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Beilage

Sonnabend, 31. Mai 1930

Der Abend

Shalausgabe des Vorwärts

Der Weg zum neuen Europa  

16. Mai 1464 bis 17. Mai 1930

von 1821: Ich war genötigt ,, Europa   durch die Waffen zu bändigen, heutigen Tages muß man es überzeugen." Und das Testament enthält weiter die Mission an das 20. Jahrhundert:

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durch unauflösliche Föderativbande einigen." Niemand hat die Idee und Mission Napoleons   genialer geahnt und leidenschaftlicher erklärt als Rietsch e. Napoleon  , ruft er aus, wollte aus Europa   eine politische und wirtschaftliche Einheit zum Zweck der Erdregierung schaffen! Unsere National­staaten sind für Nietzsche Klein staaten, die schon allein das Geld zwingen wird, sich zu einer Macht zusammenzuballen.

Der 16. Mai 1464 war bisher in der Geschichte der Menschheit| er wieder auf und wird zum Ausgangspunkt der gesamten euro­ein Datum, dem die Historiker teine besondere Beachtung geschenkt päischen Einheitsbewegung. haben. Die Zukunft wird diesem Tag eine neue, bessere Gerechtig feit widerfahren lassen, denn an diesem Tag erfolgte der erste politische Versuch, Europa   zu einigen. Fast auf den Tag 466 Jahre später, am 17. Mai 1930, ließ Aristide Briand  27 europäischen Regierungen, das Mémorandum sur l'organisation d'un régime d'union fédérale européenne, so heißt offiziell Briands Aufruf zur Föderation Europas, durch die akkreditierten Vertreter Frankreichs   überreichen. An demselben Tage hat Deutsch­ land  , wenige Stunden vorher, seine Schuldzertifikate der Bank für Internationale Zahlungen übergeben, die Reparationskommiffior, das Inkrafttreten des Young- Plans fon­statiert, André Tardieu   den Befehl zur Räumung der dritten rheinischen Zone erteilt. Die Liquidation des Welt­Prieges und das französische   Memo­randum zur Organisation des Ver­einigten Europäischen Ronti­nents tragen also ein und dasselbe Datum. Die Schuljugend der nächsten Generationen wird im Geschichtsunter­richt die Frage des Lehrers: An welchem Eage begann Europa   fich zu organisie­ren? mit dem Satz beantworten: Am Tage der Liquidierung des Weltfrieges.

Der nächste große Europaplan ist der sogenannte Große Plan einer Christlichen Republik, der dem französischen   König ,, Europa  Heinrich IV.   zugeschrieben wird. Nach diesem Plan, der un­gefähr in das Jahr 1600 fällt, sollte Europa   in 15 Staaten gegliedert und von einem Generalrat von 40 Mitgliedern als oberster Ber­tretung des Parlaments regiert werden. Das Staatenparlament Heinrichs IV. sollte abwechselnd in 15 europäischen Hauptstädten tagen. Das Ziel dieses Europaplanes war das Ziel jeder Europa­politik: der Friede. Zum erstenmal wird in diesem Plan dieses Menschheitsziel durch eine politische Organisation zu erreichen

Europas   Einheit zu schaffen, ist die Pflicht unserer Generation. Aber Euro­ pas   Einheit ist nicht mur Zukunft, sie ist auch Vergangenheit. Die Einheit Europas   ist so alt wie der Begriff Eu­ ropa   felbft. Bergessen wir nicht, daß die erfte Einheit Europas   durch das römi. fche Weltreich gebildet wurde und Dadurch eine Ruftur entstand, von der mir noch heute zehren, die mir heute zum Teil noch nicht wieder erreicht haben. Die zweite Einheit Europas   fchuf Karl der Große  , den bezeichnenderweife Deutsch  fand und Frantreich als ihren Herr fcher verehren. Als Europa   unter Karls Erben zerfiel, nahm das zweite Rom  , das Rom   der Päpste als Erben der Casa­ren, Europa   in die Einheit des christlichen Glaubens, des Gottesstaates, auf.

Auch mir Sozialisten dürfen den hohen Rang der christlichen mittel­alterlichen Einheit Europas   nicht ver­fernen. Trotz aller inneren Kämpfe

TP.

Friedens in die europäische Diskussion stellte, erzielte er eine Bir­fung, die heute noch nicht erloschen ist. Wer immer vom ewigen Frieden redet und für ihn Europa   zu organisieren plant, ist Heinrich IV.   und seinem Staatskanzler Sully zu Dank verbunden.

und Fürstenkriege, die sich ja nur im feinsten Rahmen ab| gesucht. Indem er zum erstenmal den Begriff des ewigen spielten, mar Europa   eine Einheit durch die Kirchensprache, durch die Lebensführung, durch die Sitte, durch die Unterordnung unter die päpstliche Hoheit. Aber die Einheit des Glaubens war im 15. Jahrhundert nicht mehr der Sprengtraft der Produktivkräfte gewachsen. Renaissance und Reformation waren der geistige Ausdruck für die Notwendigkeit der Völker und Staaten, sich zuerst einmal individuell zu entwickeln, auszuwachsen. Der Westfälische Ermattungsfriede am Ende des Dreißig jährigen Krieges drückte nichts anderes als das Unvermögen aus, Europa   religiös zu organisieren. Die Einheit Europas   ging unter, und mir die Gelehrten behielten sie in der Erinnerung als einen Traum, den der deutsche Dichter Novalis   noch am Anfang des 19. Jahrhunderts wieder lebendig zu machen wähnte.

war.

Bon Heinrich IV.   geht der Plan des ewigen Friedens auf den Abbé de Saint- Pierre   über. Dieser edle Menschenfreund widmete eine 35jährige Propaganda und zahlreiche Schriften der Friedensidee und der Einheit Europas  . Aber sein Plan war reichlich ideologisch, denn er glaubte an die freiwillige 3u stimmung der Mächte. Und doch ist er aus der Geschichte des Europagedankens nicht wegzudenken. Er übte auf Voltaire und Rousseau  , auf Napoleon  , auf Leffing, Herder   und Kant die stärkste Wirkung aus. Rousseau   trägt zur Erkenntnis bei, daß mur eine revolutionäre Gewalt die Staaten Europas   zur Ein­

heit zwingen wird. Kant   geht einen großen entscheidenden Rant geht einen großen entscheidenden Schritt weiter: er findet den Grund zu diesem Zwange: die un­brutale Freiheit aufzugeben, um in gesetzmäßiger Sicherheit leben zu fönnen.

Es ist also das Zeitalter der Französischen   Revolution, das dem europäischen   Einheitsgedanken neuen, gewaltigen Impuls gibt, und es ist die größte Persönlichkeit des Zeitalters, Napoleon  , der von der Französischen   Revolution die Aufgabe übernimmt, die europäischen   Produktivkräfte zu entfesseln und zu beschützen. Der Gegner der Entfesselung der Produktivkräfte des Kontinents ist England, und das Ziel Napoleons   ist, die europäischen   Staaten mit Waffengewalt zu zwingen, sich zu einigen, um gesichert dem Schaffen leben zu können.

In Frankreich   ist die große Tradition des europäischen  Gedankens niemals ganz erloschen. Durch Saint- Simon  , dem

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utopischen Ahnen des wissenschaftlichen Sozialismus, mird er zuerst mit unserer Weltanschauung verbunden. Sein leiden­schaftlichster Prophet ist Victor Hugo  , und er spricht den Gedanken von 1930 aus, wenn er 1874 erflärt: ,, Repara­tion heißt Föderation, dic Lösung heißt: Die Bereinigten Staaten von Europa  ." Renan versicht den europäischen   Gedanken gegen David Friedrich Strauß  , und Emile Zola  hinterläßt in seinem großen Roman Rom  " seinem Helden das Bermächtnis, die päpstliche Einheit des Katholizismus durch die meltliche Einheit der friedlich schaffenden Bölker des geeinigten Euro­ pas   zu überwinden. Er ahnt, daß die Welt sich in immer größeren Ein­heiten organisiert, und daß die natio nale Gliederung Europas   zur internatio­nalen Bindung führt, die Gedanken von Marg und Engels.

Aber Marg und Engels sind Rea Iiften. Sie stellen das Ziel der Inter­nationale und des Weltsozialismus auf, lehnen aber Rezepte für Zeiten ab, deren Inhalt und Gestaltung sie nicht voraus fehen förmen. Sie hinterlassen uns die Methode, das Entwicklungs gefez des Kapitalismus, das uns zwingt, die Welt entwicklungsmäßig zu organisieren, die Wirtschaft entwicklungs­mäßig zu gestalten. Die wirtschaftliche Motivierung ist es daher auch, die der moderne Sozialismus als trei­bende Kraft beim Werden des Vereinig ten Europäischen Kontinents erkennt. Er fam allein aus ihr die Gesetze politischen Handelns empfangen, er fann nicht nach Laune oder Gutdünken die wirtschaftlichen Reali­täten verändern. Eine Analyse der weltwirtschaftlichen Entwicklung zeigt, daß das Streben Europas   zur Organisation nicht isoliert vor uns auftritt, sondern ein Teil der auf der ganzen Erde wirkenden Konzentrationsträfte ist. Die Welt beginnt die kleinen Nationalstaaten als Einheiten zu überwinden und größere Einheiten zu suchen. Wie die Einzelgesellschaften zu Trufts, die Trusts zu internationalen Kartellen und Gemeinschaften weiter­schreiten, sind die Städte und Provinzen zu Nationalstaaten ge­worden, gehen die Nationalstaaten zu Wirtschaftsimperien weiter, deren Größe durch die Produktionsformen unerbittlich gefordert wird. Ein Blick auf die Wirklichkeit zeigt, daß Amerika   bereits ein solcher geschlossener Wirtschaftskörper ist, und daß sich daneben vier andere bilden, deren Formen heute schon zu erkennen sind, nämlich das Britische   Weltreich, das Russische   Reich, Ostasien  ( erst mit. Japan  , dann mit China  als Zentrum) und schließlich der europäische   Kontinent. jene gewaltige Grundlage und Konzentration, die, wie jede fapitalistische Konzentration, letzten Endes zu einer Konzentration und Machtstärkung des Proletariats, als Voraussetzung des Sozialismus, führt.

Aber schon in diesem Zeitalter der entstehenden National­staaten beginnt eine weit vorausschauende Politik die europäische Einheit auf neuer Basis wieder herzustellen. Der Ruhm, diesen ersten modernen Versuch, Europa   zu einigen, gewagt zu haben, vermeidliche Not Europas   wird die Staaten zwingen, ihre Das friedliche Zusammenwirken der fünf Wirtschaftsimperien schafft gebührt dem tschechischen Bolt, das im 15. Jahrhundert durch die religiöse, antipäpstliche hussitische Bewegung zu einer geistigen und politischen Demofratie gelangte und damit allen anderen Völkern Europas   weit voraus Das tschechische Hussitenreich, die einzige Volksdemokratie des Mittelalters, begriff die Notwendigkeit, die untergehende päpstliche Herrschaft über Europa   durch eine neue Einheitsbewegung sofort zu ersetzen, bevor noch der Zerfall Europas   in selbstfüchtige Einzelteile zu gegen seitiger Berfleischung führen müßte. Die Persönlichkeit des Huffiten fönigs Georg von Bodiebrad verfolgte energisch dieses Ziel. Aber eine Organisierung Europas   außerhalb des Bapsttums war damals derart revolutionär, daß sie zum Scheitern ver urteilt war. Trotzdem hat dieser Plan welthistorische Bedeutung behalten. Ihm liegt die Idee zugrunde, die fortan in allen Europa­plänen enthalten ist, daß nämlich die Gemeinschaft Zentraleuropas mit Frankreich   die Grundlage des Vereinigten Kontinents sein muß. Am 16. Mai 1464, also faft auf den Tag 466 Jahre vor Briands Pakt, zog eine Gesandtschaft von 50 Personen von Brag quer durch Deutschland   nach Paris   mit dem offiziellen Auftrag, ein tschechisch französisches Bündnis als Grundlage eines Europapattes abzuschließen. Der Baft jah die Einberufung eines alljährlichen intereuropäischen Fürstenparlaments unter Leitung des Königs von Frankreich   vor, den militärischen Schutz des Kontinents gegen die Türken, die Schaffung internatio­nalen Rechts und eine, wie wir heute sagen würden, Bölker bundsegekutive. Brachte auch die päpstliche Sabotage den Blan zum Scheitern, jo ging er nicht unter. 150 Jahre später steht

Es ist das große Verdienst der sozialistischen   Geschichts­wissenschaft, daß sie diesen Grundgedanken der Napoleonischen Kriege erkannt und dokumentarisch festgelegt hat. Mit besonderem Stolze fügen wir hinzu, daß Kurt Eisner   in seinem grund­legenden Wert Das Ende des Reiche s" diese Arbeit wissen schaftlich und politisch geleistet hat. Man fann nur wünschen, daß dieses Hauptwert Eisners, das 1907 im Vorwärts" Berlag erschienen und seit Jahren vergriffen ist. bald wieder erscheint. Mit unerbittlicher Klarheit und Konsequenz stellt Eisner fest, daß Napoleon   als Vorposten des neuen Europas   den Verteidigungskrieg der europäischen   Produktionsfräfte gegen Englands Anspruch auf ein ,, Erdmonopol des Handels" geführt hat. Alles, was er tat", schreibt Eisner, geschah in der verzweifelten Abwehr gegen England." Napoleon   selbst erkannte aber, daß ihm die Zeit zwar feine Methode aufzwang, aber daß die Methode der Aufgabe nicht genügte. Daher die Erklärung in seinem Testament

demokratische Partei Deutschlands   nach dem Referat Hilfer­Als erste politische Partei der Welt hat die Sozial­dings in das Heidelberger   Parteiprogramm die Bildung der Vereinigten Staaten   von Europa   zur Selbst­behauptung des europäischen   Kontinents als sozialistische Forderung aufgenommen. Denn selbstverständlich kann dieſe außen­politische Forderung nur als Teil des sozialistischen   Gesamt­programmes begriffen werden. Für die Sozialdemokratie ist die Einheit Europas   fein Endziel, sondern ein Mittel zum fozia­listischen Endziel. Schon dadurch unterscheidet sie sich wesentlich non der bürgerlichen Demofratie, die die fontinentaleuropäische Bewegung als Mittel zum 3wed vertritt, und die, wie etwa Coudenhove Ralergi, die sozialistische Tendenz grund­fäglich ablehnt. Durch diese Beschränkung bleibt die paneuro­päische Bewegung geistig hinter der sozialistischen   Bewegung zurüd, der sie sonst alle ihre Prinzipien entlehnt hat. Der Sozialismus unterſtügt die bürgerlich demokratische Propaganda des europäischen  Gedankens, aber er behält sich vor, ihn mit rein sozialistischem Inhalt zu erfüllen und die Führung in der Hand zu behalten.

Das Problem des Bereinigten Europäischen Kontinents   steht auf der Tagesordnung der Weltgeschichte und es kann nur von dort verschwinden, wenn der Sozialismus es endgültig gelöst hat. Felix Stössinger  .