Einzelbild herunterladen
 

7lr. 608* 46. Jahrgang

*1. Beilage des Vorwärts

Sonntag, 29. Dezember 4929

Don Zeit zu Zeit verlautet, daß die jungen Mädchen in den Verkaufsgeschästen in der Zeit des Dichtbeschäftigtseins sich setzen dürfen". Wer daraufhin eine Kontrolle ausübt, wird kehr ent- täuscht von der Wirkung dieser Ankündigung seinman" steht nach wie vor, ein unsichtbarer Geist des Stehzwanges scheint in den meisten Geschäftsräumen Herrschergewalt zu besitzen. Täglich acht Stunden. Betrachten wir mal das Stehen von einem ganz natürlichen Standpunkt. Der Mensch steht auf zwei Beinen, das entwickeltere Tier aus vieren. Nur ein ganz kleiner Teil von ihnen ist zu einem dem Douerstehen ähnlichen Verhalten verurteilt: die Kühe in den Kuhställe» die Pferde, die nicht täglich Dienst tun, sind dagegen wohl zu zählen. 3 eben falls findet ein ähnliches Martyrium von erzwungenem oder freiwillig geleistetem Stehen von täglich etwa S Stunden in der Tierwelt nicht statt. Daß die gesundheitliche Seite der Stehfrage oft erörtert worden ist, darf als bekannt vorausgesetzt werden gerade für Frauen ist das Stehen mit großen Gesahren verbunden. Wer Soldat gewesen ist, weih, wie lästig dos Umher- stehen auf dem Kasernenhof oder auf dem Paradeplatz empfunden wurde Besichtigungen oder Parademarsch vor demObersten Kriegsherrn" hatten ihre Schrecken hcruptfächlich in dem Bewußt- fein, vor dem Erscheinen der Herrschaften die Strapazen eines tatenlosen Ausenthaltes auf knapp bemessenem Raum durchmachen zu müssen. Meist halle man nur soviel Platz, daß nianvon einem Fuß auf den anderen" treten konnte. Man hat die Schaffner von Omnibussen und Tramwagen oft bemitleidet, daß sie für Stunden keine Sitzgelegenheit hätten aber sie sind ja fast immer in Bs-

Nach 8 Standen hinter dem Verkaufstisch,

wegung, die freilich auch anstrengend ist, aber stch doch ganz anders auswirkt als ruhiges Stehen. Eher ist der unseres Wissens bei der Kopenhagener Trambahn stch findende Sitz für den Fahrer berech- tigt, dem jetzt eine Bewegungsmöglichkeit doch nur in schivachem Maße gewährt ist. Auch der Käufer muß stehen. Eigentümlich muß es berühren, daß nicht nur die Verkäufer und die Verkäuferinnen in den Lerkaufsgefchäften, sondern auch das Publikum an das Stehen gewöhnt worden ist. Es steht wohl irgendwo ein verlorener Stuhl da, aber bei großem Andrang wagt es niemand, sich von dem Platz« in der Anstehschlangc, den man bei der Ankunft an dem Ladentisch erhalten, zu entfernen, um sich den Stuhl zu holen. Man würd« etliche Plätze herunterrutschen,

BerufsmäßigeSteher" wie früher in der Schul« wegenUnaufmerksamkeit" und die Aufmerksamkeit des Ladenbesitzers, der früher mit Falkenaugen die Kundschaft und die Bedienung beobachtete, ist verschwunden denn es gibt meist keinen Ladenbesitzer im Laden mehr. Alles ist un- persönlich geworden alles aufhöchsten Betrieb" eingestellt. Daß die Damen, die hinter dem Ladentisch hin und hergehetzt" werden. nicht zum Stehen kommen, ist begreiflich, aber neben den stark ge- fragten Abteilungen gibt es doch auch solche, die dann und wann einen Käufer sehen, und das dort amtierende Fräulein hat auch die Freude,von einem Fuß auf den anderen" zu treten«ine Be­schäftigung. bei der ihr leider keiner der aus Neugier, nicht aus Kauflust Eintretenden helfen kann. Es wäre«in« interrstant« Sta- tijtik, mal das Verhältnis des Durchfchnittsbctroges eines Einkaufs

von«inst und jetzt bei einem ein oder zwei Menschenalter bestehenden größeren Ladengeschäft zu errechnen zweifellos ist die Zahl der geschäftlichen Einzelhandlungen stark gestiegen, aber die geldliche Bewertung eines Einkaufs gefallen. Daher die sich nicht ganz ohne innere Berechtigung einstellende Uninteressiertheit des Gc- schäfts an den einzelnen Käufer: wollte man jedem Erfteher von Waren im Wert von 1 Marl einen Stuhl anbieten, so wäre die ganze City von Berlin gerade ausreichend für ein großes Geschäfts- lokal. Wenn heut« ein Kauflustiger aus wirklichem oder eingebil- detem Mangel an Zeit fortgeht, ohne gekauft zu haben, so ist dies wohl bedauerlich, wird aber vom Geschäftsstandpunkt nicht gerade als ein Verbrechen angesehen. Nur in wenigen Geschäften, die gerade nicht zur Elite gehören, bekommt die Verkäuferin heute noch eine Strafpredigt zu hören, wenn ein voraussichtlicher Käufer siel) lautlos drückt. Vielleicht, wenn ihm oder ihr ein Stuhl zur Ver. sügung gestanden hätte, wäre Zeit und Lust für einen kauf nicht so schnell abhanden gekommen. Um nicht einer«inseitigen Anklage geziehen zu werden, wollen wir gern hinzufügen, daß es auch heute noch große Geschäft« gibt, wo der Käufer vor allem zuerst aus einem Stuhl« Platz zu nehinen gebeten wlrd. Der ganze moderne Betrieb führt aber naturgemäß zur unpersönlichen Behandlung des Käufers. Zeit ist Geld und der Nächste wartet... Wo ist man noch zun. Stehen genötigt, wenn man sein Geld los sein will? Da ist die Verkehrsfrage: man muß aufseine" Straßenbahn, seinen Autobus warten... DasAnstehen" auf Waren durfte nur ganz s«lten noch vorkommen. Auch Post- an st alten haben vor den Schaltern oft Zwangsfteher versammelt daß aber dieAufsichten" in den Fernsprechämtern soviel zu tun haben, daß sie beständig auf den Beinen sein müssen, zwar nicht an einer Stelle stehend, aber doch der Ruh« aus dem Stuhle ent- behrend darf wohl als«ine Mythe angesehen werden. Der Schupo auf schinaier Insel, der, von den Zehen bis zur Brust einer Statue gleichend, nur in den Winkerarmcn Leben offenbart, gehört unsere ganze Hochachtung er opfert sich für die rastlos das Stadtiimere Durchflutenden. * Das moderne Großstadtleben fällt nicht nur durch Lärm und Hast auf di« Nerven es strengt auch die Gliedmaßen der Menschen an. Stehen warten ein Symbol b«s heutigen Lebens nur wenigen ist die quälende Ungewißheit erspart: Komme ich auch zur rechten Zeit?______ Paratyphus im Frauengefängnis. Eine Gefangene plötzlich erkrankt. Abwehrmaßnahmen der Verwaltung. Zm Frauengesängnis in der Barnimstraße ist Freitag nach- mittag ein« Gefangene an Paratyphus erkrankt und noch am gleichen Abend ins Urbankronkenhaus In die Abteilung für 3n- fettionskrankheiten gebracht worden, wie wir hören, sind von der Gefängnisverwaltung sofort Abwehrmaßnahmen gctrossen worden, nm eine weitere Ausbreitung der sehr ansteckenden Krank­heit zu verhindern. Die betreffende Gefangene, di« sich in Einzelhaft befand, scheint die Paratyphusbozillen schon länger« Zeit im Körper ge- habt zu haben. Sie litt früher des öfteren an Gallenkoliken, und bei diesem Leiden tritt manchmal die Erscheinung aus, daß sich in der Gallenblase typhöse Bazillen festsetzen, ohne sich weiter in: Körper auszubreiten und typhöse Krankheirssyinptome hervorzu- rufen. Die Gefangene befand sich bereits mehrer« Monate im Gc- fängnis und di« Typhuserkrankung ist allem Anschein nach ganz plötzlich durch den durch di« Gesangenenlost hervorgerufenen Diät- Wechsel zum Ausbruch gekommen. Diese Annahm« wird auch da- durch bestätigt, daß keine weiteren Gefangenen, die das gleiche Esten bekommen haben, bisher erkrankt sind. Auch durch das Trinkwasser können die Bazillen nicht in die Anstalt eingeschleppt worden sein, da das Fraueitgesängnis an die allgemein« Wasserversorgung Ber- lins angeschlossen ist. Irgendwelche von außen hereingebrachte Lebensmittel hat die Gefangen« nicht erhalten. Die Abwehr- maßnahmen der Gefängnisverwaltung bestehen darin, daß die Zelle der erkrankten Gefangenen sofort desinfi- ziert uird abgeschlossen worden ist. Die Anstalt ist außerdem für den Zugang von Besuchern gesperrt und ebenso auch der Brief- verkehr zeilweilig unterbunden worden. Die übrigen Gefangenen und das Gefängnispersonal werden besonders darauf beobachtet, um eine etwaige Ausbreitung der Krankheit sofort und erfolgreich im Keime zu ersticken.

Mreas KirlhatUs alte Uhren. Bon Mexnnder von Sacher-MM Vor einer Woche starb hier Andreas Kirchmayr, der ver- rückte alte Uhrmacher und wurde in der südlichen Ecke des Friedhofes neben seinem Sohne begraben. Von dieser Ecke sieht man rechts weit über den Kanal den Hügel hinauf, die kleinen, schmalen Althäuser der Türkenstraße mit ihren ver- schnörkelten Giebeldächern. Diese Türkenstraße liegt hier, in der kleinen Stadt, in die ich jetzt wieder heimgekehrt bin, nach so vielen Jahren. Vieles hat sich verändert, seit jenen Tagen, als ich ein Knabe den Weg durch die Türkenstraße nahm, am steinernen Löwen oorbeitrabte, und an den östlichen Gärten der Stadt vorbei bis zur Schule. Und als ich jetzt nach so vielen Jahren wiederkehrte, kam ich gerade zurecht zu Andreas Kirchmayrs Begräbnis. Ich stand am Friedhof in der hinter- sten Reihe, dennoch sah ich den Sarg und die Wenigen, di« ihn umringten, genau. Andreas Kirchmayr besaß keine Ver- wandten, kein Mensch in der kleinen Stadt hatte ihn je Freund genannt, Zeit seines Lebens hatte er von niemandem Geld ge- liehen und war keines Mannes Gläubiger gewesen. Nie hatte er einemlein Herz ausgeschüttet", wie man das so schön nennt, wenn einer am Wirtshaustisch vor dem anderen mit allem auspackt, was ihn beschwert und stch so preisgibt den unaufmerksamen Ohren Fremder. Obschon der Alte gern und oft imBlauen Igel" an den Abenden hinter dem Schoppen saß. vor sich hinsinnend. Aber immer saß er allein. Der Blaue Igel", diese Schenke zünftiger Bürger und leicht- fertiger Studenten, lag auf der anderen Seite der Türken- fteaße. dem Kirchmayrschen Haus« gegenüber. O, ich hatte manchen Trunk getan im geheimen, als junger, flaumwangi- ger Pennäler. Hier, unter den rauchgebeiztcn Deckenbalken der Schenke.

-- Ich stand in der letzten Reihe der spärlichen Leid- tragenden auf dem Friedhof. Der Herr Juwelier Goldbaumer steckte in einem viel zu engen Frack und als er sich bückte, um einen Spaten voll Erde in das Grab zu schaufeln, krachte die Naht auf seinem runden Rücken entzwei. Der Schweiß perlte ihm vom Doppelkinn in seinen Zylinder, den er ver- kehrt in der Hand hielt. Herr Perchtl , der Lohnfuhrwerker, hatte ein« neue grüne Samtwesle an, die ihm faltig um die dürre Mitte hing. Herr Perchtl hustete vor Vergnügen, in dem Augenblick, als Goldbaumers Fracknaht entzweikrachte. Sie waren alte Feinde, die zwei, eine Feindschaft lächerlichen Ursprungs, wie sie in Kleinstädten vorkommt. Ich erinnerte mich und mußte lächeln. Noch ein paar Leute waren da, sie waren aus Anstand gekommen, denn Andreas Kirchmayr war ein Bürger der Stadt und sein Vermögen siel, da er keine Erben hatte, an die Gemeinde. Zwei bezahlte Klageweiber schluchzten jämmerlich vor dem Grab. Und inzwischen prasselte ein Spaten Erde nach dem anderen auf den Uhrmacher herab, der steif und kalt in der Grube lag. fern dem ganzen Getriebe und fremd, so fremd, wie er es ein Leben hindurch allen diesen hier gewesen. In der Ecke der brüchigen Friedhofsmauer ragten zwei Pappeln in die sinkende Dämmerung ünd drüben, über dem Türkenhügel, flammten die ersten Lichter der Stadt auf. Und es fiel mir ein, daß auch ich ein Fremder hier bin, denn olle jene, die ich liebte, und die früher hier gelebt hatten, waren entweder fortgezogen nach dem großen Krieg oder Andreas Kirchmayr vorangeeilt in die große, unbekannte Ferne. Rur eine Laune trieb mich dazu, das Städtchen aufzusuchen, die Plätze. Häuser und kleinen winkeligen Gäßchen wiederzusehen, den Ort, in dem ich meine Knabenjahre verlebt hatte. Und es fiel mir ein, daß ich viel mehr wußte über Andreas Kirch- mayrs Leben, als alle jene, die hier versammelt waren, um einer mehr oder minder lästigen Pflicht zu genügen. Erinne- rungen bestürmten mich und ich entsann mich, daß das Leben de« alten Uhrmachers von einer Tragik erfüllt war, die weit über die engen Grenzen kleinstädtischer Empfindsamkeit hin-

ausging, und daß all seine Verrücktheit geheiligt war durch ein unermeßlich tiefes Gefühl der Liebe zu seinem Sohne. So stark ergriff mich die Wiederkehr von. Andreas Kirchmayrs Schicksal, daß mir auf dem Heimwege die Häuser, Gärten und Straßen näherkamen und auch die Menschen weniger fremd schienen als zuvor. Die kleine Stadt, wie sie früher ge- wesen, entstand in mir, neu hervorgezaubert durch das selt- same Schicksal des alten Mannes. Ich will euch seine Geschichte erzählen: Ich gehe rückwärts, fünfzehn lange Jahre und sehe An- dreas Kirchmayr vor mir, der in der Dämmerung jenes be- merkenswerten Herbsttages mit gleichmäßigen Schritten über die Hauptstraße daherkam. Er war schon damals ein alter Kerl und«in paar Zipfel seines grauen Haares flatterten etwas widerspenstig unter dem breiten Hutrand hervor. Ich mochte vierzehn Jahre alt sein, und hatte die Angst, die ich lange Zeit dem Uhrmacher gegenüber empfunden hatte, schon zum Teil überwunden. Denn obgleich er sich mit keinem im Städtchen näher anfreundete, führe ich heute die freiwillige Abgeschlossenheit, in der er lebte, mehr auf eine innere Schüch ternheit zurück. Ich glaube nicht, daß er im Grunde- die Ein­samkeit suchte, oder gar ein Menscbenfresser war. An jenem Herbstabend fiel eintöniger, dünner Regen und ein kühler Wind strich von der Richtung des Sarko durch die Straßen des Städtchens. Ger Winter war nicht mehr fern und Andreas Kirchmayr beschleunigte seine Schritte mehr ais sonst. Er trug einen hochgeschlossenen, schwarzen Rock, der seinem Aeußeren etwas Priesterhaftes verlieh. Seine hell- grauen Augen blickten unbeweglich geradeaus. Als er an mir vorbeikam, zog ich tief den Hut, aber er schien mich nicht zu bemerken. Er stützte sich auf einen Krückstock mit silbernem Griff, die rechte Hand mit dem Stock ziemlich weit von sich abhaltend, und als er hinter dem steinernen Löwen in die Türkenstraße einbog, schien er mir durch den nebligen Vor­hang des Herbstregens hindurch wie ein seltsames, dreibeini- ges Tier. (Schluß folgt.)