Nr. 471* 46. Jahrgang
1. Beilage des Vorwärts
Oienstag, S. Oktober 1929
Durch di« gewallige Ausdehnung der Fabrikationsstätten und Be- triebe in Siemensstadt , die hauptsächlich in Richtung Norden erfolgte, erwies sich der einzig« BahnhofFürstenbrunn bald nicht mehr ausreichend. Auch der Bau von Straßenbahnen nach Spandau und C h a r l o t- t e n b u r g genügte nicht bei dem ständigen Anwachsen der in Sie- mensstadt beschäftigten Belegschaft. Der Plan einer Verlängerung der Untergrundbahn vom Bahnhof Wilhelmplatz nach Sie- mensstadt scheitert« an den zu hohen Kosten: außerdem erwies er sich als unzweckmäßig, da»ach statisti- fchen Feststellungen der größte Teil der Arbeiter in den n ö r d- l i ch e n Stadtteilen wohnt. Man entschloß sich also, eine choch- bahn anzulegen, di« am Bahnhof Jungsernheid« von der Ringbahn abzweigt und über Siemensstadt bis Gartenseld führt. Zweimal wird die Spree überbrückt:«rst nach der Ueberkreuzung des Siemensdammes wird die Bahnlinie, die bis hierher auf Viadukten führt, auf Erddämmen weitergeleitet. Eine groß« Brücke von 70 Meter Spannweite führt über den zukünftigen Verbindungskanal zwischen Spree und West- Hafen und eine Brücke von S2 Meter über die verlegte Spree. Durch Geländeaustausch mit der Stadt wurde gleichzeitig die Durch- führung einer großen Aussall st raße von Westend über Sternfeld nach Spandau und Hennigsdorf gesichert. Durch den Bau dieser Bahn, die für elektrischen Betrieb eingerichtet ist, wird nicht nur den in Siemensstadt beschäftigten Arbeitern«in« schnelle und bequeme Verbindung mit ihren Heim- stätten geschassen, auch einem Großteil der Berliner Bevölkerung wird sie namentlich an Sonn- und.Feiertagen
zugute kommen und sie rasch aus dem Häusermeer bis an die Grün- flächen des Tegeler Forstes und an die Ufer des Tegeler Sees bringen. Drei Bahnhöfe stehe» vor der Vollendung: der erste Bahnhof für die Wernerwerke und das Wohngebiet am Siemens- danmi, der zweite, oben abgebildete, liegt in unmittelbarer Nähe des HaupKerwaltungsgebäudes und der größten Werk« auf der Kreuzung über dem Rohrdamm auf 70 Meter langen Brücken zwischen den beiden Betriebsgleisen. Auf jeder Seite des Rohrdammes befindet sich eine geräumig« Eingangshalle, von der breite Treppen auf den Bahnsteig führen. Während der west- liche Eingang kein« Fahrkartenausgabe besitzt und nur während der Schichtwechfelzeiten geöffnet ist, dient der dauernd geöffnete östliche Eingang dem Fahrkartenverkauf und dem Verkehr auf der Mitte des Bahnsteiges. Das für die Triebstromversorgung notwendige Gleichrichterwerk ist zwischen Bahnhos und Siemens-Sport- platz errichtet worden. Der dritte Bahnhof liegt am Saat- winklerdamm in Hafelhorst. Unser Bild vermittelt einen Eindruck von der schwungvollen Brücken- und Bahnhossarchitektur dieser neuen Bahnlinie.
Autoruf kommt wieder Termin für die Inbetriebnahme voraussichtlich I.November Nachdem durch die Bürgschaftsübernahme der Stadt die Fman- zierung des lange Zeit stillgelegten Berliner Autorufs und damit die Wiederinbettiebnahme gesichert erscheint, haben in der letzten Zeit bereits umfangreiche Vorbereitungs- und Crneuerungsarbeiten stattgefunden. Mit der Wiedereröffnung der Autorufanlage ist am 3. November zu rechnen. Während die Zentrale des Autorufs in der Mark- grafenstraße in der Zwischenzeit eingehend renoviert und h-ruptfächfich die Kabel und Anfchlüsie einer Nachprüfung und Aus- defferung unterzogen worden sind, Hot auch die O b« r p o st d f r e. k- t i o n. von der die Autorufgesellschaft das«ußenliegende Kobelnctz gemietet hat, die Leitungen nachsehen lassen. Die Auto» rufsäulen.die sich zum Teil in einem recht verwitterten Zustand befinden, werden in den nächsten Wochen ebenfalls durch Techniker revidiert und außerdem mit neuem Anstrich versehen werden. Die Autorufgesellschast will am 1. November den Bettieb mit 366 Säuleu in Groß- Berlin aufnehmen, während«ine Reihe weiterer Säulen, die nach einer aufgelegten Statistik nicht genügend benutzt wurden, an bester« Berkehrspunkte verlegt werden sollen. Außerdem wird der Autoruf auch weller auf die Außenbezirke Köpenick , Zehlendorf und Wannsee ausgedehnt werden. und zwar will man dort Säulen aufftellen, die nach dem direkte» System über das Fernsprechamt selbst angerufen werden können. Der Ausbau des Autorufs, dem bekanntlich zur Erzielung einer besseren Rentabilität ein Arzt- und Botenruf sowie die
Fundstelle für das Groß-Berliner Droschken- ge werbe angegliedert werden soll, wird, wie wir erfahren, noch im Laufe dieses Jahres erfolgen. Die Direktion der Autorufgefell- fchaft nimmt an, daß der von der Berliner Bevölkerung lang ent- behrt« Autoruf, besonders jetzt zum Winter, wieder stark benutzt lverden wird.___ Berlin hat bald-100000 Autos. Zurzeit SM 40 Kraftfahrzeuge. Die Aufwörtsdewegung im Bestand« der Kraftfahrzeug« in Groß-Berlin Hot auch im Monat September angehalten. 3hr« Zahl ist in einem halben Jahre um 10000 Exemplare gestiegen. Sie betrug am 3. März 82334, am l. April 8S840. am 3. Mai 89130, am 1. Juni 93 482, am 3 Juli 94 398, am l. August 96 294, am 1. September 97 678 und am 1. Oktober 98 140, das find im letztenMonot462Stück mehr. Don den 98 340 Kroftfahrzengen entfallen auf Personenkraftwagen(einschließlich Kraftdroschken und Omnibusse) 44 446(44 220), auf Lastkraftwagen 16 702(16 530), auf Krafträder 23 330(23 370) und auf die Kleinkrafträder 13 662(13 558). Di« Zahl der Kraftdroschken ist nach der Vereinheitlichung des Tarifs weiter gefallen und zwar von 9028 auf 9015, die Zahl der Kraftomnibusse ist dagegen gestiegen und zwar von 744 auf 748. Die Zahl der Pferdedroschken nimmt von Monat zu Monat weiter ab. Sie betrug am 3. Oktober nur noch 165(169). Von den neu zugelassenen 1951(2714) Kraftfahrzeugen sind 504(962) deutsche und 510(560) ausländische Personen-
krastwagen, 238(454) deutsche 170(131) ausländische Lastkraftwagen, 469(Sil) deutsche und 60(96) ausländische Krofttäder. Von den 1480(1641) gelöschten Fahrzeugen entfielen auf Personenkraftwagen 779(883), auf Lastkraftwagen 236(305) und auf Krafträder 465(453).
Schiffskatastrophe bei Ifarwegen. Toorifiendampfer gesunken.— Große Anzahl Tote. O ö l o, 7. Oktober. An der norwegische« Westküste hat sich in der Nachr zum Montag ein schweres Schiffsunglück ereignet, bei dem etwa 2 5 Menschen, nach einer letzten Meldung sogar 33 Menschen nms Lebe« gekommen sind. Eine ander« Meldung spricht jedoch nnr von 37 Toten. Der Küstendampfer„Haakon VII " stieß am Sonntag um 23 Uhr bei Florö(zwischen Bergen und Alesund ) auf Grund und ging wenige Minuten später unter. Ungefähr 70 Fahrgaste befanden sich a n B o r d. Da die meisten erst kurz vorher auf das Schiff gekommen waren, laßt sich die genaue Zahl der Opfer noch nicht angeben. 3 4 Fahrgäste wurden gerettet, darunter alle der lll. Klasse. Bon der Besatzung werden neun Mann vermißt. Ter Kapitän wurde gerettet, ist aber so erschöpft, daß er noch keine Erklärung über das Unglück geben konnte. Er befand sich, als das Unglück erfolgte, auf der Kommando- brücke. Das Schiff erhielt ein großes Leck und sank sofort. Eine halbe Stunde später kam der norwegische Dampfer„Arnfinn Jarl" und stieß etwa 500 Meter von der Stelle entfernt, wo„Haakon VII " untergegangen ist, gleichfalls auf Grund.„Haakon VII " ist durch seine Touristenfahrten von Reweastle nach West-Ror- wegen her bekannt. Der Dampfer war 3 007 in Tront- heim gebaut und ist 1300 Tonnen groß. Zwei deutsche Dampfer auf Riffen. Wie aus C o l o m b o gemeldet wird, sind die Versuche des Schleppdampfers„Herkules", den Hapagdampfer„Höchst", der seit längerer Zeit bei den Minika-Jnfeln auf einem Riff aufsitzt, abzuschleppen, bisher ergebnislos geblieben. Mittler- weile ist ein zweiter d e u t sch« r Dampfer„L a u t« r s e l s" bei demselben Versuche, di«„Höchst" von dem Riff abzuschleppen, auf ein anderes Riff aufgelaufen und dabei beschädigt worden. Die„Lautersels" ist ein 6310-Tonnen. Dampfer, wurde 1921 erbaut und gehört der„Hansa " in Bremen . Unfall eines deutschen Schulschiffes. Bremen , 7. Oktober. Das Schulschiff„Deutschland " des Deutschen Schul- schiffoereins hitre bei Goudwin-Sand mit dem französischen Dampfer .Louis Mercerier" einen Zusammenstoß, dei' dem da» Schulschiff oberhalb des Wassers ay der Back leicht beschädigt wurde. Das Schiff kehrt jetzt nach Bremerhaven zurück. Bom Fahrstuhl erdrückt. Gestern ereignete sich in einem Fabrikgebäude am Elifabethufer 5/6 ein schwerer Unglücksfall Im zweiten Stockwerk war der 38jährige Fritz R e i n e l t aus Neukölln, Kolonie Vogelfang, mit Molerarbeiten beschäftigt. Er lehnte sich dabei am fahrstuhlfchacht aus einem Fenster hinaus und übersah, daß der ahrstuhl plötzlich in Bewegung gefetzt wurde. Reinelt geriet mit dem Kopf zwischen Fahrstuhl und Schacht- wa nd und wurde schwer verletzt. In bcwußnoiem Zustande wurde er in das Krankenhaus am Urban übergeführt,' wo er wenige Minuten nach seiner Aufnahme st a r b.
Es soll eine Trage mit vier Krankenträgern in den sin- kenden Abend hineinziehen. Sie gehen gern, sie ahnen zwar nicht, an welchem Fleck sie mit dem Patienten werden landen können, aber sie entfernen sich wenigstens ins rückwärtige Gebiet. Der Lorenz hat einen seltsamen Wunsch zum Abschied. „Wo ist denn der— der rechte Arm— der meinige?" fragt er leise.''. „Ah, den haben wir weggetan, der ist— nicht mehr da, schon unterm Boden," lügt der Oberarzt. „Und der Ring?" fragt der Bauer ängstlich.„Da war ein Ring am vierten Finger, von meintzr Frau—" sagt er mit erhobener Stimme in beginnender Empörung.„Schon unter der Erde, Herr Oberarzt? Ein Stück von mir hat man also schon begraben, stückweise begräbt man mich-. Er beginnt haltlos zu greinen, aus Schwäche, aus körperlicher und seelischer Not. Der Arm, mitsamt dem Uniformstück, liegt unverscharrt hinter der Baracke. Niemand hat sich mehr um ihn ge- kümmert, man hat ihn nur aus den Blicken dessen geräumt, von dem er herstammt. Funk tuschelt dem Oberarzt, das Glied fei noch unverdeckt. Der Stabsarzt sagt laut:„Lorenz, Sie müssen sich nicht auf- regen. Es ist ja olles gut. Der Arm ist noch da. Ich Hube nur gesagt, er ist schon versorgt und verschwunden, damit Sie beruhigt sind. Gleich bekommen Sie Ihren Ring." „Ich will den Arm noch einmal sehen," bittet der Bauer tonlos. „Wozu? Was Sie da sehen würden, ist doch unbrauch- bares Zeug geworden, Lorenz." „Ich will den Arm noch einmal sehen," beharrt er. Dr. Eggebrecht winktz mit dem Kopfe Funk heran, der zögernd halb hinter der Baracke steht. Der Arm wird gebracht. Funk wundert sich, wie schwer
und„tot" er ist. Wie leicht ist ein Arm. der sich lebend auf dich stützt, wie leicht eine Hand, die sich dir reicht! Bor des Lorenz' Augen zieht Funk den Ring vom kalt- klebrigen Finger. Das scheint verzwickt: hier liegt der Bauer — und dort ist des Bauenz eine Hand. Es ist, wie wenn er so jetzt weiter reiche als je zuvor. „Servus— ," sagt Lorenz und streckt die Linke aus. Er drückt mit ihr die ehemalige Rechte. Funk kämpft mit einer Erschütterung, die sich durch Ge- lächter Luft zu machen droht. Welch«in Vorgang: er muß einem Menschen einen Arm hinhalten, damit er von sich selber — oder wovon— Abschied nehmen kann. Während Lorenz auf der Trage über einen Acker ver- schwindet, kratzt und stochert Funk mit dem Seitengewehr ein Loch in die Erde und wirst das Ueberbleibfel hinein. Es naht die Nacht. Sie haben Glück mit ihr. An Esten erhallen sie zwar nichts, wo wären Feldküchen zu finden, ober die Stunden verlaufen ruhig. In den kleinen Graben geschichtet(niemand will die Baracke auffuchen), frierend, doch unbehelligt vom Feind, gegen Morgen durchtränkt von feuch- tem Nebel, der in letzten Augusttagen schon herbstlich einsetzt, sind sie zufrieden, wie es einer ist, dessen Wünsche längst auf das Kümmerlichste beschnitten sind. Die Sonne bricht nicht durch. In dicken weißlichen Dunst ist sie verpackt. Recht so: auch die Kanonen werden verpackt bleiben. Es ist wohl ein Trost nur für Stunden— aber lebt man denn anders als von der einen auf die nächste? Sie lungern umher. Sie warten— darauf, daß sie weiter werden warten müssen. Die große Wartezeit ist noch nicht vorbei. Ein Säckchen Zwieback wird verteilt. Einige versuchen, von dem vorgefundenen Krautgeschnitzel eine Handvoll zu kauen. Jemand macht ein kleines Feuer, um zufammenge- schüttete Kaffeereste im Blechkessel zu wärmen, einige haben Tee in der Feldflasche— tut nichts, er wird dazugegossen, so wird es mehr. Da tauchen aus dem Nebel Gestallen auf, aus der Rich- tung der vordersten Linie. Wer kommt? Man ist bei den schattenhaften Umrissen im Zweifel. Aber an den zerlumpten, müden, ganz unmilitärischen Figuren erkennen sie bald, daß es welche von den Ihren sind. Ein Trupp, der leichte Maschinengewehre über den Achseln trägt. Sie wollen vorbei, ohne etwas zu sagen, fast ohne Gruß. Sie scheinen nicht gestört werden zu wollen. Am liebsten täten sie wohl so, als seien sie gar ntcht zu sehen.
Dr. Eggebrecht stellt sie.„Wohin lauft ihr? Wo kommt ihr her?" Sie bremsen widerwillig ihren eiligen Trott. Einer von ihnen spricht mit unlustiger Stimme. Bereitschaft zur Wider- setzlichkeit klingt auf. Er sagt nur zwei Worte:„Bon vorn." „Habt ihr Befehl, zurückzugehen?" „Da ist niemand mehr, der Befehle gibt. Wir haben unfern Leutnant verloren. Er wird im Nebel hinüber sein zum Tommy." „Ihr seid Schufte. Augenblicklich dreht ihr um, geht dorthin, von wo ihr davongeschlichen seid und haltet die Linie weiter." Der Arzt zieht den Revolver aus der Ledertasche. Die Mannschaft verständigt sich durch Blicke.„Wir haben zwei Tage nichts zu fressen bekommen," revoltiert ihr Sprecher.„Wir dürfen nicht schlafen, wir sind krank. Wir können nicht mehr." „Ihr mögt nicht mehr. Ihr seid Feiglinge und Vater- landsoerräter." „Es stimmt, Herr Oberarzt, wir mögen nicht mehr. Der Engländer ist unterwegs, er kommt, links von uns soll er schon durch sein, er ist uns auf den Fersen. Wenn kein Nebel war', könnt' man ihn bereits sehen." „Ist das wahr?"— Der Oberarzt erschrickt und zaudert, er steckt die Waffe zurück. Was soll er tun, er ist über die wahre Lage völlig unorientiert. „Das ist gewiß wahr. Wenn der Herr Oberarzt nicht geschnappt werden will, gehen Sie am besten auch nach rück- wärts. Es gibt nix anderes mehr." „Aber ihr könnt doch nicht einfach davonschieben, ohne auf Befehle zu hören." „Vielleicht ist der Befehl da. Er muß eigentlich da sein. Links und rechts von uns war nichts mehr. Wir haben die Verbindung verloren." Der Arzt verstummt. Er weiß nicht, was er sagen, was er unternehmen soll. Er starrt in den Nebel, er horcht— er starrt und horcht vergebens, es wird ihm keine Botschaft zu- getragen. Der Sprecher der kleinen Schar sieht das Nachgeben des Borgesetzten— eines Arztes obendrein, der ihm doch taktisch nichts zu sagen hat, er wird sicherer.„Vor gehen wir nicht wieder. Es ist grab' genug, daß wir uns mit diesem Ge- lump da abschleppen. Am besten täten wir's liegen lassen." Di« anderen nicken zustimmend, sie meinen die Maschinen- gewehr«. (Fortsetzung folgt.)