte Gehirn zu geminnen, ganz zu schweigen Don medikamentösen Methoden, etwa den fog. Etelturen", die in der Verabreichung von Brechweinstein und ähnlich wirkenden Mitteln bestanden, die Erbrechen und Efelgefühle hervorriesen, wo­durch die Kranken dazu gebracht werden sollten, irdischen Jammer wieder zu empfinden und sich auf diesem Wege von der ständigen Betrachtung ihrer nach innen gerichteten, von der Welt abgekehrten Wahnideen loszumachen."

Ein Film menschlichen Leidens.

Wenn man diesen Film menschlichen Leidens an fich vorbeirollen läßt, so wirft gerade das besonders niederschmetternd, daß nicht etwa Grausamkeit die Haupttriebfeder für das Ersinnen solcher Martern gewesen ist, sondern bei vielen, vielleicht der Mehrzahl der Irrenärzte, der aufrichtigste Wunsch, zu helfen, daß sie aber in ihrer Unkenntnis und ihrem Unvermögen feinen anderen Weg sahen, als die Wohnideen mit Feuer und Schwert aus ihren unglüdlichen Patienten auszutreiben.

fenft.

Ein viel breiterer Spielraum als bei Gesunden, muß hier der Erholung und dem Bergnügen_ge­midmet werden: Spa­ziergänge in die Ilmgebung, Leftüre, Theaterspielen und vor allem Mu. fit erleichtern, soweit dies menschenmöglich ist, das Los dieser Kranten, die sich in den heutigen Heil­stätten vielfach wieder als nützliche Glieder der menschlichen Ge­sellschaft zu fühlen beginnen.

In nichts unter­

In Hängestellung.

Mit Stolz dari demgegenüber die moderne 3rrenpflege auf das Bert zurückbliden, das ihr innerhalb meniger Dezennien aufzurichten gelang. Inmitten großer, prachtnoller Barfanlagen, oft jogar von weiten, eigenen Baldungen umfchloffen, liegen die modernen Bilegeanstalten. An Stelle der 3mangsjaden find gelinde lauparme Badungen getreten, ähnlich unseren Briesmizumschlägen, scheidet sich eine moderne Heilstätte heute noch D011 beruhigende Medikamente und vor allem die überall mit größtem| jedem beliebigen anderen Krankenhaus, und es ist ebenso. Erfolg verwandten warmen Dauerbäder, die die kalten, erregenden menig eine Schande, in einer Nervenheilanstalt untergebracht 31 Brausen ericgen. Möglichst wenig wird mit 3wang gearbeitet, olles fein, wie in einer Zungenheitstätte oder in einer Klinik für imtere ist auf eine besänftigende und beruhigende Wirkung abgestellt. Der Erkrankungen. Auch das Borurteil, das sich aus einer vergangenen größte Erfolg aber, den das moderne Heilstättenmesen zu buchen Epoche falsch verstandener Irrenpflege bis in unsere Tage erhalten hat, tommt auf Stonto der Beschäftigungstherapie", h.i. hat, sollte bald und endgültig der Vergangenheit angehören! die Beschäftigung des Kranten mit Arbeiten in Haus und Garten,

FP

L. H.

Der Kampf der Zweimalhunderttausend.

Die fünfte Woche im Kampfgebiet.

Dortmund , Ende November.

Seit dem Tage, da Unternehmermillfür die Tore der Eifen­merle im Ruhrgebiet schloß, find vier Wochen vergangen, und immer noch sind diese Tore geschlossen. Das Bild herum stehender, vor den Kontrollokalen der Gewertschaften sich drängender Männer, die immer wieder die Lage besprechen und in ihrem zermarterten Hirn sich mühen, einen Weg zu finden aus diefem unverschuldeten Elend, ist ein gewohntes geworden.

Eine besondere Sorge der fämpfenden Arbeiterschaft war natür lich die Sorge für die Unorganisierten. Denn während die Verbandsmitglieder vom ersten Tage der Aussperrung an Unter­stützung bekamen, standen die Unorganisierten schon nach einer Woche ohne Mittel da, denn die Restlöhmung, die die Werte aus zahlten, betrug in den meisten Fällen nur 6 bis 10 M., da die Werte die Beträge für gelieferte Kohlen und Einfellerfartoffeln, die normalerweise in fleinen Raten abgezogen werden, restlos einbe­hielten.

Die beschleunigt einberufenen Stadtverordnetenkollegien haben unter dem Druck der Sozialdemokraten Anträge beschlossen, die Bersorgung der Ausgesperrten in ähnlicher Weise zu gestalten, mie das bei dem großen Arbeitstampf 1924 gehandhabt wurde. So werden denn seit drei Bochen von den Städten Gutscheine aus gegeben, die zum Bezug der wichtigsten Lebensmittel berechtigen. Diese

Gutscheine, fast das einzige Geld,

das die feinen Händler, die fast mur von den Ausgesperrten leben, in die Finger bekommen, werden von den Geschäftsinhabern mit 10 Proz. über ihrem Nennwert in Zahlung genommen, so daß der Bare bekommt. Das haben die Geschäftsinhaber nicht aus Menschen Arbeiter also auf einen Gutschein in Höhe von 10 M. für 11 m. freundlichkeit beschlossen, aber wenn sie nicht ihre besten Kunden, die meist Borgfunden sind und zum Teil noch von den Arbeits­fämpfen des Jahres 1924 her mit hohen Beträgen in den Büchern stehen, an den Konsum verlieren wollten, mußten sie sich schon dazu entschließen, diesen Rabatt zu gewähren, denn der Konsum gab gleich am ersten Tage des Streifes befannt, daß er die Guts scheine der Gewerkschaften, die nur einen Teil der Unterstüßung in

merden, scheint ihnen taum Hlar zu merden. Es mußten die Gee mertschaften einen öffentlichen Aufruf erlaffen, daß sie mit dieser Hilfsaktion nichts zu tun haben und selbst in der Lage sind, ihre Mitglieder zu unterstüßen. Das hindert natürlich die Kom munisten nicht, auch weiterhin zu versuchen, mit Spec Mäuse zu fangen.

Seit einigen Tagen befommen alle Ausgesperrten von ande nymer Seite Briefe geschickt. Da es sich um Massenauflagen hans delt, die viel Geld fosten, weiß jeder, woher sie fommen. In den Briefen stehen allerhand schöne Phrasen von inflatistischen Lohn­methoden, von denen man sich abwenden müsse, und daß wir Ruhe brauchen, die durch die dauernden Lohnforderungen( nicht etwa durch die aufreizende Lebensführung der herrschenden Klaffe) ge stärt werde, und daß der Schiedsspruch nichtig sei, und daß die Arbeiter bereit sein müßten zum Widerstand, auch gegen die Ges merkschaften, denen so etwas wie Prestigepolitit vorgeworfen wird in diesem Kampf, der um die Lebensgrundlage der Ruhrarbeiter geht. Alles das sieht in diesen Briefen,

die weber eine Unterschrift tragen, noch mit einem Absender bea zeichnet sind. Ob einer unter den Ausgesperrten noch dumm genug ist, solchen Phrasen sein Ohr zu schenken? Wo bleiben diese Briefe nur ein Beweis, daß die Unternehmer ihre Arbeiter eigent lich viel dümmer einschäzen, als sie tatsächlich sind. Ein Beweis aber auch dafür, daß sie ein Interesse daran haben, daß die Ar­beiter so bald wie möglich die Arbeit wieder aufnehmen, denn der Schaden, den die Unternehmer durch die Aussperrung erleiden, ist der sich allenfalls in verbefferter Konjunktur äußern würde, müssen chon jetzt so groß, wie der Betrag der Lohnerhöhung in zwei Jahren ausgemacht hätte. Denn nicht nur den Produktionsausfall, die Berte tragen; sehr groß find, namentlich in der Roheisen industrie, die Verluste an Ofenmaterial; jo sind z. B.

fchon jetzt die meisten Martinöfen eingefallen,

die neu ausgemauert werden müssen, ehe sie wieder in Betrieb genommen werden können. Die Dämpfung der etwa 80 stillge.

Tageslicht erhielten die Bim bar auszahlen, mit 10 Prog. über ihrem Nennwert in Zahlung legten Hochöfen erfordert ungeheure Mengen Kofs, der ungenugt

mer durch tieine, start ver­

gitterte Fenster, die Gänge dumtel, auf eine im höchsten Grade ferterähnliche Weise durch furchtbare furchtbare massive eiferne Türen und Tore, Ringe und Riegel verwahrt, so daß es selbst bem raffiniertesten Berbrecher und Böjewicht nicht möglich wäre, zu entkommen. In diesem Turm wurden die Unglüdlichsten aller Geiftestranten gleich den wildesten Raubtieren gehalten und ge füttert, die schlechteste Menagerie bat aber immerhin ein weit freundlicheres und menschlicheres Ansehen." Und in diesem Turm waren krante bis zum Jahre 1869 unter gebracht!

Mittelalterliche Darstellungen.

nehme, und daß er neuaufgenommenen Mitgliedern das Eins hreibegeld bis nach der Aussperrung stunde. Wenn nun auch da durch, daß die freien Geschäftsleute sich dieser Maßnahme an schloffen, mancher Arbeiter, der noch nicht mitglied des Konfums Sonfums doch wieder mal gezeigt, daß der konsum es ist, ift, abgehalten wird, es jetzt zu werden, so hat diese Aktion des der die Preise macht, und daß er durch sein Bestehen auch benen nüßt, die nicht Mitglied des Konfums find.

ausgesperrten. Die Gorge für die Leidenden steht zu sehr im Mittel­Natürlich fehlt es auch sonst nicht an offenen Händen für die punft des öffentlichen Intereffes, als daß Reklamebedürftige fich die Gelegenheit entgehen ließen, Reflame für sich dadurch zu machen, daß fie etwas für die Ausgesperrten tun. Da ist vor allem die In­ternationale Arbeiter- hilfe, die sich nicht scheut, vor das Bürger tum hinzutreten und

um Gaben für die Ausgesperrten zu bitten.

Die Behandlungs, und Heilmethoden, die in der artigen Anstalten angewandt wurden, sprachen jedem menschlichen Empfinden Hohn. Mon begreift fie nur als Folge dunkler 3uiom menhänge, die an die mittelalterliche Borstellung von Besessenheit, Daß dadurch der Eindruck entstehen muß, der Arbeiter pfeife, auf dis Strafe für Sündenschuld, Sühne für geheime after u. ä dem legten Loch und die Unternehmer zum Ausharren bestärkt

verbrennt. Aber auch die Einlagerung der immer noch anfommen den Erze tostet viel Geld, und wenn die Arbeit erst wieder auf genommen werden wird, laufen die Werke tagelang leer, ehe sie wieder die volle Produktion aufnehmen tönnen.

Betriebe erleiben, den Kampf noch nicht abbrechen, so ist das ein Beweis dafür, daß die Zahnerhöhung für sie ohne befondere Schwierigkeiten zu tragen gewesen wäre, und daß fie haben. Daß sie dabei die Aufbauarbeit des deutschen Volkes in den Kampf aus anderen bekannten Gründen vom Zaun gebrochen einer Weise gestört haben, die jeden Schleier von der Phrase, daß die Schornsteine des Ruhrgebietes zum Wohle des Baterlandes rauchen, fortreißt, fümmert sie nicht, denn ihr Vaterland ist der Geldfad, und daß sie aus diesem ihrem Vaterland eine mal vertrieben werden, dafür werden die Arbeiter sorgen, die nun schon drei Wochen unentwegt die Fahne des dampfes hochhalten, der ein Kampf für die bessere Zukunft der deutschen Arbeiterschaft

Wenn die Unternehmer trotz dieses großen Schadens, den ihre

und in weiterem Sinne ein Kampf für die Interessen des inter national verbundenen Proletariats ift.

Erich Grisar ,