Morgenausgabe
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45.Jahrgang
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Donnerstag 13. Dezember 1928
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Schwerer Winter droht!
Sprunghafte Zunahme der Arbeitslosigkeit.
Der sprunghafte Anstieg der Arbeitslosenziffern hat sondern auch anderwärts. Sicherlich betrug der 2ohnausfall in der zweiten Novemberhälfte mit überraschender Wucht infolge der Aussperrung rund 40 bis 50 millionen Mart, eingesetzt. Die neuen Arbeitslosenziffern sind denen nur etwa 20 millionen an ausgezahlten kommunalen Unter Alarmziffern. Die Zahl der Hauptunterstütungsstügungen, einschließlich der gewerkschaftlichen Unterstützungen, empfänger in der Arbeitslosenversicherung hat, wie a m t gegenüberstanden, so daß für die Berbrauchsindustrien ein am te lich mitgeteilt wird, in der zweiten Novemberhälfte so. Ausfall von etwa 20 bis 30 Millionen Mart ent lich mitgeteilt wird, in der zweiten Novemberhälfte so wohl absolut als auch verhältnismäßig noch stärker als standen sein dürfte. Ein solcher Ausfall muß sich natürlich fühlbar
in den vorhergehenden 14 Tagen zugenommen. Während in der Zeit vom 1. bis 15. November die Zahl der Haupt unterstütungsempfänger um 134 000 oder fast genau um ein Fünftel zunahm, stieg ihre Zahl vom 16. bis 30. November von rund 805 000 auf 1030 000, das ist um 225 000 oder um mehr als ein Viertel. Die Zunahme war bei den Männern und bei den Frauen dies. mal ungefähr verhältnismäßig gleich. Sie ist nach wie bor in der Hauptsache auf die Entlassungen bei den Saisongewerben zurückzuführen. Auch die Krisen unterstütung wies im Berichtszeitraum im Vergleich zur bisherigen Entwicklung eine stärkere Zunahme in der Zahl der Hauptunterstützungsempfänger auf( von rung 99 100 auf 108 100, bas ist um 9000 oder 9.1 Prozent). Auch hier ist die Zunahme bei ben Männern und Frauen fast gleich.
Das Tempo bes Abgleitens des Beschäftigungsgrades Ist dies Jahr erheblich schneller als im Borjahr. Die Sahl der in der Arbeitslosenversicherung Unterstügten liegt Ende November 1928 um über 400 000 Personen höher als Ende November 1927. Die Gründe für diese bedeutend höhere Ar beitslosenziffer, zu der nun noch die Ziffer der nicht unterstützten Urbeitslosen hinzuzurechnen ist, liegen in erster Linie im Rüdgang der Beschäftigung in den Außenberufen, die durch Kälte und Regen außerordentlich beschleunigt worden ist; dazu treten aber ohne 3meifel auch bereits gemiffe tonjuntturelle Ein flüffe
Bon startem Einfluß, wenn auch nur indiretter Art, war die Aussperrung im rheinisch- westfälischen Industriebezirt. Wohl haben die Ausgesperrten teine Arbeitslosenunterstügung bekommen, aber die mittelbaren Einflüsse auf das Wirtschaftsleben blieben nicht ohne Wirkung, und zwar nicht nur im Aussperrungsgebiet selbst,
macjent.
Die tonjunkturelle Entwidlung und die Kälte in den crften Dezembertagen werden die Arbeitslosenziffern zunächst noch weiter emportreiben, fo daß für Mitte und besonders für Ende Dezember mit starf erhöhten Unterstütztenziffern zu rechnen ist, die, insbesondere bei Anrechnung der Krisemunter stüßung, nicht weit von der Ziffer von 1½ Millionen entfernt sein werden. Die verschärfte Entwicklung der Arbeitsmarktlage zwingt zur Forderung, daß der Reichsarbeitsminister umgehend die zur Krisen unterstüßung zugelaffenen Berufsgruppen erweitert und fämt liche Berufsgruppen zur Krisenfürsorge zuläßt. Bei dem jetzt fommenden schweren Winter wird es unmöglich sein, die Löschdauer der Krisenunterstügung bei 39 Wochen bestehen zu lassen, fo daß and hier vom Reichsarbeitsministerium eine Erweiterung baldigt ins Auge gefaßt und rechtzeitig dem Reichstag unter
breitet werden muß.
Die Reichsregierung läßt die Arbeitslosen nicht hungern- trog der miserablen Erbschaft, die die Birtschaftspolitit des Bürgerblods ihr hinterlaffen hat. Wenn die Rechtspreffe glaubt, die Arbeitslofen mit dem Slagwort Eine Million Arbeiter hungern für die Politit ihrer Regierung" auf putschen zu können, dann irrt fie fich gründlich. Die Arbeiter wiffen, wo die Berantwortlichen für die Verschärfung der Arbeitsmarktlage figen. Ist die Aussperrung im Ruhrgebiet von der Reichs regierung oder den Schwerindustriellen veranlaßt mor ben? Sind die Textilindustrielten, die zurzeit mit dem Gedanken spielen, durch eine noch riesenhaftere Aussperrung ten Arbeitsmarkt in eine Katastrophe zu stürzen, etwa die politischen Freunde der Reichsregierung, die Freunde der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften? Wenn die Arbeitslosen jeßt nicht reg recht betteln gehen müffen, fo verdanken fie das einzig und allein den Gewerkschaften und dem sozialdemokratischen Enfluß auf die Politif; denn ohne Gewerkschaften und ohne Sozial demokratie teine Arbeitslosenversicherung und teine Krisenunterstügung.
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Die Industrieprovinz.
Das Berwaltungsproblem im Industriegebiet. Das unermeßliche Häufermeer im rheinisch- westfälischen Industrierevier ist sozusagen über Nacht entstanden. Als es ein Gemisch aus hemmungsloser Spekulation, weltanschauman fich am Morgen, bei Licht, die Bescherung besah, war licher Beschränktheit und rücksichtsloser Ausbeutung, gleichfam ein Haus, in der die Möbel nicht passen wollen.
Jezt drängen die Dinge nach einer Neugestaltung, und zwar zeigt sich, daß die Verwaltung dieses seltsamen Landes nicht den Fortschritten der Wirtschaft gefolgt ist. Das Haus muß den Möbeln angebaut werden. Das ist eine ge= bieterische Notwendigkeit. Einzelne wenige Trusts, ein paar Riesenverbände und noch ein paar Kartelle in der Fertigindustrie haben das wirtschaftliche Leben im Ruhrpott zu einer straffen Einheit zusammengefaßt, wie das wohl in der Welt faum zum zweitenmal vorkommt. Die Abteilungen der Bestag, wie man den Ruhrtrust hier allgemein nennt, jede für sich eine Industriestadt, schlagen sich wie Brüden über das Land. Darum herum verwalten zwei Provinzen, zwei Oberpräsidien, drei Regierungspräsidenten, etwa ein Duzend Riesenstädte, 15 Landräte und fast ein halbes Duhend Ge= meinden. Verwalten das Gebiet, wie es nicht anders sein kann. Bo früher, so vor der napoleonischen Zeit, vor dem Königreich Westfalen unter Jérome, Abteien, Grafen , Fürsten , Herzöge, Könige und wer weiß, was sonst noch, sich ftritten, hausen selbst noch in der Zeit der Rationalisierung, der Zeit der optimalen Leistung. Tausende von Berwaltungschampions, die eifersüchtig auf ihre fommunale Selbständigfeit sind. Wenn der eine in einer Sache ja sagt, sagt der andere bestimmt nein. Man ist schon mit einer großzügigen Zusammenlegung der Gebiete grundsäglich einverstanden, aber dann will man der erste sein, und wenn man der zweite fein foll, jagt man lieber: nein. Wie weit man sich verrannt hat, dafür folgendes Erlebnis: Am dreckigsten Teil der schwarzen Enscher sollte vor nicht allzu langer Zeit eine größere Kommune, allerdings selbst schon Großstadt, nach ber benachbarten größeren Großstadt eingemeidet werden. Darauf farieb eine der drei erscheinenden Ortszeitungen, die immerhin Anspruch auf Beachtung erheben fann, das ginge nicht, denn dann fäme ja auch der Friedhof an die fremde Stadt und die lieben Toten dürften nicht in fremder Erde ruhen. Seltsam dieses Geschreibsel, aber noch seltsamer, daß solche Art Blasphemie von der Bevölkerung durchaus ernst genommen wird.
Im Grunde genommen rächt sich hier eine Politik, die man in diesem Gebiet bis zum Zusammenbruch im Jahre 1918 zu treiben für sehr bequem fand. Die größte Kohlenstadt des Kontinents, Gelsenkirchen , die Stadt der hundert Kohlenschächte, hatte nach den Befreiungstriegen in einem Raum, wo heute Hunderttausende leben, knapp 1% Tausend Einwohner. Nach einem halben Jahrhundert, so um das Jahr 1860 herum, waren es auch nur 4000; nach dem 70er Krieg etwa 16 000. Dann erfolgte ein Anwachsen bis zum Jahre 1880 auf 40 000, bis zum Jahre 1890 auf faft 80 000, um die Jahrhundertwende auf 130 000, vor dem Kriege auf
Die gesamte KPD. - Fraktion von der Bürgerschaft ausgeschlossen.- Handgemenge 180 000 und nach dem Krieg auf etwa 210 000. Heute, nad)
mit der Polizei.
Hamburg , 12. Dezember.( Eigenbericht.)
In der Hamburger Bürgerschaft tam es am Mittwoch. abend zu so turbulenten Szenen, mie sie in diesem Ausmaß hier noch nicht erlebt wurden. Die gesamte tommunistide Frattion mußte ausgeschlossen und mit Bolizeigewalt aus dem Saal gebracht werden.
Zur Beratung ftanden die Anträge zur Verbefferung der Beamfenbesoldung, die der Beamtenausschuß nach monatelanger Beratung vorgelegt hat. Schon vor der Sihung war befanntgeworden, daß bei den kommunlften die Absicht beffand, durch Aufgebot zahlreicher Redner bei der Einzelberatung Obftruf tion zu üben und es an diesem Abend zu einem Krach fommen 3u laffen. Diese Absicht wurde auch sofgrt erkennbar, als vor Einfriff in die Generaldebatte der Antrag der Koalitionspartelen zur Abftimmung tam, die aus zahlreichen Einzelbeftimmungen befehende Gesetzesänderung nach Abjchluß der Debatte en bloc 3 ur Abstimmung zu bringen. Der Antrag wurde, da an der erforderlichen Zweidrittelmehrheit wenige Stimmen fehlten, von der Oppofifion der Deutschnationalen, Nationalfojialifien und kommuniffen abgelehnt
Der Deutschnationale Dr. Nagel hielt darauf eine wilde und Jügellofe Agitationsrede, in der er von gemeinen Trids und Schiebungen der Koalitionsparteien fprach. Die Koalitionsparteien stellten nach feiner Rede fofort einen Antrag auf Schluß der allgemeinen Debatte, da in der Einzelberatung noch genügend Gelegenheit zur Hussprache sei. Die Annahme des Schinhanfrages wurde von den kommunisten mit ungeheurem Carm aufgenommen und in einer Geschäftsordnungstede versuchte der Kommunist Weftphal allgemeine Erörterungen zu machen. Die Anordnungen des Präsidenten ließ er unbeachtet und sprach in pro. bogierenber Form weiter.
Bizepräsident Dr. Brindmann unterbrach darauf die Sigung und schloß nach Wiederaufnahme der Verhandlung Westphal von der Sihung aus. Der Aufforderung, den Saal zu verlaffen, leiftete Weftphal Peine Folge, sondern er erklärte unter lauter Zustimmung seiner Freunde, nicht von feinem Plate weichen zu wollen. Es mußten darauf kriminalbeamte her beigerufen werden. Als diese Westphal nach dreimaliger ergebnislofer Aufforderung den Saal zu verlassen, mit Gewalt herausführen wollten, flürzte sich die gesamte tommunistische Frattion auf die kriminalbeamten und es entspann sich ein wildes Hand. gemenge, in dem die kommunisten mit Fäusten auf die Beamten einhieben.
der Eingemeindung Buers mit dem wertvollen Bergwerks besitz der Harpen A.-G. zählt die größte deutsche Kohlenstadt. im Grunde genommen eine Schöpfung des Montan industriellen Emil Kirdorf dom ehemaligen Gelsenkirchener Bergwerksverein, über 350 000 Einwohner.
Man muß sich vorstellen, wie diese Städte gegründet worden find. Irgendwo wurden Schächte geteuft oder Fabritmauern zu einem Stahlmert gezogen. Für die Produktion hatte man Menschen nötig und holte sie aus den dunkelsten deutschen und europäischen Agrarbezirfen. Dann baute man Häuser, die bekannten Rolonien, genau nach dem Lineal Rund herum fonstruiert und so billig wie nur möglich. bauten dann die privaten Baulöwen. womöglich noch schlechter und billiger als die Zechen und Hüttenwerke, Wohnungen ohne Bad, ohne jedes Nebengelaß, ohne jede Bequemlichkeit, ohne jeben Komfort. So entstand die rheinisch- westfälische Kommune, das Dugend Großstädte dort unten, die rund 400 Landgemeinden, um die heute der Kampf geht. Sie liegen so funterbunt durcheinander, fast noch bunter als die mergelige Erde den Kohlenflöz birgt, und es ist wirklich keine Kleinigkeit, zum Beispiel eine Verbindungsbahn so zu bauen, daß sie auch nur allen berechtigten Ansprüchen gerecht wird; von den unberechtigten Ansprüchen ganz zu schweigen.
Die wiederhollen Aufforderungen des Präsidenten zur Ruhe und Ordnung blieben unbeachtet. Die Kommunisten schlugen hemmungslos auf die Beamten ein. Der Präfident schloß darauf alle kommunisten mit Ausnahme des Borsitzenden Dettmann, der sich zurüchielt, von der Sigung aus. Auch hierüm fümmerten sich die Kommunisten nicht, fondern fetten die Schlägereien fort. Darauf wurde die ganze Frattion gemäß der Geschäftsordnung auf vier Wochen von den Sigungen ausgefchloffen und die polizeiliche Rathauswache herbeigerufen, die die Kommunisten unter heftigem Wider- Städtebau. stand gewaltsam aus dem Saal befördern mußte. Nur ein kleiner Teil der Kommunisten entfernte fich, nachdem der Präsident noch einmal zum Verlassen aufgefordert hatte, ohne Widerstand zu leiften aus dem Saal.
Darauf wurden die Beratungen in Ruhe weitergeführt. Die Anträge des Ausschnies wurden, nachdem ein Redner der Bolts pariel in scharfer Weise die Demagogie, besonders der Deutih nationalen gebrandmarkt und als Politif mit doppeltem Boden bezeichnet hatte, mit den Stimmen der drei Koalitionsparteien
eugenommen.
Schlimmer noch als der Wohnungsbau liegt der Daß man wertvolle Grünflächen und Wäldchen, die man bei einer vernünftigen Bodenpolitik wohl hätte erhalten fönnen, ragefahl vernichtet hat, versteht sich von selbst; denn dieser Kapitalismus wollte ja tein Verschönerungsverein und Wohltätigkeitsinstitut sein, sondern nur hqhe Dividenden herauswirtschaften. So rächte sich die politische Entrechtung der breiten Bevöl terung in der faiserlichen Zeit. Wo der Gelsenkirchener Bergwerksverein, die Harpen oder die Hoesch. Friedrich Krupp oder August Thyssen und wie sie alle heißen mögen, ihre Werke und damit auch Kommunen gründeten, wollten