± Beilage des Vorwärts
Nr. 73- 46. Jahrgang X« s�L/vIIMMv VVV Ivitl»V Mittwoch. 13. Februar 4929
Was wir nicht kennen.
Berkin soll bald Paris den Rang ablaufen, so hört m«, oft genug die Fremden erzählen. Einstweilen ist Paris Frankreich , und — ähnlich wie es bei uns ist— gibt es viele Pariser , die außer Paris nur Versailles kennen und vielleicht noch St. Germain . Im großen und ganzen sind wir Großstädter Gefangene unserer Städte! Der Lokalpatriotismus gedeiht in Paris wie überall. Der Pariser ist stolz auf seine Stadt, genau so wie dem Berliner das Herz bubbert, wenn er die Karawanen von Fremden auf den Rundfahrtautos beobachtet. Wenn man Verg' eiche zwischen' den beiden Städten anstellt, muß man sagen, daß Berlins Gepräge einheitlichere Formen aufweist, als Pari«. Dort gibt es Viertel, die den Beschauer in eine kleine Provinzstadt versetzen, Straßen, Plätze, die wie Märchen längst vergangener Zeiten anmuten. Dann kommen wieder Gegenden, wo man sich nach England versetzt glaubt. Man muß dem Bädecker recht geben wenn er behauptet, daß in Pari- die Umgangssprache englisch sei! Dem Pariser wird dies natürlich nicht auffallen. Er mischt sich unter die Fremden, besucht die großen Boulevards der Montmartrevarietäs, doch im all» gemeinen ist er vielleicht solider als der Berliner . Was dann noch in den Bars und Bergnügungsetablistements herumschwirrt, sind außer den Fremden die Einheimischen, die so die Vergnügung». industrie in Schwung bringen. Daß die Dorbemtungsn und Abschlüsse von Geschäften aus- schließlich nur in Cafäz oder Bars getätigt werden, das sehen wir schon an der Fülle am frühen Morgen. Nicht die vielen schmatzen- den Liebespärchen verwundern uns, nein� die Lebhaftigkeit, die der Panser zwischen einem Ease und Kognak aufbringt, um sich endlich in ein Geschäft zu stürzen! Die Zeit scheint hier sehr billig zu sein. Don Hast und Tempo merkt man hier nicht viel. Damit ist natürlich nicht der. Verkehr gemeint, der ist ein Kapitel für sich. Es durchzieht diese Stadt das Wort.„Laß' jeden tun, was er will." Darum ist es auch schwer, in Paris aufzufallen. Dos sah ich an einem jungen Maler, der es wahrscheinlich um jeden Preis wollte. Er fährt vor dem Cafe du Dome, auf dem Montparnaff«, wo noch die echten Maler in Samtjacken umherlaufen und wild gefangen werden, toglich mit einem merkwürdigen Auto vor. Der phan- taftssche Künstler in feinem dunkelblauen Velourkleid ureigensten Entwurfes entsteigt ihm, und wenn man genauer hinsieht, so ent- deckt man, daß das Auto gar kein Auto ist, sondern ein noch nie dagewesenes, felbstgesertigtes Gefährt, konstruiert aus zwei Fahr- rädern, mit Pedalen zum Treten, grellbumem Dach und ver- sehen mit einer Menge von Vorrichtungen, die natürlich hier ganz überflüssig und sinnlos sind, während sie vielleicht einem Rolls Royce zur Ehre gereichen würden!
sich ein Instrument, macht sich und seiner Begleiterin Musik, und je lauter der Lärm, desto amüsanter gestaltet sich der Besuch dieses Lokals. Sollte dort die Geburt der Jazzmusik stattgefunden haben? In einem anderen Cafe wollte der Wirt die Musiksteuer sparen, darum läßt er einen jungen Mann vor eine nackte Holzkiste stellen. Dieser hoffnungsvolle junge'Mann bläßt mit zerquetschtem Mund sämtliche gewünschten und ungewünschten Töne, manche behaupten sogar, daß in der Kiste Katzen eingesperrt seien, die den Musik- imitotor zuweilen ablösen, und neben dem Geblase schrubbt der junge Mann mit seinen Handflächen im unvermeidlichen Rhythmus den Takt auf der Holzkiste, die hinter ihm steht. Herrlich ist es, dos Publikum amüsiert sich und jubelt dem jungen Mann zu!
Autoersatz. Es geht ein Zauber von dieser Stadt aus, der manchesmal in so krasser Wirklichkeit endet, daß man plötzlich mitten in der Stadt vor einem Drahtverhau steht. Man liest aus der Tafel:„Dieses Stadtviertel ist wegen Typhus gesperrt!" Meine Gastgeberin nimmt mir das Versprechen ab, kein Wasser zu trinken, nur ab- gekochtes, dann sagte sie:„Vermeiden Sie soviel wie möglich Fleischspeisen." Ein« Großstadt ohne Schatten wäre eben nicht die Metropole des Landes. Das ltnglück des Gchlafwagenzuges. Das Signal war durch die vereiste Scheibe unsichtbar. Die Untersuchung des Eisenbahnunglücks bei Burglemnitz soll bisher ergeben haben, daß neben dem Lokomotivführer des Münchener Schlafwagenzuges auch der Weichenwärter vom Stell- wert der Station Gräfenhainichen eine gewisse Mitschuld an dem Zusammenstoß trägt. Der Beamte hotte zwar den kurz vorher durchfahrenden Frkdrichshafener Schnellzug D 238 dadurch gesichert, daß er das Ausfahrtsignal von Gräfenhainichen in Rich- tung Vurgkemnitz auf Halt gelegt hatte, er durfte aber nach Lage der Dinge entsprechend seinen genauen Vorschriften trotzdem noch nicht di« Einfahrt für den Schlafwagenzug nach Gräfenhainichen freigeben, wie er e� am Montagabend getan hat. Das schwere Unglück ist vor allem eine Folge des Frostes. Die Scheiben des Führer st andes auf der Lokomotive waren so vereist, daß der als zuverlässig bekannte Führer das Haltesignal nicht deutlich genug erkennen konnte. Bei der äußerst scharfen Kälte der letzten- Nacht hält man es für begreif- lich, daß der Lokomotivführer nicht den Kopf über die Scheiben hinausgesteckt hat, da er auch nicht ahnen konnte, daß ei« über- raschenbes Signal gezogen war. Im Laufe des gestrigen Dienstags konnte der Betrieb auf dieser Hauptstrecke wieder zweigleisig aufgenommen werden. Das Befinden der drei schwerverletzten Fahrgäste des Schlafwogen- zuges ist den Umständen nach zufriedenstellend, auch das des Amerikaners Zöllner, der nicht nur biede Unterschenkel, sondern
Dem Pariser fällt nichts auf. In den ersten Morgenstunden kann man im Frack durch die grauen Hallen gehen, es wird einem niemaind nochrufen, man mmmt davon einfach kein« Notiz in Paris . Genau so ist es mit den kleinen Rotunden auf der Straße: wenn die Herren hineingehen, kann man ihre Füße sehen, weil das Schutzblech nicht bis zur Erde reicht; das ist doch komisch, und es stört keinen. Ich hotte Gelegenheit, einen älteren, würdigen Herrn. der scheinbar nicht einmal besagtes Schutzblech für notwendig hielt, zu beobachten. Aber.. diesmal fiel es zwar immer noch keinem Passanten auf, was da geschah, immerhin aber doch einem Schutz- mann, der sich strafenden Blickes näherte. Der ernste alte Herr ließ sich nicht verblüffen, noch weniger stören. Er faßte nur mit seiner linken Hand so nebenbei an seinen Rockaufschlag und ließ das Bändchen der Ehrenlegion in der Sonne funkeln. Der Schutzmann grüßte, nickte verstehend und oerschwand. Dieses Volk lebt an der Grenze der Harmlosigkeit. Kindlich- keit strömt aus den Besuchern der Montmartre-Cafes. Da ist eines, in dem es Usus ist, daß jeder sein eigener Sapellmeister sein kann. Musikinstrumente stehen den Gästen zur Verfügung, jeder greift
So wird Musik gemacht
RoMtnyi einet: fäevoluiion. Dom Gecluirl Mtcrntemn Woslat
Kerstens Erstaunen unterbrach die Herzogin, die mit eiligen Schritten hereinkam. Trosegk zuckte nervös. Er haßte ihre unvorsichtig? Leidenschaftlichkeit. Dies Erscheinen tn seinem Zimmer würde dem Hoftratsch wieder Nahrung geben. Natürlich. Friederike faßte sich schnell.„Don Seiner Durchlaucht. Streng vertraulich. Seine Durchlaucht bedauern, nicht selbst kommen zu können. Sie hüten das Bett." Sie gab Trosegk das Papier. Er öffnete es schnell. Es war unterschrieben! Trosegk ginq mit Kersten ins Vorzimmer„Schreiben Sie bitte, was ich Ihnen sage Bley und teilen Sie es unten im Landtag mit— so schnell wie möglich." „Darf ich mir das anhören. Herr von Trosegk?" fragte Kersten. erstaunt über diesen direkten Verkehr eines ihm unterstellten Beamten mit dem Herzog. „Bitte, Herr von Kersten.— Also Bley! Seine Durch- lauckt bitten den Landtag, seine heutige Sitzung ohne wei- tere Beschlußfassung abzubrechen. Seine Durchlaucht bereiten umfassende Aenderungen im Ministerium vor, die das Der- halten des Landtags anders zu beeinflussen geeignet wären" „Erlauben Ve." fragte Kersten verblüfft,„sollte das nicht meine Sache sein?" Trosegk sah ihn gleichgültig an.„Nicht mehr. Herr von Kersten Seine Durchlaucht halten die Art. in der bisher�die Politik Anhalt-Bernburgs geführt wurde, derzeit nicht mehr für opporwn. Er möchfe sich Ihrer bedeutenden Fähigkeiten auf dem Gebiete bedienen und hat mich mit der Neubildung des Ministeriums beauftragt. „Doncrmetter!" fuhr es Kersten heraus. Er faßte sich sofort und lächelte spötti'ch:„Ich gratuliere." Der gewesene Ministerpräsident verschwand. Trosegk wandt? sich wieder an den Justitiar:„Sagen Sie das bitte sehr liebenswürdig, Bley. Es muß wie ein
Entgegenkommen klingen, verstehen Sie? Sie können hin- zufügen, daß sich das neue Ministerium über das Vorlegen der Akten ehestens schlüssig werden wird.— Und nun be- eilen Sie sich. Es ist höchste Zeit. Sie können meinen Wagen benutzen." Bley stürzte aus dem Zimmer. Friederike war in die Tür getreten. Sie sprach schr leise. „Der Ritter von Trosegk sagte einst, er habe Mut wie ein gewisser anderer Ritter. Aber er scheint umgekehrt zu han- dein und vorsichtiger. Er nimmt erst das Amt und dann das Weib." Trosegk Iah sie ruhig an:„Er hat noch nicht das ganze Amt. Das Kanzleramt. Das will er. Das Amt, das ihn berechtigt, ganz frei zu handeln." Sie trat auf ihn zu. hob die Hände an seine Brust, ließ sie zitternd hinaufgleiten bis zu seinen Schustern.„Du..." Er nahm die Hände leicht herunter.„Darum will er auch noch nicht das ganz? Weib." Sie schwieg. Ihr Kopf sank. „Solange er noch kämpfen muß. braucht er einen kühlen Kopf Du weißt: sonst verliert er ihn." Wieder gefiel ihr diese männliche Kälte, die sie für Be- herrschung hielt. Sie küßte ihn schnell und jäh auf die her- ben Lippen und ging rasch. 8 Bock in der Wüste. Die Sonne war untergegangen, das Schofar, das heisige gellende Horn, hatte zum letzten Male gerufen— und die Männer der Bernburger Judenheit traten aus der kleinen Synagoge, die sich im engen, hinter breitem Häuser- bauch wrs in einem Schoß verkroch. Sie schüttelten sich untereinander die Hände, der Freund dem Freunde, und vor allem der Feind dem Feinde: denn es war Iom-Kippur ge- wesen der Tag der Aussöhnung mit Gott und d-r Reinigung vor Gott welcher d'e Aussöhnung mit den Menschen und die Reinigung von Menschenhaß„nd Menschenfeindschaft in sich schloß— und Stolz und Selbstzufriedenheit waren welk geworden und van ihnen gefallen wie draußen das Oktober- laub von den Bäumen. Auch Abraham Calm stand unter ihnen. Er hatte sich vor den aufrührerifcb-n Gedanken die dumpf in seinem Hirn brodelten seit jener Nacht mit Wagner und doch auch zu- weilen leise und hell zu sinaen vermochten seit dem nächt- sich'n He'mweg mit Knienhacke, mehr denn je in sein« strenge Religiosität geflüchtet. Er war unter den Frömmsten ge»
wesen, hatte die heiligen Kleider angelegt gleich den an- deren, den leinenen Rock und die leinenen Beinkleider und den leinenen Gürtel und die leinene Kappe, hatte von Sonnenuntergang bis Sonnenuntergang gestanden, gekniet und wieder gestanden, gebetet, dem psalmudierenden Vor- sänger gelauschi und wieder gebetet— und nun war auch er mitten in all dem Glückwünschen und Händedrücken, und seine schwere, heiße Hand drückte die andern besonders fest — so, wie man jemandes Hand festhält, der auf eine Mauer stieg und stürzte und nun an ihrer anderen Seite hängt und mit der ganzen Schwere seines Wesens hinabzualeiten droht... Calms Hand gab dem Druck Antwort. Calms Mund wünschte Glück. Aber Calms Augen starrten ohne Blick, sie konnten wohl nicht mehr über die Mauer hinweg- sehen, sie sahen nur noch graue Steine, dicht vor sich... Dann hatten auch die letzten sich verabschiedet, gingen plaudernd in ihre Häuser, durch die Breite Straße, über den Markt. Aber Calm ging nicht mit ihnen. Er wollte durch die Hintergassen nach Hause. Da, er hatte eben die Straße überschritten, rief ihn der Rabbiner an.„Der Abend ist ichön. Herr Calm. bis zum Essen wird's noch dauern ein Stündchen. Ick möchte Sic begleiten." Auch der Rabbiner schüttelte dem Lohgerber fest die Hand, schwieg dann, trank aus dem würzigen Herbst- abend. Auch Calm wußte nichts zu sagen. Sie kamen zwiscßen die schmalbrüstigen, hohläugigen Häuser der Turmstraße. Der Rabbiner verhielt den Schritt und wog einen dicken eisernen Ring in der Hand, der am ersten Hause in halb-r Mannshöhe befestigt war...Wissen Sie. was das ist. Calm?" fragte er und sah den Lohgerber voll an. Der schüttelte den Kopf. „Das ist das letzte Glied von der Kette, die bis 1815 die Turmstraße abschloß von der übrigen Stadt. Denn in der Turmstraße haben gewohnt d>e Juden. Das wissen Sie ja, S'e sind ja noch geboren im Ghetto." Er trat wieder zu Calm und ging langsam mit ihm weiter, aber er nahm den Blick nicht von ihm. nur seine Hand wies auf einige Häuser mit auffallend großen Num- mern:„Jetzt, wo sie untergebracht haben in den Trauer- häuiern der Juden die Freudenhäuser der Gosim. weil kein anständ'g-r Christ wollte wohnen in solcher Gass'— jetzt brau-ßen sie nicht mehr die Kette." Noch immer schwieg der Lohgerber. Aber sein Kopf hing auf der Brust. (Fortsetzung folgtZ j