Beilage
Montag, 24. Juni 1929
Der Abend
Spalausgabe des Vorwäre
Lehrmeisterin Straße
Ein Rundgang/ Von Carl Dantz
schweben und allenthalben das Lied von Sonne, Mond und Sternen erflingt.
Mit dem Tage, wo sich den| deihen bedarf. Je dürftiger die Umgebung, desto lieblicher und reiz- Säulen der Papierlaternen durch das Halbdunkel der Straßen Sechsjährigen die Pforten der voller erscheint es. Schulen auftun, tritt die Welt der Straße, die ihnen bis dahin einziger Erlebniskreis war, mehr und mehr
in den Hintergrund. Ein anderes, oftmals hartes Gesetz regelt nun den Tagesablauf, und das hemmungslose Sichergehen der Sinne, das planlose Entdecken, Herumstrolchen und Spielen hat ein Ende.
Das gehört hier nicht her!" wehrt der Lehrer oftmals dem findlichen Mitteilungsdrang, wenn mitten im ernsten Unterrichtsgespräch ein Erlebnis der Straße nach milligen Ohren sucht.
" Sowas habt ihr natürlich bloß von der Straße mitge bracht," tadelt die Mutter, wenn ihr Kind im Hause einmal ungehörige Ausdrücke gebraucht.
Die Straße ist eine Lehrmeiste rin von nicht zu unterschätzenden Fähigkeiten, das ist gewiß. Berdient sie aber den schlechten Ruf, wie er in diesen und ähnlichen Urteilen zum Ausdruck kommt? Die Kinder lieben die Straße, und die Straße liebt die Kinder. Wenn wir diesem innigen Gefühlsverhältnis einmal auf den Grund gehen wollen, dürfen wir nicht in die herrschaftlichen Biertel gehen, wo die vornehmen Häuser in gepflegten Vorgärten stehen. Wohl möchten die grünen Bäume und Rasen, der glatte Asphalt, die ungestörte Stille zum Verweilen und Spielen einladen. Aber niemals sieht man hier ein Kind oder eine Kindergruppe beim Spiel, fein Kreisel hüpft, fein Ball fliegt. Hier ist, trotz aller leppigteit, nicht der Boden, auf dem das zarte Pflänzchen Kinderspiel gedeiht.
Wir müssen schon in die volfreichen Biertel gehen, wo die Straße ihre mühsal- und fummergefurchten Züge zeigt, wenn wir ihr Verhältnis zu den Kindern beobachten wollen. Aber auch hier bietet sich ihr eigentümliches Leben, das sich unentwegt auf Pflaster und Steinplatten zwischen Häusermauern abspielt, nicht auf den ersten Blick dar. Allzulaut und wild tobt der Berkehr, allzu dicht drängen sich die Menschen zusammen, allzu aufdringlich prunken die Schaufenster.
Erst in den Seitenstraßen, den Höfen und Gängen, erst in den trostlosen Borstadtpiertein der Mietstasernen sind die Bedingungen erfüllt, deren das Kinderspiel zum Wachstum und Ge
Die Murmel im Kellerloch
Im Luxusexpreß
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Donnernd und vom rosigen Lichte der Berge und der Gletscher triefend, rollte der Lurusexpreß Berlin- Rom in die dämmernde Halle des Münchener Hauptbahnhofs ein. Die Reisenden aus dem Süden verließen die Waggons, tänzelten über die steinernen Pflaster und hatten ihre Füße noch nicht in Gewalt. Auch ihre Herzen schwärmten noch von paradiesischen Landschaften. Aber die Leute mit den Tanzschritten wurden bald ehrbar und bürgerlich, als sie die ersten Polizisten und die ersten Bierbäuche ihrer Heimat entdeckten. Plötzlich hatten sie ihre Füße und auch ihre Herzen wieder in der Gewalt. In Deutschland muß man anders laufen als im Süden am Meer oder unter schwarzen 3ypressen. Ja, nun waren fie wieder in Deutschland , und sie feufzten ein wenig und atmeten wollüstig. Vielleicht dachten sie an die filbernen Wände der nahen Alpen, an die gläserne Stille der Lärchenwälder, an den heftigen Donner der Sturzbäche und Wasserfälle, an die eisblauen Spiegel der umblühten Bergseen.
Hier ist Grün und da ist Grün unter meinen Füßen...
fingen die fünf- und sechsjährigen Mädchen mit einer Andacht, als ob ihre bloßen oder in zerrissenem Schuhwerk steckenden Füßchen wirklich über weiches Gras statt über tahle Steinplatten dahingingen. Dornröschen war ein schönes Kind...
flingt es aus einem Torweg heraus. Auf den Stufen einer Mietsfaserne wird ,, Schule" gespielt ,,, Mutter und Kind" haben sich in einem Kellereingang häuslich eingerichtet. Selbst die rechteckigen und so regelmäßig versetzten Steinplatten des Bürgersteigs find nicht zu gering und erscheinen für das Hinkepinke" der hüpfenden Kinder wie geschaffen.
Wie aus einem unerschöpflichen Born sprudelt die Fülle der Spiele und Lieder hervor. Keiner hat sie den Kindern vorgesungen oder vorgemacht, aber alle kennen sie sie von Anfang bis zu Ende,
Wer's errät, bekommt den Ball!
mit Wort und Weise und Bewegung. Die Straße selbst ist die gütige Mutter, die um all diese Dinge weiß, und die nirgends so öde, so armselig ist, als daß sie ihre Kinder nicht ein frohes Lied oder Spiel zu lehren vermöchte.
Alles Kinderspiel der Straße scheint sich nach einem vorgeschriebenen Ablauf zu vollziehen, so regelmäßig wiederholt es sich in seiner Aufeinanderfolge, jahraus, jahrein. Kein Mensch weiß von einem solchen Spieltalender, tein Kind hat ihn im Kopfe; aber irgendwie im Blut muß er doch vorhanden sein. Wenn die Märzfonne cauf die Dächer scheint und das Ameisenvolk der Kinder aus dem Bau lockt, dann ist es eine umumstößliche und durch Urväterbrauch bestätigte Gewißheit: Jetzt ist die Zeit, Kreisel zu schlagen, jetzt sind die Ballspiele an der Reihe, dann wird Tau gesprungen, dann Marmel gespielt.
Hin und wieder macht die Industrie einen Borstoß in den Spielbereich der Straße, um mit dem kleinen Volk Geschäfte zu machen. Aber mit ihren Rollern, Holländern, Stelzen und Hopsern fann fie auf feinen Massenabsag rechnen; immer find es nur die Wenigen, Bessergestellten, die hier einmal zulangen. Die Menge der übrigen bedarf solcher fünftlichen Belebungsmittel des Spiels nicht. Schöner als der gußeiserne Reifen aus dem Geschäft ist die Fahre radfelge vom Schuttberg, künstlicher als Stelzen sind die Konservenbüchsen, die man mit zwei Schnüren versieht und damit das Dosen laufen übt.
Die heißen, hellen Tage zeigen im Spieltalender feine beson deren Ereignisse. Dann aber folgt um die Zeit der dämmerigen Abende das Laternenfest, das fein Kind an sich vorübergehen läßt. Zu schön ist es doch, wenn die farbig glühenden Kugeln und
mehr, die Technik des Fahrens, in diesem Falle in einem Lurus expreß, am eigenen Leibe auszuprobieren. Also löste er lächelnd eine Zuschlagfarte bis zur nächsten großen Stadt und nahm sich vor, diese Mehrausgabe durch Berwässerung und Streckung seiner Auffäße über die Technik herauszuschinden.
Er raste zum Fahrkartenschalter zurück, passierte dann wieder die Sperre und machte es sich in einem der langgestreckten italienischen Wagen bequem. Auch am Fenster zeigte er sich, als gehöre er zu jenen fühnen Passagieren, die eben über die Alpen gedonnert
waren.
Die Fensterplätze waren von zwei Herren belegt, an denen George Grosz sein höllisches Bergnügen gehabt hätte. Der Hals des einen Reisenden, er wurde mit„ Herr Geheimrat" angesprochen, war nichts als ein faltiger Sack, der vom Kinn abwärts schlotterte. Der Zug setzte sich in Bewegung. Die beiden Bassagiere begannen ein Gespräch über bildende Kunst und lobten die Arbeiten cines be= kannten Tierbildhauers begeistert. Bald aber brach das lichte Gewölbe der Kunst haltlos zusammen. Der Mann mit dem Hals wie ein Sad enthüllte sich als Vortragender Rat im Ministerium für die Landwirtschaft und der andere, das hörte Hammer auch heraus, war ein großer Gutsherr und Viehzüchter. Auch diese Männer waren in München eingestiegen. Ihr Gespräch plätscherte zwischen Biehpreisen und Rasensport bald alltäglich hin und her.
Der Reporter Karl Hammer war vier Tage schon in München und größenwahnsinnig geworden. Er sollte über das Deutsche Museum Berichte schreiben, und als er endlich nach mühseligen Italienische Heimkehrer hatte Hanmer schon auf dem HauptIrrgängen das fühle Wunder der Technik begriffen hatte, den technischen und soziologischen Aufbau der Menschheit über der geologi bahnhof gesehen, ihre Tanzschritte und ihre Erftarrung, aber jetzt schen Schichtung der Erdrinde, da lief er viele Tagstunden durch alle gelüftete es ihm nach dem Anblick der Glücklichen, die auf der Fahrt Räume des schönen Hauses an der blauen Isar und ruhte nicht nach dem Norden waren. Er verließ sein Abteil, wanderte den eher, bis er von all den eisernen und eisklaren Wundern der schmalen Fenstergang entlang und fand am Ende des Wagens im Technik vollkommen überzeugt war und den Beruf des Technikers legten Abteil zwei Heimkehrer. eine schöne, alte Dame mit ihrer oder Chemikers ebenso reizvoll und berauschend fand wie den Beschönen, jungen Tochter. Sie lehnten sich tief in die Polster, schliefen mit offenen Augen so sehr waren sie noch bei den weißen ruf des Reporters, der sich ja auch aus Bruchstücken eine ganze Göttern, blauen Meeren und schwarzen 3ypressen und das Welt erbauen fann. schöne Mädchen preßte einen Strauß gelber Rosen auf ihre Brust. Der Duft der gelben Rosen wehte bis auf den Gang.
Sein gelinder Wahnsinn hatte sich bald gelegt. Der Reporter stand nun, als der Berlin Rom- Expreß in die dämmernde Halle des Hauptbahnhofes einlief, auf dem Berron und wollte nach Ber lin zurüdfahren. Und da beschloß er in einer lichten Sekunde, nicht nur über die Technik an und für sich zu schreiben, er beschloß viel
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Hammer wußte, daß jezt in Berlin immer noch zweihundert tausend Menschen keine Arbeit hatten. Er fam ja selbst aus einem Proletarierviertel und kannte die bleichen Gesichter und armen
Das Drachenfest um die Zeit der frischen Herbstwinde hat zu ernsten Zusammenstößen mit der Polizei geführt, die sich nicht davon abbringen läßt, daß die Straße dem Fuhrwerk und die Luft dem Telephonverkehr gehört. So stirbt innerhalb der Straßen der Stadt der Kinderdrache genau so aus wie einst sein großer Borgänger, der nur noch im Bereich der Fabel lebt.
Die alten Leute, die heute beobachtend durch die Straßen gehen, werden zu dem Treiben der Jugend manchmal den Kopf schütteln: Wir haben das alles anders gespielt und gesungen. Es ist so viel neumodischer Kram dabei. Und Jungen und Mädchen durcheinander? 3u unserer Zeit schickte sich das nicht.
Sie rühren damit, ohne es zu wissen, an die geheimen Wurzeln aller Spielbetätigung. Ganz gewiß steden in den Spielen vom Urbär, Fuchs aus dem Loch, Schwarzer Mann uralte Ueberliefe= rungen; ebenso selbstverständlich ist es aber, daß die Entwicklung auch an diesen Dingen nicht vorübergeht, daß neue Formen, Spielarten im wörtlichen Sinne entstehen. Hier wirken sich ja die schöpferischen Kräfte aus, die in jedem Menschen lebendig und besonders im Kinde noch ungehemmt und von der Verstandesfultur der Schule noch unberührt sind. Was Wunder, daß jede Zeit genau wie jeder Ort ein eigentümliches Spielgesicht trägt, daß auch unsere Gegenwart mit Operettenschlagern, Eisenbahn, Auto und Flugzeug den Stoff für irgendwelche Spielgestaltung hergeben muß. Reine schwerwiegenden intellektuellen Erkenntnisse sind es, welche die Lehrmeisterin Straße ihren Schüßlingen vermittelt. Eine gute und echte Proletariermutter ist sie, die ein ganzes Heer von Kindern zu betreuen hat und nicht auf jedes einzelne besonders Obacht geben fann: Geht mir und spielt, und laßt mich in Ruhe, ich habe den Kopf voll anderer Gedanken!
Und dies sind ihre Lehren:
Nehmt das Sonnenplätzchen, wo ihr es findet. Sind schon Rinder dort, vertragt euch mit ihnen. Faßt euch zum Kreise an, singt und tanzt. Hinkt und hüpft, lauft und springt. Seid aber nicht ungestüm, damit die fahrenden Wagen euch nicht ereilen. Ob ihr fein gekleidet oder ärmlich, gescheit oder einfältig seid spie len und fröhlich sein tann jedes von euch. Unartig ist nur der Spielverderber, der sich nicht einfügen mag: den laßt nur schmollend am Saumstein sizen.
Wir alle haben später in Werkstelle, Fabrik oder Lehrsaal größere und wichtigere Dinge gelernt als damals, als wir mit den Nachbarstindern Ringelrangelrosenkranz spielten. Es ist aber niemand unter uns, der nicht mit heimlicher Sehnsucht an die gute Lehrmeisterin der Jugend zurückdächte. die ihm aus Staub und Steinen das Glüd der Kindheit erblühen ließ.
Schiffahrt ist not!
| Figuren der kleinen Mädchen und müden Frauen ganz genau. Wo blühen in den Berliner Arbeiterquartieren die Rosen? Wo strahlt und lächelt da das Glück, wo rauscht das Meer, leuchten die Himmel, mufizieren die Schönheiten?., Acht und neun Stunden Arbeit in dunstiger Fabrik, und dann vielleicht am Abend im Kino der verlogene Abklatsch einer verkitschten Welt!
Das schöne Fräulein mit den Rosen schlug die Augen auf und blickte den kleinen Reporter an, als hätte sie seine Gedanken gelesen. Da drehte er sich um und starrte durch die blanten Scheiben in die Felder und Wiesen hinaus, die geschwind anrollten und eben so geschwind zurückblieben.
,, Natürlich," dachte er, natürlich, das hier. ist ein Lugusexpreß, er hat nur erster und zweiter Klasse, jawohl, aber wir sind auch eine Klasse und haben die Plätze für Hölle und Himmel belegt. Unser 3ug hat sich schon in Bewegung gesetzt, die Räder blänkern auf blantes Eisen, die Signale, die roten Signale sind aufgezogen, und einmal, da fahren auch die Hinterhöfe und die Keller, die blassen Mädchen, die franken Frauen, die hungrigen Kinder, die erschöpften Arbeiter alle an das Meer, an die grüne Ostsee, an die Azurküste Schließlich ist das doch alles nur eine Angelegenheit der Technit, der Technik des Glücks und der Technik der Be
wegung
Dann drehte sich Hammer schnell um und sah der schönen, jungen Dame fühl ins Antlig und starrte sie an, bis sie verlegen die Augen abwandte. Dann lächelte er und ging nach seinem Anteil zurüd. Dort plätscherte immer noch das Gespräch über preisgefronte Ochsen und fabelhafte Rennpferde, als ob die Expreß- und Lurus. züge für alle Ewigkeit fahren würden.
Die Schienen flirrten.
Hammer sah die silbernen und grünen Felder liegen und fliegen, die runden Hügel, die blauen Wälder, die breiten, waffertragenden Täler. Ja, er fuhr heute im Licht( wenn auch in diesem Expreß nur bis zur nächsten großen Station), aber auch das muß gesagt werden: der kleine Reporter wog auf der unbestechlichen Wage des Lebens
mehr als der Herr Geheimrat oder sein Gefährte, der Viehzüchter, er mog mehr, der junge Hammer, weil er noch sehnsüchtig war, noch fampfbereit, und weil er wußte, daß sich der Zug der Mit lionen in Bewegung gesezt hatte.