Einzelbild herunterladen
 
10 Pf. Nr. 181? B 94 46. Jahrgang.
BERLIN  Sienstag 23. April 1929
Erscheint täglich außcr Sonntags. Zugleich Zlbeudaucgabe de«.Vorwärts'. Bezugspreis beide Ausgaben SöPf. pro Woche. s,t>nM.»ro Monar. Liedaktion und Erpedition; Berlin   SWöS.LindeuKr.s
SfttUaubgajße xlei i
nzelgenorei«: Die einspaltige Nonpareillezeile sa Lf.. Reklamezeile S M. Ermäßigungen nach Tarif. Postscheckkonto: Vorwärts-Vcrlag G. m. b.H., Berlin   Nr. S7üZ6. Fernsprecher: Dönhoff 292 bl« Tsn
Todesstrafe im Wanken.
Oer Gotteslästerungsparagraph abgelehnt.
Die Anhänger der Todesstrafe fühlen den Boden nnler ihren Füßen wanken. Sie wollen die Todesstrafe fehl nur noch für die schlimmsten Delikte retten. Abg. E m m i n g e r von der Bayerischen Volkspartei und Dr. Bell(Z.) haben heute im Reichstag beantragt, wenn der Täter 1. die Tat beging, nachdem er bereits einmal wegen Mordes oder Totschlags verurteilt war, oder 2. mehr als eine Person getötet und diese Taten mit Ileberlegung ausgeführt hat oder Z. die Tat an einem ver- wandten aufsteigender Linie begangen hat. Die Anhänger der Todesstrafe meinen offenbar, bei weiser Be- schränkung die Todesstrafe noch retten zu können. Das ist jedoch eine trügerische Meinung. » ' Dem Ausschuß des Reichstags für das neue Strafgesetzbuch ist folgende Resolution im Hinblick auf die Todesstrafe zugegangen: Die Unterzeichneten betrachten die Ehrfurcht vor dem Menschenleben als die Grundlage jeglicher Kultur. Sie ver- abscheuen Blutvergießen in allen seinen Formen, die H« verwandt und von verhängnisvoller Wechselwirkung sind. Sie pro- t e st i e r e n gegen die Beibehaltung der Todesstrafe, die un- glückliche Opfer sozialer und hereditärer Uebelständc zu unvorslell- baren Angst- und Vernichtungsounlen ausersieht. Die Gesellschaft, die menschliche Urteilsschwäche selbst im primitiven und äußerlichen Sinne immer neu beweist, vermag nicht, über Lebensrecht' und Tod nach ewig gültigem Gesetz zu richten. Die Unterzeichneten fordern vom Deutschen Reichstag, daß er unserem Äaterlande die gleilhe geistige und sittliche Höhe zu- gesteht, die so viele andere Länder durch Abschaffung der Todesstrafe bewiesen haben. Sie erwarten, daß er die wachsende Bewegung anderer Staaten gegen Hinrichtungen durch Deutschlands   hohes Beispiel stärkt. Sie hoffen und glauben, daß er Deutschland  « Würde Oesterreich gegenüber wahren wird, dessen Reichsoerfassung auf Blutgesetze dauernden Verzicht geleistet, und daß er die langersehnte Rechlsgemeinschaft mit diesem unserem Bruderland« durch Abschaffung der Todesstrafe voll- enden wird. Diese Eingabe trögt Unterschristen zahlreicher bekannter Dichter und Künstler, u. a.: Heinrich Mann  , Ernst B a r l a ch, CIrfabeth B e r g n e r. lFrang Blei, Bertolt Brecht  , Max Brod  , Martin Buber, Hans lCarofsa, Theodor Däubler  , Ernst Deutsch  , Astred D ö b l i n, Kasimir Edschmid  , Lion Feuchtwanger  , S. Fischer, Bruno Frank  , Oskar Maria Graf  . Georg Hermann  , Archur Holitscher, Arno Holz  , -Friedrich K a y ß l e r. Alfred K e r r, Otto Klemperer  , Eugen Sc l o« p f e r, Annett« Kolb, Käthe K o l l w i tz, Alfred Kubin  , Elise Lasker Schüler. Max Liebermann  , Emil Ludwig   Thomas Mann  , Julius Meier-Grafe, Gustav M e y r i n k. Alfred Nemnann, Max Reinhardt, Heinrich XTV. Erbprinz Reuß, Rene Schickele  , Max von Schillings, Wilhelm Schxmdebenn, Heinrich Simon, Gart Sternheim, Fritz Strich  , Karl Doßler, Bruno Walter, Hedwig Mangel, Jakob Wassermann  , Leo Weihmantel, Franz Werfel  , Ludwig Wüllner  , Heinrich Zille  , Arnold Zweig  , Stefan Zweig.  _ Gotteslästerung" gefallen. Wann wird sie wiederkommen? Der Strofgesetzansschuß des Reichstag  « beendete heute dle ve- rakung de» 8 ISO. der die Gesängnlsstrase gegen denjenigen festseht, der öffentlich eine Im Reiche bestehende Religionsgesell- schaft, ihren Glauben. Ihre Einrichkungen oder ihre Gebräuche ln einer Welse beschimpft, die geeignet ist. das Empfinden ihrer An- gehörigen zu verletzen. von der sozialdemokratischen Fraktion lag ein Skreichnngsantrag vor und eln Eventualantrag, nach welchem nur dann Bestrafung eintreten solle, wenn jemand öffentlich eine Im Reiche bestehende Religloosgemeinschofl in gemeiner weise beschimpft. Abg. Saht appellierte an die Sozialdemokraten, daß sie dach wirklich nickst über ihren Eventualantrag hinausgingen. Er verlas ein Trinklied, das allerhand Beschimpfungen enthielt, die doch ge- troffen werden müßten. Abg. Rosen selb sSoz.) erwiderte, die Sozialdemokraten billigten gewiß keine Beschimpfungen der vom Abg. kahl gerügten Art. sie bedauerten solche vorlommnisse. aber sie seien der Meinung. mit dem Sirafparagraphen sei doch keine Aendernng zu erreichen. Die heulige Rechtsprechung, die zu schwersten Mißgriffen gegenüber kulturellen Bestrebungen geführt habe, nötige zu einer starken Einschränke' ugdesGotteslästerungsparagraphen. wenn schon die Beseitigung nicht zu erreichen sei. Aus Augrisse des Sommvaisteu Maslowskj entgegnete Abg.
Landsberg(Soz.), daß die sozialdemokratische Fraktion in erster Linie die Streichung de» 8 180 beantragt und daß sie diese Streichung auch ausführlich begründet habe, wenn der prinzipielle Standpunkt aus Streichung nicht durchzusehen set, dann müsie man wenigstens Abjchwächung zu erreichen suchen. Da» sei eine Politik der Klugheit, deren die Kommunisten allerdings ermangeln. Sie würden dann die Verantwortung für alle Verurteilungen zu tragen haben, die daraus zurückzuführen seien, daß infolge Versagens der kommunistischen   Fraktion Abschwächung de» 8 180 abgelehnt wurde. Bei der Abstimmung stimmten für die Streichung de» 8 180 nur Soziademokralen und Kommunisten. Znteresiani war. daß die Kommunisten auch gegen einen sozialdemokratischen und einen
demokralischen Abschwächungsavlrag stimmten. Beide Anträge wurden abgelehnt. Auch Zentrumsaniräge und deulschnolionale Anträge wurden abgelehnt. Bei einem Antrag der Deulschnolionaleu aus Abschwächung änderten die Kommunisten ihre Taktik: sie eul- hielten sich der Stimmen. Schließlich wurde auch der Regierungseutwurf abgelehnt und damit war der 8 18V gefallen. Vor- sitzender Kahl stellte allerdings fest, daß die Streichung des 8 180 nur bedeute, daß mau bisher noch reine Fassung gefunden habe, für die eine Mehrheit des Ausschusses ein» tritt. Diese Mehrheit würde sich aber bis zur zwetten Lesung bilden.
Die Entwicklung der Türkei  . Aeußerungen des türkischen Außenministers Tewfik Ruschdi Bei.
Der zurzeit w Berlin   weilende Außenminister de�r türkischen Republik, Tewfik Rüschdi Bei, empfing am Montag nach- mittag in der türkischen Botschaft deutsche Pressevertreter und gab ihnen bereitwilligst Auskunft über die politische, wirtschaftlich« und kulturell« Lag« seines Landes. Mit großem Nachdruck betonte er die starten Anstrengungen, die das neue türkische Regime für die knllnrelle Hebung des türkischen Voltes entfaltet. Der Kampf gegen den Analphabetis- mus werde insbesondere innationalen Schulen' geführt, in denen die Bevölkerung beider Geschlechter und unter Heranziehung auch
SlolschaHer Gibson, der amerikanische   Vertreter bei der Abrüstungskonunkssion in Genf  , erregte durch seinen Borstoß in der Abrüstungssrage Auf- sehen. Sein Vorschlag, bei dessen Begründung er sich auf Präsi- dent Hoover berufen konnte, hinterließ einen starken Eindruck. der älteren Jahrgänge im Lesen und Schreiben unterrichtet werden, wobei die europäische Schrift bekanntlich die arabische völlig ersetzt hat. Wirtschaftlich befinde sich die Türkei  , die in den letzten 16 Jahren unerhört schwer gelitten habe, im Sta- drum des Wiederaufbaues. Insbesondere werde die Moderni- sierung und der Ausbau der Eisenbahnen eifrig betrieben. Immer wieder hob der Außenminister die fortschreitende Curopäisierung der Türkei   unter der Führung desG h a z i' hervor, nämlich Mustapha Kemal Pascha, um den, wie aus den Aeußerungen des Außenministers klar hervorging, ein wah. r e r Kult getrieben wird, ähnlich wie um denDuce" in Italien  . Dennoch dürft« auch die moderne Türkei   nicht nach rein euro- päischen Maßstäben zu messen sein. Diesen Eindruck gewann man, als der Minister auf eine bestimmte Frage das Vorhandensein nationaler Minderheiten in der Türkei   zunächst glatt verneinte, um dann später wieder einzulenken und die Existenz von Griechen und Armeniern wenigstens in Konstantin opel einzu- räumen.»Es gibt heule keine Armenier mehr in der Türkei  ',
war sein« erste Antwort. Wir fürchten, daß er bis zu einen: gewisien Grade leider nur allzu recht hat. Von den Millionen von Armeniern, die früher in der Türkei   lebten, sind«in Teil an die kaukasischen Länder dex Sowjetunion   abgetreten worden, ein weiterer Teil ist ins Ausland und nach Ucberjee ausgewandert, und ein großer Teil ist in den letzten 30 Jahren, nicht zuletzt während des Welt- trieges, einfach massakriert worden. Dennoch dürfte es noch immer nicht unerhebliche Teile des armenischen Volkes in Klein- asien   geben, und die verneinende Aeutzerung des Außenministers ist geeignet, hinsichtlich ihrer Behandlung trübe Bermutun- gen wachzurufen. Da» gleiche gilt für die Antworten, die er. übrigens mit großer Offenheit, auf Fragen erteilte, die die soziale Lage in der Türkei   betrafen. Cr bestätigte die Existenz einer geschriebenen Derfasiung, die auch das Koalitions- und Streikrecht verbürge. Das Vorhandensein von Gewerkschaften bejahte er, ebenso von gewissen sozialen Einrichtungen, aber er schien seiner Sache nicht ganz sicher zu sein. Dem Internationalen Ar- b e i t s a m t sei die Türkei   nicht angeschlossen, sondernnur im Kontakt' mit ihm. Ein« Beschränkung der Arbeitszeit gebe es nicht, zumal die Türken sich darüber sowieso hinwegsetzen wür- den(?). Um den peinlichen Eindruck dieser Feststellungen zu ver- wischen, bemühte sich Tewfik Rirschdi Bei mit vielen Worten dar- zulegen, daß die Türkei  in der jetzige» Generation an Wohlstand nicht denken könne, um durch Arbeit und noch mehr Arbeit die Versäumnisse früherer Jahrhundert« und die Zerstörungen des Krieges wieder gutzuwachen. Demgegenüber vertrauen wir auf die unvermeidliche Folge der übrigens sehr lobenswerten Anstrengungen Kemal Paschas um die intellektuelle Hebung des türkischen Volkes: durch Bildung zur Aufklärung und durch Aufklärung zur politischen und wirtschest- lichen Befreiung das wird der noturnotwendige Weg der neuen Türkei   fein. Di« in den letzten Jahren wiederholt aufgetauchte Frag« de» Beitritts der Türkei   zum Völkerbund bezeichnete der Außen- minister als nicht aktuell. Der Grund oder der Vorwand, den er angab, ist die Frage der permanenten R a t s i ß e, die die Türkei   entweder zunächst abgeschafft sehen möchte oder von denen sie einen für sich beanspruchen würde. Die außenpolitisch» Lage der Türkei   scheint durchaus g e f e st i g t zu sein. Als maßgebend dezeich- nete Tewfis Rujchdi Bei die verschiedenen Freundschaftsverträge mit der Sowjetunion  , mit Persien   usw. Das Irak  - Problem fei ge löst, nur in Syrien   gebe es noch eine mit Frankreich   zu regelnd« Grenzziehungsfrage. A n g o r a habe sich immer mehr als offiziell« Hauptstadt, auch dem Ausland« gegenüber durchgesetzt urnd zähle jetzt 75 000 Einwohner, während es vor zehn Jahren noch nur ein größeres Dorf war. K o n st a nt in o p e l mit seinen SOOOOO Ein­wohnern sei zwar noch immer ein wichtiges wirtschaftliches und intel  - lektuelles Zentrum, aber politisch ziemlich ausgeschaltet. Sehr erfreulich war die Erklärung des türkischen Zivßen- Ministers, daß Trotzt« volles Asylrecht. wie jeder andere Ausländer, in der Türkei   genießen würde und so lange in Konstantinopel   würde bleiben können, wie es ihm dort gefallt. Eine besondere Gefährdung des Lebens Trotzkis, etwa durch die Amvossrcheit ehemaliger weißgardistischer Elemente am Bosporus  , hielt der Außenminister n i ch t für gegeben.