Nr. 165 ♦ 47. Jahrgang
± Beilage des Vorwärts
Dienstag, s. April 1930
Ein Bauzaun, der nicht verschwindet
Die Berliner haben sich bereits daran gemöhnt, daß der Potsdamer Platz nicht von einem monumentalen Gebäude, sondern von einem— Bauzaun beherrscht wird. Zmischen der Bellevue-und derFriedrich- Eberl-Siraße ragt er nun schon mehrere Jahre in die Luft. Erst hieß es, das bekannte französische Kaufhaus Lafayetie wolle hier einen Bau errichten, der dem großen und schönen W ertheimhaus Konkurrenz machen sollte. Aber die Verhandlungen haben sich sehr schnell zerschlagen und heute weiß man noch nicht, was sich eigentlich unserem Auge einmal an diesem städtebaulich interessanten und wichtigen Punkt präsentieren wird. Zu ebener Erde hat man in den Riesenbauzaun, der architektonisch immerhin noch erträglich wirkt, einige Läden eingebaut. Den Besitzern dieser Ver- kaufsstände ist nun vor einiger Zeit gekündigt
worden. Aber nicht, weil, wie man annehmen möchte, die Bretterverkleidung verschwinden wird, sondern weil der Fußgängerverkehr besonders in der Friedrich-Ebert-Straße durch die Vorbauten stark eingeengt wurde. Wann aber, wird endlich der häßliche Fleck von dem lebhaftesten Platz der Reichshauptstadt verschwinden?
Rönigenialer Mötder fluchtverdachtig Sämtliche 16 Verhastete bleiben in Hast. Oer Untersuchungsrichter beim eondgericht III hat im Hauptprüsungsverfahren die Haftbefehle gegen IS wegen der Schießerei in RSntgental Angeschuldigte aufrecht- erhalten, weil sie sämtlich des schweren candfrieden»- bruches und der gemeinsamen schweren Sörperverlehong mit lodeserfolg dringend verdächtig sind und weil bei den zu erwartenden hohen Strafen Fluchtverdacht vorliegt.
Beim Rettungswerk tödlich verunglückt. Tragischer Tod eines jungen Arbeiters. Sine mutige Retlungsla» mußte gestern nachmittag der ZSsährlge Arbeiter Willi S low p aus Wittenau . Straße tSS. mit dem Leben bezahlen. In Wittenau an der Ecke der Haupt» und Horms- dorfer Straß« scheuten gsgen 16 Uhr plötzlich iii« Pferd« eine? Geschästsfuhrwerts.?n rasender Fahrt jagt« da» Gespann die Hauptstraße, die um dies« Zeit stört belebt ist, herunter. Mehrere Automobilisten konnten siel) nur mit Mühe und Not dadurch in Sicherheit bringen, daß sie ihren Wage» auf den Bürgersteig lenkten. Ilm großes Unheil m oerhüten, stellte sich der 26jährige Arbeiter Willi Klemp den durchgeheirden PferSen in den Weg. ft'., der gerade von seiner Arbeitsstätte kam, warf kurzentschlossen seine Tasche fort und hängte sich den Pferden m die Züg«l. Unglücklicherweise kam er hierbei zu Fall, wurde ein Stück mit geschleift und mußte schon nach wenig«» Metern völlig erschöpft loslassen. Die Röder
des Fuhrwerks gingen dabei so unglücklich über den Arbeiter hin- weg, daß der T o d auf der Stell« eintrat. Das Fuhrwerk konnte dann, etwa 150 Moler Hintor der Nn- fallstelle zum hallen gebracht werden.
„Ein gutes Geschäst." Die Belastungszeugen im Potsdamer Kohbach«Prozeß. Der gestrige Tag brachte im Kuhbach-?rozeß vor dem Potsdamer Schwurgericht schwere Belastungen gegen den wegen Raubmordes Angeklagten. Sein Alibi, das er für den Mordlag zu erbringen versucht, ward sehr erschüttert. Der Zeitungshändler Pagets traf den Angeklagten am Vor- mittag, wir er kurz nach 11 Uhr von Sanssouci mit einer Akten- tasche kam. Als er Kutzbach, der mit ihm bekannt war, fragte, was er tue, meinte dieser:„3ch habe soeben ein gutes Gc- schäft gemacht.' Auch ander« Zeugen haben gesehen, wie der Angeklagt« an dem Vormittag von Sanssouci herkam Ein Zeitung»- Händler W« u g l e r aus Potsdam bekundete, daß Kutzbach noch der Tat nur Zeitungen gekauft hat, die von dem Mord auf den Kassen- boten hammermsister etwas brachten. Kutzbach sagje:„Wie kann der Dussel, der Hammermeister, zu« Ruinenberg gehen! Ich werde immer von der Potsdamer Krimänalpolizet vernommen, aber der Oberkommissar Steinhauer ist ja dauernd betrunken, der bekommt ja doch nichts von mir heraus!' Die Vernehmung wurde aus morgen oertagt, da der Haupt- bolastungszeuge gegen Kutzbach, Humbeutel, erkrankt ist.
Der Nobelpreisträger prosefsor Wilhelm Ostwald spricht aus Einladung der Gesellschait für empirische Philosophie über..Ueber» Heilung, ein biologisches llrphänomen' Dienstag, den 8. April. 20 Uhr, im Hörsaal Schumonnstraße 21.
Neunzehnmal vorbestrafi! Ein Menschenleben hinter Zvchthousmauern. Eine Tragödie stellte das Leben der bkjährigeu Kunst. gewerblerin Anno Maua dar. dl« sich vor dem Schöffen. gerlchi LediN'TUIkkc als rückfällige Diebin zu verantworten halte. Abgesehen van den ersten vier Lebensjahren hat die Augetloyte sich nur acht Jahre in voller Freiheit befunden. Mit vier Jahren kam sie als Waise in ein Kloster und wurde dort in strenger Abgeschlossenheit bis zum 21. Lebensjahre erzogen. Kaum stand sie auf eigenen Füßen, als sie auch schon mit dem Strafgesetz- buch in Konflikt geriet. Seitdem hat 25 Jahre Strofhast abgesessen. davon allein fast hintereinander 20 Jahre im Zucht- Haus. Sie ist neunzehnmal vorbestraft. Zum ersten Mole wurde im Jahr« 1S24 in Leipzig ihre Geistesverfassung geprüft und sie wurde für minderwertig erklärt. Seitdem ist sie nur noch mit Gefängnis bestrast worden. Jetzt war sie wieder wegen zahlreicher Diebstähle angeklagt. Sie hatte den Leuten, bei denen sie wohnte oder bei denen sie. als Näherin beschäftigt worden war. all« möglichen Sachen gestohlen.. Bold waren es seidene Strümpfe, bald ein Pullover oder eine Jack«, ein Ring im Werte von 2 M. und ander« Kleinigkeiten,, in einigen Fällen auch gerirnge Geldbeträge. Justizrat Wronker wies darauf hin. daß es sich hier um einen typischen Fall der Kleptomanie Handel« und daß ine Angeklagte. die heute ein« menschliche Ruine sei, endlich einmal grün d- l i ch untersucht werden müsse. Aus Grund dieser Anregung des Tier- teidigers beschloh dos Gericht, die Angeklagt« in einer öffenkkichen Irrenanstalt aus ihren Geisteszustand untersuchen zu lassen.
Zacobys Revision verworfen. Der Staatsanwaltfchastsrat vor dem Reichsgericht. vor dem zweiten Slrassenak des Relchsgerichk, wurde am Rionlag die Revision des Staalsanwalkschaslsrakcs Dr. Waller Zacoby verworfen, der vom Schöffengericht Dersin-Mille wegen Beihilfe zum Betrug zu neun wonaken Gefängnis mit lellweiser Bewährungsfrist nnd Aberkennung der Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Aemtcr auf die Dauer von fünf Kahren verurteilt worden war. Der Staatsanwoltsschaftsrat hatte in dem Prozeß gegen Bergmann und Genoffen eine hervorragende Rolle gespielt. Bereits Ende 1925 war in dem im Juni 1925 gegründeten L o m- bardhaus Bergmann eine Unterbilanz von 24 000 Mark vorhanden. Durch Inserate versuchte Bergmann nun Darlehens gsber zu finden und versprach 36 bis 48 Proz. Zinsen, obwohl keineswegs die Sicherungen vorhanden waren, die er in seinem Weideschreiben versprach. Bergmann versuchte Jnteresicntcn zu gewinnen, deren Namen Eindruck machte. Auch Jacoby ließ sich mit diesem zweiselh asten Unternehmen ein; obwohl er Kenntnis lxrtte, daß Bergmann wiederholt vorbestraft war, erteilte er glänzende Auskünfte. Schließlich bestellt« er eine Gsschaftsangestellte m seine Wohnung und diktierte ihr Auskünfte, die dann in Bergmanns Geschäft hundertfach vervielfältigt wurden. Für diese Gefälligkeit erhielt Jacoby von dem Unternehmen Bergmann etwa 650 Mark monatlich. Er hatte außerdem nock? Der- bindimg mst einem Privatdetektiobüro. gab diesem omt- liche Auskünste und erhielt dafür Geld. Auch sonst erraffte sich Jacoby Geld in der skrupellosesten Weis«. Einer armen Witwe verschafst« er eine Beihilf« von monatlich 120 Mark. Als Pro- Vision verlangte er von ihr 10 Proz. der Rente, die er heute noch erhälll Dos Gericht hat festgestellt, daß der Angeklagte eine monatliche Einnahme von mindestens 1500 Mark hatte und er nicht au» Not, sondern aus Gewinngier Handelle. Jacoby vertrat sein« Revision persönlich vor dem Reichsgericht und brach während seiner Ausführungen wiederholt in Tränen aus.
Torben Rist hat. ganz abgesehen von seiner ungewöhn- lichen südländischen Schönheit, einen Blick seiner mandel- förmigen Augen, der jedes weibliche Wesen erstarren läßt, gefügig macht. Es ist dies nicht der werbende, fordernde Blick des Mannes, sondern der zwingende Blick des chypno- tileurs. Dabei hat er die sonderbare Gewohnheit, den Menschen nicht in die Augen, ja nicht einmal ins Gesicht zu sehen, sondern auf den lftals. Ein kleines Dienstmädchen, das so primitiv ist, daß es nicht einmal recht»schreiben erlernt hat. sagte mir heute in ihrer einfachen Art:„Wenn Herr Rist einem auf den Hals schaut, so wird einem der Hals ganz stets, man kann den Kopf nicht mehr wejjdrehen, auch wenn man will." Das Mädchen gehört naturlich ebenfalls zu den Opfern, die mit verweinten Augen und völlig verwirrt den ganzen Tag herum gehen- Dabei ist Rist gewiß nicht der erste Mann in ihrem Leben, besitzt sie doch bereits ein blond» lockiges zweijähriges süßes Kind. Unglaublich überhaupt, was so im stillen Alltagsleben einer klerkten Insel vor sich gehen kann, ohne daß ein« Menschenseele chm besondere Beachtung schenkt. Da besorg« ich mir meine Gvldflakes sind eben ausgegangen— ein paar Zigaretten in einem Kaufmannsladen. Die Frau darin. die mir, nebenbei bemerkt, von dem geradezu abnormen Zi- garettenkonsum der Ossipowna erzählt, ist in tiefer Trauer. Ich frage sie, wen sie verloren hat. Ihre iunge Tochter. Wann? Ende April. An welcher Krankheil? Selbstmord. Die arme Frau bricht dabei in lautes Schluchzen aus. Ich erkundige mich fchonungsvoll, was wohl die Ursache gewesen sein könnte? Ein verzwetflungsvoller Blick der Mutter. Ob das Fräulein vielleicht auch mit Herrn Torben Rist befreundet gewesen sei? Da murmelt die Frau:„Dieser Schurke" und geht rasch aus dem Laden. Das schlanke junge Mädchen, das ihr im Laden hilft, sieht mich an mit großen grauen tod- ernsten Augen. O über die Gleichgültigkeit, die Trägheit des mensch- lichen Herzen«! Ein blühendes junges Geschöpf macht seinem
Leben selbst ein Ende, und niemand, niemand weiß warum. Oder wird man es jetzt doch vielleicht einmal erfahren? Bon noch einer kleinen, mag fein harmlosen Episode will ich erzählen, die ich erst vor ein paar Stunden bei Fährmann Hansen in Erfahrung brachte. Der drollige Alte, der mit einem Päckchen Tabak und einem Fläschchen Wein leicht zum Schwatzen zu bringen ist, erzählte folgende Geschichte: Als er eines Nachmittags auf der Fähre, die eben am Festland lag, fein Schläfchen machen wollte, weckte chn ein großer Tourenwagen. Aus diesem Wagen heraus sprang sichtlich verstört— Herr Torben Rist, der sich gleich darauf nach Lynö übersetzen ließ. Am Volant jedoch saß eine Dame, die bei- nahe ohne anzuhalten, förmlich fluchtartig gegen Sandrup losfuhr. Die Straße von Aaresund nach Sändrup führt, wohl bemerkt, knapp vor dem Anlegeplatz der Fähr« durch dichten Buchenwald . Kurz und gut. Lynö schwirrt von Geheimnissen. Roch erfährt man wenig von den Geständnissen auf Sändrup, denn der blutjunge Untersuchungsrichter. Herr H. G. Iakobfen, nimmt es mst seinen Vorschriften so genau, wie ein braver Gymnasiast: er läßt niemand zu sich, den er nicht selbst vor» geladen hat. und auch der eifrigste Reporter erfährt kein Wort von den Verhören. Ein Zustand, der sich auf die Dauer kaum hallen dürfte. Der junge Mann wird Wert und Hilfe der Press« noch schätzen lernen. B. H- Protolcoll aufgenommen mit der Zeugin Helene Delru* „Ich hätte vorgestern noch eine wichtige Frage an Sie zu stellen gehabt, anödige Frau, aber mst Rücksicht auf Ihren Gesundheitszustand—" „Bitte sehr, reden Sie nur. Ich bin auf alles gefaßt." „Kennen Sie dieses Band, gnädige Frau?" „Oh „Gehört es Fräulein Marfa Ossipowna? Pflegte sie solche Bänder zu tragen?" „Meine Nichte trug sehr häufig solche Bänder. Sie hatte eine Vorliebe für englische Tenniskleider, nur daß sie, das gehörte so zu ihr, die Kragen nie hoch schloß, sondern offen trug und die Krawatte rechts und links zur Seite baumeln ließ. Ich weiß das deshalb genau, weil ich sie soundso ost bat, die Krawatte ordentlich zu biirden." „Es ist also das Band der Ossipowna?" „Ja, es ist ihr Band... Wo hoben Sie es her? Ich bitte Sie, Herr Iakobfen, verheimlichen Sie mir nichts. Ich
bin doch die Nächste, die alles erfahren muß, und ich bin ganz ruhig." „Man fand es in weißes Seidenpapier gewickelt im Schrank von Torben Rist." „Entsetzlich... nein, lassen Sie. mir ist ganz wohl... ich sagte ja, ich sei auf alles gefaßt... Warten Sie nur einen Augenblick, dann werde auch ich Ihnen eine Mitteilung machen. „Nehmen Sie diesen Zettel, Herr Untersuchungsrichter. Ich fand chn ganz zerknüllt hinter dem Bett meiner armen Nichte." Dieser Zettel ist wirklich von größter Wichtigkeit. Haben Sie eine Ahnung, wer diese Herta ist, an die der Brief allem Anschein nach gerichtet war?" „Herta ist ein Revuegirl, mst dem die Ossipowna letzten Winter in Berlin besondere Freundschaft geschlossen hat/ „Kennen Sie ihre Adresse?" „Nein, aber die läßt sich leicht beschaffen. Ich brauche nur meinen Verwandten in Berlin zu schreiben." „Tun Sie das bitte sofort, gnädige Frau. Haben Sic mir sonst noch etwas mitzuteilen?" „Nein, das beißt, ich habe eine groß« Bitte: Empfangen Sie meine Freundin, die berühmte Journalistin Birgst Hasting, die im Auftrag von Dagens Nyheder auf Lynö ist. Sie wünscht sich nichts so sehr, als eine Unterredung mit Ihnen." „Diese Bitte kann ich Ihnen leider nichl erfüllen, ehe die Untersuchung zu einem gewissen Abschluß gekommen ist. Ich könnte der Dame jetzt beim besten Willen nichts mstteilen" Kgl. Amtsgericht Sändrup, 25. Juni 1929. gez. Helene Dslius. H. G. Iakobsen. 1, Beilaqe: Abschrist des Zettele, der vermutlich ein Teil«inrZ Brieses der Verschollenen ist und hinter ihrem Bett gesunden wurde. (... lannst Du Dir einfach nicht vorstellen, wie wahnsinnig auf- geregt ich bin. Ich weiß ja gor nicht, ob ich wirklich tDu verstehst, wo» das heißt!!!) will oder nicht. Ich weiß überhaupt nicht— na. kurz und gut, er ist jedenfalls«in verdammt tei'l'er Kerl und er will einmal sicher. Woher er nur den Schlüssel hat? Vielleicht gar vpn der Morphiumgräfin, man lagt ja, er hat's mit einer jeden. Herta- kind, wenn ich Dich mir hier hätte! Du bist doch so gescheit und kennst Dich aus mit Männern und dergleichen. Er tagt immer, er muß seine Belohnung haben, und warum nicht, am Ende lacht«r mich gar noch aus, und überhaupt möchte ich endlich einmal wissen, wie...)(Fortsetzung folgt.)