Beilage
Donnerstag, 13. Juni 1929
Der Abend
Shalausgabe des Vorwans
Die Armen von Reichenbach.
Kampf um das Notwendigste.
F. F. Reichenbach ( Eulengebirge), 11. Juni. Ueberall im Aussperrungsgebiet treffe ich eine zuversichtliche Kampfstimmung bei den Tegtilarbeitern an. Sie haben den Kampf nicht gewollt, aber da er ihnen von den Unternehmern aufgezwungen ist, wollen die Ausgesperrten durch balten bis zum Erfolg. Alle Versuche der Kommunisten, mit ihren Kamfpleitungen und Unorganisierten- Parolen die Kampffront zu 3ersplittern, prallen an dem festen Willen der Ausgesperrten ab, treu zum Verband zu halten. In den meisten Orten brachten die Kommunisten nicht einmal ihre Rampfleitungen" zustande. Sie haben hier überall abgewirtschaftet.
Einfommen unter dem Eristenzminimum. Reichenbach ist ein Städtchen von 17 000 Einwohnern. Hier sind über 3000 Tertilarbeiter ausgesperrt. Vor der Aussperrung waren die allermeisten schon auf Kurzarbeit gesetzt. Die ohnehin schon bescheidenen Löhne wurden dadurch unerträglich gesenkt, so daß weibliche Arbeitskräfte bis herunter zu 8 Mart Wochenlohn hatten und die Männer meist nicht über 16 Mart tamen. Kein Wunder, daß mir die städtische Wohlfahrtspflegerin über eine ,, a u f= fallend tiefstehende Lebenshaltung" der Reichenbacher Textilarbeiter berichtet, von der ich dann später bei Besuchen in Wohnungen erschütternde persönliche Eindrücke bekam. Hatte ich in Landeshut und in Peterswaldau schon furchtbare soziale Not an= getroffen, die ich früher für das Schlimmste hielt, was Menschen zu ertragen vermögen, hier in Reichenbach wurde vieles in den Schatten gestellt von der entseßlichen Wohnungsnot, die ich antraf. Die niedrigen Löhne, die starke Heranziehung der Frauen zur Erwerbsarbeit reißt Familien auseinander, drüdt den Gesundheitszustand der Kinder, läßt die Säuglingssterblichkeit ansteigen und bereitet der verheerenden Tuberkulose fruchtbaren Boden. Die Säuglingssterblichkeit ist auch hier über dem Reichsdurchschnitt und beträgt 11 Pro 3. Die Mütter sind oft nicht in der Lage, ihre Kleinen selbst zu versorgen, so daß im vergangenen Jahre von 245 Müttern, die von der Fürsorge betreut wurden, 159 ihre Säuglinge in Pflege geben mußten. Viele Familien sind auf das niedrige Einkommen der Frau gestellt, meil es den Männern nicht mehr gelingt, in der Textilindustrie Arbeit zu bekommen. Nur wenige können auswärts Beschäftigung finden. Oft arbeitet die Frau in der Fabrik und der Mann ist arbeitslos. In solchen Fällen kommt es oft genug vor, daß die Frau in der Fabrik ist, während der Mann die Hausarbeit besorgt und den Säugling pflegt.
Man erschricht über die große Kinderzahl, wenn man die Hungerlöhne der Textilarbeiter fennt. Es ist nicht selten, daß jech zehn und siebzehnjährige Mädchen schon Mutter sind. Das tiefe Elend, in das die Menschen hier versinken, läßt das Triebleben stärker als sonst in den Vordergrund treten und Hemmungen be= feitigen. Schon in jungen Jahren heiraten die Textilarbeiter meist. Sie wollen aus der Enge, aus den drückenden Verhältnissen des Elternhauses heraus und finden es doch nicht besser, wenn sie sich ihren eigenen Hausstand gegründet haben.
Die Tuberkulose ist hier sehr start verbreitet. Leider tann man teine genauen Ziffern darüber bekommen. Haben die behörd= lichen Stellen Angst vor der Höhe der Tuberkulosenzahl, die eine genaue Statistit ergeben würde? Nur soviel war festzustellen, daß in der Sprechstunde des Ortsausschusses zur Bekämpfung der Tuberfulose im letzten Jahr 328 Personen betreut wurden. Aber die Tatsache, daß diese Ortsausschüsse überall im Textilarbeitergebiet bestehen und zahlreiche Einrichtungen zur Tuberkulosebekämpfung.geschaffen haben, läßt einen Schluß darüber zu, welchen Umfang die Proletarierkrankheit hier angenommen haben muß. In der Liegehalle für tuberkulosegefährdete Kinder werden von Mai bis September
( Schluß.)
Am 21. November 1831 rotteten sich die Textilarbeiter der Vorstadt Croix Rousse zu Lyon zusammen, weil die Arbeitgeber die Tarife nicht eingehalten haben. Da Nationalgarde aufmarschierte, fam es zu einem Zusammenstoß. Die Arbeiter eroberten Gewehre und Geschütze. Die anderen Vorstädte schlossen sich am nächsten Tag den Arbeitern an, und bald standen 30 000 Arbeiter im Kampf. Am 3. Dezember rüdten 20 000 Mann Truppen gegen Lyon und besetzten die Stadt.
Am 22. November 1830 verlangten die Weber auf einer politischen Tagung zu Uster , den Betrieb der Webmaschinen einzustellen. Am 22. November 1832 zogen die Spinner und Weber vom rechten Zürichseeufer und vom Oberland nach Uster . Die Berelendung der Arbeiter war grenzenlos. Ein Pfund Brot kostete 1817 so viel, wie ein Spinner in einer Woche verdienen fonnte. Die Arbeiter lebten von Aas, Viehfutter, Kraut und anderem efelhaften Zeug. Die Arbeitszeit betrug 14 Stunden je Tag. Wenige Fabrikanten( 3. K. Escher, Kunz usw.) verdienten Riesenvermögen. Da teine Maßnahmen getroffen wurden, die Verelendung der Arbeiter aufzuhalten, rotteten sich am 22. November 1832 die Weber von der Fabrik Corrodi u. Fister zusammen und steckten das Gebäude in Brand. Fünfundsiebig Arbeiter wurden verhaftet und bis zu 24 Jahren Ketten strafe bestraft.
Die Arbeiterschaft zu Lyon , die elend lebte, war seit 1831 nicht zur Ruhe gekommen. Unruhen im Februar 1834 führten zu einem Vereinsverbot, von dem auch die Hilfskasse der Arbeiter betroffen wurde. Die allgemeine Unzufriedenheit mit dem neuen Thron von Louis Philipp und Prozesse gegen Arbeiter brachte am 9. April einen Zusammenstoß mit dem Militär. Bis zum 13. April waren 1200 Mann gefallen.
Die bekanntesten deutschen Maschinenstürmer stellten jene armen schlesischen Weber, die im Jahre 1844 in die Fabrik von 3wanziger in Peterswaldau eindrangen. Gerhart Hauptmann hat diesen Aufstand in seinen Webern" dramatisiert. Allerdings läßt er nur an einer einzigen, ganz furzen Stelle sagen, daß der mecha.
Aussperrung als Antwort!
jeweils 60 Kinder sechs Wochen lang betreut. Den ganzen Sommer hindurch ist die Halle belegt. Liegefuren wechseln mit Spiel ab. Die Kinder bekommen ein zweites Frühstück, Mittagessen und Besper brot. Abends tommen sie wiede zu den Eltern. Es sind meist schmächtige, schmalbrüftige Gestalten mit bleichen Kindergesichtern. Ich habe sie gefragt, wer von ihnen zu Hause schon gefrüh ftüdt hat. Von den 56 Kindern hoben nur 20 die Hände.
Menschenunwürdige Wohnungen.
Das geringe Einkommen zwingt die Textilarbeiter, die billigsten Wohnungen zu beziehen. Die sind aber oft in einem geradezu menschenunwürdigen Zustand. Nicht vereinzelt etwa, sondern in großer Zahl findet man bewohnte Räume, die kaum mehr die Bezeichnung Wohnung" verdienen. Ein paar Säße aus dem Verwaltungsbericht des Wohnungsamtes zeigen das Entsetzliche dieses Zustandes:
"
Bei Besichtigung durch den Kreisarzt von 116. der schlechtesten Wohnungen im März 1929 find 35 Wohnungen als zum Wohnen völlig unbrauchbar bezeichnet worden, und die übrigen find wegen Ueberfüllung bis 10 Personen und bis 3 Familien in einem Raum sowie wegen Zusammenwohnen mit offentuberkulösen Personen vom gesundheitlichen und fiftlichen Standpunkt aus start zu beanstanden gewesen.
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Wohnhof in Reichenbach.
Hier sind 20 Haushaltungen mit 75 Personen untergebracht.
nische Webstuhl die Schuld an all dem Elend der Arbeiterschaft habe. Hingegen arbeitete Hauptmann den Gegensatz zwischen der fleißigen und genügsamen Weberschaft und der fäbelrasselnden und verständnislosen Behörde, die gegen den Hunger nur zu schießen weiß, lebendig heraus.
Auch das unruhige Jahr 1848 erlebte eine Maschinenstürmung, und zwar in Berlin , beim Bau des Engelbedens, das man in unseren Tagen wieder zuschüttet. Dort war ein Dampfbagger aufgestellt worden, und man hatte eine Reihe von Arbeitern entlassen. Diese tamen über Nacht und zerstörten die Maschine. Noch in der Nacht wurde Militär herangezogen. Als zur Strafe eine Reihe von Arbeitern entlassen werden sollte, fam es zu neuen Unruhen, und Tote und Verwundete blieben auf dem Plan. Die Arbeiter zogen mit den Toten demonstrierend durch die Stadt, um die Belegschaft der Fabrik von Borsig mitzunehmen. Diese Belegschaft blieb aber ruhig. Beim Rückzug der Erdarbeiter gab es in der Innenstadt neue Kämpfe. Insgesamt waren 11 Tote zu beklagen, und dieser Kampf wurde später noch in der Nationalversammlung vorgebracht, es zeigte sich, daß man in der Entlassung weit über den Kreis der Schuldigen hinausgegangen und daß die Erregung der Erdarbeiter deshalb zu verstehen war.
Ich habe die Fälle, von denen ich hier berichte, persönlich fritisch untersucht, und ich habe mich nur auf zeitgenössische Berichte verlassen. In allen Fällen kam der Widerstand gegen die Maschinen also nicht aus einer Feindschaft" der Arbeit gegen den Fortschritt, sondern die Maschinen wurden unsozial auf den Arbeitsmarkt gebracht. Das Märchen von dem Understand der Leute gegen den technischen Fortschritt muß verschwinden.
Daß man eine umwälzend wirkende Maschine anders einführen tann, zeigt seit mehr als 20 Jahren die von dem Amerikaner Owens erfundene, automatisch arbeitende Flaschenblasemaschine. Sie liefert ohne Handreichungen täglich, d. h. in 24stündigem Gang 18 000 Literflaschen oder 25 000 fleinere Flaschen. Im Jahre 1907 beschloß der Verband der Flaschenfabriken, daß die Maschine nur in dem Tempo eingeführt werde, wie die alte Arbeiterschaft aussterbe.
Deuten wir den vollen Erfolg, den man mit Einführung der Owens- Maschine hat, als ein gutes Zeichen, auf daß das Maschinenstürmen der Geschichte angehörig bleibt.
Am
Wenn man sich die Wohnungen der Textilarbeiter ansieht, dan findet man dieses Urteil des Kreisarztes noch recht milde. schlimmsten war es in einem Hof in der Töpferstraße. Ein paar baufällige Häuser mit Ausgang zum Hof, in dem Müll- und Schutthaufen lagern. Ställe und Schuppen sind noch da und ver= stärken den üblen Geruch, der hier die Luft erfüllt. In wenigen Wohnungen sind hier 75 Menschen untergebracht. Die Rattenplage in dem alten Gemäuer ist unerträglich, und das ganze Kazenheer der Häuser wird mit dem Haufen der grauen Biester nicht fertig.
wohnen da neun Personen( zwei Familien). Der Schwiegersohn Auf nicht ganz 23 Quadratmeter Raum( Schlafraum und Küche) schläft in der Küche auf einer Bant, alle anderen im Schlafraum, darunter ein 17jähriges Mädchen und ein 20jähriger Bursche. Die zwei Familien verfügen über fünf Betten, Bettzeug zum Wechseln fehlt. Die Wände sind naß, die Fußböden verfault, nur ein kleines Fenster gibt ungenügend Licht.
Ein anderes Haus: Drei Familien in einer Wohnung. Es sind 10 Personen, darunter ein 16jähriges Mädchen. Immer zwei Personen schlafen in einem Bett.
Auf 15 Quadratmeter Raum finde ich in einer Stube sechs Personen. Drei Kinder schlafen unterm Dach in einem Loch, das den Namen Kammer führt. Es hat dort gerade ein Bett Plaz. Stehen fann man faum. Bei Regen bekommt man eine Dusche gratis. Im Winter können die Kinder dort oben nicht schlafen. Sie werden dann auf die Betten der übrigen Familienmitglieder verteilt. Der Bater schläft auf dem Flur. Vor sein Bett hat er eine Decke gehängt. Auch dieses Bett ist dem Regen ausgesetzt. Es steht direkt unterm Dach.
In einer anderen Wohnung hausen fünf erwachsene Personen in einem Raum von 20 Quadratmeter. Die Dielung ist völlig Derfault. Der Ofen baufällig, fann nicht benutzt werden.. Der Mann zeigt mir ein paar aufgenagelte Bretter auf dem Fußboden. Eine notwendig gewordene Reparatur. Hier war der Mann vor furzem durch gebrochen und hing bis zur Achsel in die Waschküche, die unter der Wohnung liegt. Wird unten gewaschen, dann zieht ein übler Dunst in die Wohnstube hinauf. Bei jedem Schritt wippt der ganze Fußboden. Man wagt taum, träftig aufzutreten.
Und die Kinder?
In den seltensten Fällen verfügen die Kinder über ein eigenes Bett. Sie fchlafen fast stets mit anderen Personen zusammen. Man hat in den Schulen im März dieses Jahres Erhebungen angestellt und dabei ermittelt:
Gesamtzahl der Kinder..
Die ganze Familie in einem Raum
1729
ö
295
265
Die ganze Familie. in 3 wei Räumen ( Der zweite Raum ist meist eine kleine Küche oder winzige kammer.) Zwei Familien in einem Raum
Zwei Familien in zwei Räumen ( Der zweite Raum wie oben.)
•
16
..
16
30
139
Bei einer Teiluntersuchung für 1928 wurden die Schulanfänger, die Zehnjährigen und die Schulabgänger untersucht, im ganzen 802 Kinder. Nur 242 davon waren in gutem Ernährungszustand. 64 litten an Tuberkulose oder waren tuberkulosegefährdet. 106 litten an Wirbelsäulenverkrümmung. 192 standen in ärztlicher lleber wachung.
Die Wohlfahrtspflegerin berichtet mir, daß die Unterbringung der Kinder in Betten oft solcher Art war, daß eingegriffen werden mußte, weil Geschlechtertrennung notwendig war. Das Wohlfahrtsamt mußte des öfteren in solchen Fällen Betten abgeben. Unter den vom Ortsausschuß für Tuberkulosebekämpfung betreuten 328 Personen waren allein 185 Kinder! Darunter fünf Säuglinge und 31 Kleinkinder. Nicht eingerechnet sind hier die Kinder, die nur in der Liegehalle Aufnahme fanden.
Wenn man stundenlang von Wohnung zu Wohnung geht, immer wieder die entsetzlichsten Zustände, Ueberbelegung, Zusammenwohnen
* Wohnung ohne Sonne in Reichenbach.
18 qm für 4 Personen. Die gegenüberliegende Hauswand ist nur 3 m entfernt.
mit offen Tuberkulosetranten findet, die schlechten Löhne und als Folge. davon Unterernährung festgestellt sieht, dann versteht man taum, wie diese Menschen Jahre hindurch solche Zustände ertragen fonnten. Das Elend und die Not sind hier seit Jahrzehnten zur Tradition geworden. Schlimmer fann es auch drüben im Waldenburgischen nicht sein, und die Berichte, die vor einigen Monaten über Waldenburg durch die Presse gingen, haben ganz Deutschland erschauern lassen. Es ist hier bei den Textilarbeitern nicht um ein Haar besser. Und kaum gab es je einen Arbeitskampf, der aus sozialen, gesundheitlichen und sittlichen Gründen mehr Berechtigung hatte, als das, Ringen der schlesischen Textilarbeiter um höhere Löhne.