7tr. 75* 46. Jahrgang
-1. Beilage des Vorwärts
Vonnerstag. 14. Februar 1929
3m Gebirge spielen sich, wie aus Wien berichtet wird, wahre Hochwildtragödien ab. Die Rehe des Semmering - und Raxgebietes gehen an einem Massensterben zugrunde. 3m Semmeringgebiet wurden neben einer Straße füns Rehe in einer Schneewehe gesunden, in einer anderen Gegend wurden lZ Rehe tot aufgesunden. Einige noch am Leben befindliche Tiere gingen bald nach ihrer Aussindung ein. Au» einem Doch wurden in der vergangenen Rächt sieben tote Reh« aus- gefischt. Räch Ansicht der 3äger wird der sibirische Winter dl« wildbestände Oesterreichs dezimieren und in einzelnen Revieren geradezu vernichten. Mitten im Bre'nnpunkt des größten Verkehrs, unibrandet von den Wogen einer vielstimmigen Großstadtmelodie, grüßt uns eine still« Wmterlandschost, der Zoologisch« Garten. Hoher Schnee bedeckt die vielen Grünflächen: noch liegen die ersten Früh- lingsblumen, die in wenigen Wochen ihr« Köpfchen emporstrecken wenden, in tiefem Winterschlaf. Die Dächer der Tierhäuser sind wie mit Zuckerguß bestreut, alle Ornamente, Verschnörkelungen, kurz, jedes Winkelchen ist weiß verbrämt. Still— verträumt liegt olle» da, als hielte die Natur den Atem an, selten nur durchzittert ein tierischer Laut die Lust. Di« Einwohner haben ja fast all« ihre Winterquartiere bezogen. Im Clesantenhaus blüht und gedeiht Kolify, dos Elefantenbaby, zur Freud« aller. Sie hat bereits tüchtig an Gewicht zugenommen und ist um 12 Zentimeter gewachsen! Langsam, aber stchert Sie hat ja Zeit, denn der Elefant wächst bekanntlich 20 Jahr«. r»m neuen A f s e n h a u s vollführen die lustigen Schnnpanfen ihre Clownerien am Holländer, im Wagen, außerdem treiben sie vor- züglich« Parterre- und Lustakrobatik. Dem neuen Gorilla hat man auch einen dieser Spaßmacher zugeteilt, und wirklich hat der Melancholiker mit den großen Träumeraugen an oll den Spähen Gefallen gesunden und macht sogar manchmal mit. Oie den Winter nicht fürchten. Draußen im Freien stapfen HirscheundReh« vergnügt im Schnee uncher und harren der Besucher mit der„Brottüte", die jetzt im Winter nicht allzu reichlich erscheinen. Die S e e l ö w e n vollführen, unbeirrt und unbeschwert von der rauhen Winterszeit, graziös und leichtbeschwingt ihre Schwiinmküirst«. Füchse, Wölfe, sibirisch«
Tiger, Hochlandsrinder vervollständigen so das übliche Bild des winterlichen Zoo. Plötzlich aber swtzt man. Strauße im Schnee? Wahrhaftig, da stolzieren einige Strauße umher. Auf der anderen Seite aber trotten Kamele und Dromedare mil stolzem Gleichmut durch den nordischen Winter aus und ab. und— des Wunderns wird kein End«— hier recken sogar zwei Giraffen ihre unwahrscheinlich langen Hälse dem Besucher entgegen. Im Ässenkäsig turnen ein paar Pavian«, zwar mißvergnügten Gesichtes, sonst aber wohl und munter auf den Käfigstangen und die 40 grünen Zwerg-Papageien(Sittiche). deren Nester— sie mausern gerode — außen an den Käfigen an- gebracht sind, fliegen Sommer wie Winter frei im Garten herum. Wie ist das möglich, fragt man sich, daß all dies tropisch« Getier dem ungeheuren Temperaturunterschied so stand hält. Or. Heck erzählt: Genau, wie die Gesundheitslehre und Hygiene bei den Menschen die frische Lust als einen der wichtigsten Faktoren zur Stärkung und Hebung der organischen Widerstandsfähigkeit er- kannte, so hoben auch wir bei den Tieren versucht durch systematische, vorsichtig gehandhabte Abhärtung den Gesundheitszustand unserer Schützlinge zu festigen. Unsere Experimente sind durchweg geglückt, außer einem kleinen, harmlosen Assenhusten haben wir keinerlei Erkältungserscheinungen zu verzeichnen. Diese Abhärtungsmechode beruht zum Teil aus der Tatsache, daß ja das heimatliche Klima einzelner dieser Tiere im Winter auch oft recht geringe Tempera-
länger« Zeit zum Trocknen braucht, als in der Heimat. Trockene Kälte ober bekommt ihnen, gut dosiert und nicht allzulange genosieo. recht gut. Alle Tiere, die ständig im Freien sind, haben bekanntlich den besten Kälteschutz in Gestalt ihres dicken Felles von der Natur erhalten, und es ist die interessant« Tatsache festgestellt worden, daß auch das Feil der afrikanischen Kamele, seit man sie ständig im Freien hält, bedeutend länger und dichter wurde. Von den Assen sind es die Paviane, deren dickes Haarkleid es rasch ermöglicht, sie an die Kälte zu gewähnen. Am empfindlichsten sind unter den Assen die wenschenassen, bei denen solch Experiment natürlich keinesfalls möglich wäre, im Gegenteil, sie erhalten noch erhöhte Wärmezufuhr durch an den Käfigen angebrachte elektrische Sonnen. Sehr empfindlich sind auch die Dickhäuter(Elefanten, Fluß- pferde, Tapire), deren Wohnhaus den Winter über in allen Ritzen gang sest mit Stroh verstopft werden muß, damit ja keine kalten Luftmassen eindringen. Im Dickhäuter-Hous gab es übrigens in jüngster Zeit Familienzuwachs, vor fünf Tagen wurde ein Flußpferd geboren, das sich vorläufig dem Besucher als ein« glänzeuv-schwarze, unförmige, kugelige Mass«, als ein« kleine dick« Blutwurst, präsentiert. Di« Unterschiede in den Jahreszeiten hier und in der Heimat spielen natürlich ebenfalls eine nicht unwesentliche Rolle. So sind jetzt die S tra u ß« n h ä h ne, die bekanntlich die Eier selbst be- brüten, und auf deren Tätigkeit eben zwei prächtig« giftgrüne Exem- plare von je ein Pfund Gewicht warten, der Kälte wegen in den Streik getreten. Es kommt oft vor, daß Eier überhaupt nicht von den Tieren bebrütet werden und daß man es vorzieht, die Eier auf künstlichem Weg« ausreifen zu lassen. Di« Zwerg- papageien sind letzt eben in der Mauser, mit einem Wort: andere Länder, andere Sitten! Trotzdem haben sich all diese Eroten dem hiesigen Klima sehr gut angepaßt. Bei ganz strenger Kälte werden die vorgenannten Tier«, Kamele ausgenommen, nicht heraus- gelassen, oder höchstens auf ganz kurze Zeit, damit sie sich etwas Bewegung machen. Bei den Affen ist die Kältegrenze S Grad Minus, ist es darüber, haben sie Stubenarrest. All diese Abhärtungsexperimente müssen natürlich ganz ge- wissenhaft durchgeführt werden, damit die Tiere keinen gesund- heitlichen Schaden nehmen. Jeden Morgen, Winter wie Sommer, wird nach Feststellung der Temperatur angeordnet, welche Tier« ins Freie dürfen und wie lange. Im Winter wird die Läng« des Aufenthaltes im Freien ganz besonders genau festgestellt. Außerdem erfolgt jeden Tag morgens ein Kontrollgang durch alle Käfige, olle paar Tag« kommt die ärztlich« Bisit«.
tnren aufweist: so sinkt z. B. dos Thermometer in den afrikanischen Hochländern nachts oft auf Null Grad, außerdem sind Regen und Hagelwetter ebenialls häufige Erscheinungen. Die Tiere sind also Kälte und Feuchtigkeit etwas gewohnt: allerdings ist die Berliner Feuchtigkeit den Tieren insofern schädlicher, als d a s Fell hier viel
Lungen in Aot. Was Herr Lampel sich erzählen läßt! In dem Lampeljchen Buch„Jungen in Not", durch das in der Stadtverordnetenversammlung die kom- munistische Fraktion zu einer Anfrag« veranlaßt worden ist, macht wohl den stärksten Eindruck auf den mitfühlenden Leser der Bericht:„Furchtbar« Dresche"(S. 194 bis 200). Ein Junge, Herbert I., schildert hier seine Erlebnisie in der Fürsorgeerziehung. Er will durch eine große Zahl von Anstalten geschleppt worden sein, wo es einfach toll hergegangen sei. Besonders schlimm habe man es in Klein-Kamm getrieben, dort habe man die Jungen auf einen Prügelbock geschnallt, dann hätten drei Erzieher sie mit Hundepeitschen mit eingelegten Stahlfedern und Kugeln an den Enden geschlagen, bis dos Blut gekommen sei! In Strausberg habe man es ebenso gemacht, und auch in Königsberg habe es Prügel gegeben und harte Arbeit dazu. Das Esten sei sehr schlecht gewesen. auch In Rastenburg , wo sich die Jungen die Kartoffeln aus dem Schweinekoben geholt hatten, um ihren Hunger zu Killen.'"-v Sehen wir uns diesen Bericht einmal näher an! Nach ihm war der Jung« von seiner Geburt an untergebracht im Walsen- Hans und in Pflegestellen 7 Jahre, in der Anstalt Klein-Kamin 4 Jahre, in der Anstalt Strausberg 2 Jahre, in der Anstatt Königs- berg 2 Jahre, in der Anstatt Rastenburg S Jahre. Dann war er entwichen 8 Wochen. Er war weiter in einer Lehrstelle in Branden- bürg 1 Jahr, in einer Arbeitsstelle in Luckenwalde 2 Jahre 8 Wochen. im Heim Struveshof Z Wochen, im Heim Scheuen 1 Jahr. Das sind zusammen 25 Jahre 19 Wochen. Wie wir jetzt er- fahren, ist der Junge aus Scheuen schon seit 10 Monaten fort und zurzeit in einer freien Arbeitsstelle. Er müßte also über
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der HZotttAH einte KevolulioH. Uoh GerltAti HeccmanM „Es kostet ein Federstrich dem Herrn von Troscgk. und die Kette wird wieder gezogen, und sie sperren wieder da- hinter unser Volk." Der Rabbiner legte dem Schreitenden die Hand auf die Schulter und hielt ihn an.„Es ist Iom- kippur heute. Abraham Calm. und man soll sich aussöhnen mit Gott— und kann man sich aussöhnen mit Gott, wenn man sich nicht aussöhnt mit den Menschen? Deshalb red ich zu Ihnen. Es ist gewiß viel Leiden und Ungerechtigkeit in der Well, Calm. Aber es sollen nicht gerade die Schwächsten glauben, daß sie helfen können den Starken. Und es wer- den nicht kleiner werden die Leiden des Landes, wenn die Juden müssen zurück ins Ghetto." „Awwer Se ward oo nich kleener daderoon, daß anne schwangere Fraue ins Iefängnis muß," quälte Calm leise heraus. Der Rabbiner wiegte den Kopf, strich sich die grau- lockigen Strähnen des Bartes.„Wer will richten über Schuld und Unschuld? Wir Juden? Sind wir die Be- Hörden?" „Die Polizei hilft keen'n armen Menschen, Harr Rabbiner. Bloß dar, däns oo is schlecht jejangen, wie uns Juden. Aewen dadrumme." „Aber Calm!" Der kleine, bewegliche Greis wurde nervös.„Ist die jetzige Frau Kniephacke, ist ihr Volk, das jahrhundertelang geknechtet hat das Volt Gottes — sind sie zu Ihnen gekommen und haben gebeten um Hilfe? Was drängen Sie sich auf den Gojim . Calm? Rein— nur still sein, nicht austollen, nicht reizen die Behörden— es geht ja nicht um Sie allein. Es geht um alle Bernburger Juden. „Ree. Harr Rabbiner. Es seht ums janze deutsche Bolr" Der Rabbiner warf die Hände in die Luft:„Was soll man sagen! Das deutsche Boll! Wer ist gekommen zu den Juden und hat gesagt—" Er brach ab, denn Calm schien nicht zuzuhören. Sie
standen vor der Marienkirche. Es war Abendgottesdienst, drinnen sang die Gemeinde die Lithurgie. Calm lauschte angespannt der Zeile, die sich da immer wieder wiederholte: „Christs, du Lamm Gottes , das du trägst die Sünden der Welt, erbarme dich unser!" Calm wandte sich jäh an den Rabbiner,.,3s nich worden vorjeläsen heite die Stelle aus Mose, wo es heeßt, daß der Priester soll nehmen an Bock un ihm läsen uffs Haupt alle Sünden der Kinder Israel un ihn jagen in de Wüste?" „Jawohl, ungefähr so, aber—" „Sähn Se, Harr Rabbiner, die Juden mechten wohl oo, daß es besser wär. un se mechten oo helfen derzu. Ick) weeß es jo. Awwer sc han oo Angst. Das fan se selber. Un dadrumme, weil se Angst han vor ihre eejenen Treime von Freiheit un Recht— dadrumme, wenn eener in de Wirklichkeet tun will, was die annern bloß denken, denn is es ne Sinde. Das is denn der Bock, der Sindenbock, un der wird gejagt in de Wieste. Un der Bock heeßt Abraham Calm. Ich wees es jo." Wieder klang es aus der Kirche:„Lamm Gottes , das du trägst die Sünden—" Calm zerriß des Rabbiners erschreckte Antwort.„Awwer es jiwwet doch oo Leite, die bäten eenen an, dän se oo ma in de Wieste gejagt han un ussjepackt han ihre Sinden—" Des Rabbiners Gesicht stand plötzlich ganz nahe vor dem des Gerbers, die gespreizten Hände flatterten ihm zu sei- ten, aus dem vibrierenden Mund rief es leise, aber es war geflüstertes Schreien:„Calm, Sie haben bedroht den Herzog, den Schutzherrn der Juden, Sie haben sich gelassen ein mit den gortlosen Gedanken der Anarchisten, Sie lassen gehen Ihre Tochter Sarah mit einem Christen— Calm, Calm, Sie wollen überlaufen zu den Gojim . Sie wollen verraten Ihr Volk und Ihren Glauben!" Die weit aufgerissenen Augen sahen flehend in Calms Gesicht. Der schüttelte langsam, schwer den Kopf.„Nee. Das kann ich nich." Der alte Rabbiner erkannte die Ehrlichkeit der Worte. Er nahm Calms Hand.„Ich glaube Ihnen, Abraham Calm. Aber—" Er seufzte auf.„Gott soll Sie segnen in Ihrer Not, Calm. Gott soll Ihnen noch schenken den Iom-kippur, den Sie nicht gefunden haben bis jetzt." Calm würgte es plötzlich im Hatte.„Niicht for unjut. Harr Rabbiner. Un stießen Se de Rebbizin." Er wandte sich schnell und ging. Zu Hause hatte Sarah bereits die Festspeise auf dem Trsch. Aber ihre Süße schwand in der Bitterkeit, die in ihm
war. Er beobachtete gequält die tierhaftc Selbstverständlichkeit in Sarahs Bewegungen. Sie ging im Zimmer umher wie ein Mensch, der Besuch bekommen wird, einzig wichtigen Besuch, und vorher achtlos einige Gegenstände im Zimmer anders stellt— sie war wie ein Mensch, der wartet. Gleich nach dem Essen verabschiedete sie sich. Er nickte ihr morllos zu und blieb allein. Ihm mar nicht mehr zornig, nur traurig zumute. Ein junger Christ fiel ihm plötzlich ein, den er gekannt hatte, der nach langem Leben in der Ferne zu seinen Ellern heimkehrte, um das Weihnochtsfesi mit ihnen zu verleben. Am andern Morgen hatte seine Mutter ratlos erzählt, daß er den ganzen Abend geweint hatte. Calm verstand ihn jetzt. Begriff, daß Glück und Glanz der Kindheit gefehlt hatten und ein neuer Sttm noch nicht ge- funden war. Und er, Abraham Calm? Dies war nun sein Iom-kippur. Dies war das Bersöhrningsfest des Bocks in der Wildnis. Die Wildnis hieß Einsamkeit. Er hielt das nicht aus. Er mußte unter Menschen. Er dachte an Kniephacke, der ihn oft gebeten hatte, doch endlich mal zu ihm und seiner jungen Frau oder aber in den Gast- Hof zur-Goldenen Kugel zur„Abendsprache" zu kommen. Dort saßen Illmer, Menge, auch der Schloßgärtner Ziegler. Dort saßen sie, die auf der Straße tief den Hut vor ihm zogen, seit sie von der Sache mit Kniephacke» Schwägerin wußten. Dort saßen sie, die schon einmal den Sündenbock zu sich genommen hatten, die das Heil von ihm erhostten. Calm trat auf die Straße und rannte fest zur Goldenen Kugel. Im vordersten ebenerdigen Raum, vo n Honoratioren- zimmer durch einen Korridor getrennt, saßen sie an ge- hobellen Tischen, all«, an die Calm gedacht hatte, und mehr noch. Er merkte der bei aller Verhaltenheit doch starken Ausdruckskraft ihrer Gesten und dem vorsichtigen Flüstern ihrer Worte an. daß sie politisierten. Scheu überkam ihn vor den massigen oder hochhageren, mit den Armen breit über den Tisch liegenden Männern— aber da hatte ihn schon Kniephacke erblickt und Holle ihn froh zu seinen Kumvanen. Es war das erste Mal, daß er zu anderen als qefchäft- lichen Zwecken mit Christen auf der Bierbank saß. So blieb er lange stumm und fremd, während die anderen ihr Ge« svräch fortjetzten. über den Landtag schimpften, der sich> Trosegk hotte vor die Nase setzen lassen, über Troseqk. der noch immer keinen zweiten Minister ernannt hatte, sondern allein herrschte, und wieder über den Landtag und seinen Vorsitzenden.(Fortsetzung folgt.»