Beilage
Sonnabend, 14. Juni 1930
Der junge Marx
Der junge Mary war zu Beginn seines geistigen Weges Hegelianer. Die Philosophie Hegels war auch nach Hegels Tod noch viele Jahre eine ungeheure geistige Macht. Das Fortschrittspathos der Aufklärung, die Strebungen der deutschen Romantik und die Traditionen der deutschen idealistischen philosophischen Systeme von Kant, Fichte und Schelling waren in Hegels Philosophie zusammen geschweißt. Hegels System war von seltener Universalität. Seine Philosophie umfaßte und durchdrang alle Gestaltungen und Schöpfungen des Menschen; sie war Philosophie der Natur, der Logit, des Rechtes, des Staates, der Kunst, der Religion, der Geschichte. Die Gegenwart seiner Zeit war Hegel die Erfüllung der geschichtlichen Aufgabe des Menschen. Aber nicht so sehr die Durch bringung der gegenständlichen Welten war das anregendste Element der Hegelschen Philosophie, was Marg, wie auch Engels und Lassalle in Hegels Bannkreis zog, war seine Methode, die Methode der Dialettit. Ein einfaches Beispiel aus Hegels .Rechtsphilosophie " soll uns die Bedeutung der Dialettit flarmachen; unser Beispiel ist gleichzeitig der vollendete Ausdrud des tiefsten Wesens der frühkapitalistischen Welt, der ja Hegel( er starb 1831 als Professor der Philosophie an der Universität Berlin) noch zugehört: Die bürgerliche Gesellschaft erzeugt als Reichtum anthäufende Gesellschaft ihren Gegensatz( Antithesis), das Proletariat. Dieser Widerspruch verlangt jedoch mit Notwendigkeit seine Aufhebung, seine Synthesis, seine Lösung. Hegel sieht die Lösung dieses Widerspruchs zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Proletariat, indem er der Bourgeoisie die Förderung des Weltverkehrs und die Kolonisation ferner Länder anempfiehlt. Man sieht unschwer, wie Marg hier später anschließt. Nur deckt er diese Hegalsche Lösung als eine falsche Synthesis, als falsche Lösung auf, die wahre Aufhebung des Gegensatzes von Bourgeoisie und Proletariat sieht Marg in der sozialistischen Gesellschaft der Freien und Gleichen.
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Wenn wir heute das Berden des endgültigen Marrschen Welt bildes lückenlos verfolgen fönnen, so ist dies das Berdienst der von D. Rjajanom im Auftrage des Marr- Engels- Instituts Moskau herausgegebenen Marg Engels Gesamtausgabe, Don der bisher fünf Bände( erschienen im Marr- Engels- Verlag Berlin ) vorliegen. Der erste Band, aufgeteilt in zwei Halbbände, enthält Karl Marr Werte und Schriften nebst Briefen und Dokumenten bis Anfang 1844. Bergleicht man diese beiden Bände mit den zeitlich entsprechenden Partien der 1902 von Mehring veranstalteten sogenannten Nachlaßausgabe, so muß festgestellt werden, daß die Mehringsche Ausgabe, so bahnbrechend sie für ihre Epoche war, nunmehr vollständig überholt ist. Es sei hier nur einiges heraus gehoben, was die Ausgabe Rjajanows an neuem Material enthält. Die Marrsche Doktordissertation ist namentlich um die Vorarbeiten vermehrt worden; Marg' Artikel aus der Rheinischen Zeitung " fonnten um etwa sieben Drudbogen ergänzt werden, endlich wird eine bisher unveröffentlichte Schrift von Marg, eine etwa 150 Drudseiten umfassende Kritit des Hegelschen Staatsrechts" mitgeteilt. Diese Schrift, die Marg nach seinem Austritt aus der Redaktion der" Rheinischen Zeitung " niederschrieb( wir geben eine Textstelle weiter unten wieder), führt uns in den inneren Prozeß feiner Loslösung von Hegel ein, den er aus seiner mystifizierenden Form" ins, Rationelle" befreit. Bergleicht man den ebenfalls unten folgenden Tert aus den Deutsch - Französischen Jahrbüchern" mit
dem Zitat aus der Deutschen Ideologie ", dann wird der geistige Weg des jungen Marg, auch in dieser Kürze, verständlich.
Das Material des zweiten Halbbandes ist ebenso reichhaltig. Auf den vollständigen Abdrud der poetischen Jugendeseleien von Marr sei wenigstens hingewiesen. Wichtig, weil die Marx- Forschung mirklich bereichernd, find die Margschen Erzerpte, die Auszüge aus
gelesenen Büchern, die Marg in den Jahren 1840-1843 angefertigt hat. Wir sehen jetzt in den inneren Prozeß der Marrschen Arbeitsweise, wir verfolgen, wie er Spinoza , Leibniz , Hume , Machiavelli , Rousseau , Montesquieu , englische, französische und deutsche Geschichte studiert.
Die weiteren drei Bände gehören der dritten Abteilung der Gesamtausgabe an. Sie bringen den Briefwechsel zwischen Marg und Engels, der 1913 von Bebel und Bernstein erstmalig in vier Bänden herausgegeben wurde.
Unsere anschließende Auswahl charakteristischer Textstellen soll die geistige Entwicklung des jungen Marg, so wie sie jetzt durch die Rjazanovsche Gesamtausgabe offengelegt wurde, veranschaulichen. J. P. Mayer.
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1837-1845
Der Abend
Shalausgabe des Vorwärts
bietet, noch weniger Urteil als ein Kind hat, so sehr liegen diese| eigenen Terrain nachzuweisen bemüht war, so gewiß ist er von der Dinge über dessen Horizont.
Es ist dies eine Erscheinung, die auf mich, obgleich ich gerade in demselben Felde mich bewege, einen imposanten Eindruck machte; furz, Du kannst Dich darauf gefaßt machen, den größten, vielleicht den einzigen jetzt lebenden eigentlichen Philosophen kennenzulernen, der nächstens, wo er öffentlich auftreten wird( in Schriften sowohl als auf dem Ratheder), die Augen Deutschlands auf sich ziehen wird. Er geht, sowohl seiner Tendenz als seiner philosophischen Geistesbildung nach, nicht nur über Strauß, sondern auch über Feuerbach heraus, und letzteres will viel
heißen!
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Könnte ich in Bonn sein, wenn er Logik lieft, ich würde sein fleißigster Zuhörer sein. Einen solchen Mann habe ich mir immer als Lehrer in der Philosophie gewünscht. Jetzt fühle ich erft, welch ein Stümper ich in der eigentlichen Philosophie bin. Aber Geduld! Ich werde jetzt auch noch etwas lernen!
Dr. Mart, so heißt mein Abgott, ist noch ein ganz junger Mann( etwa 24 Jahre höchstens alt), der der mittelalterlichen Religion und Politik den letzten Stoß versetzen wird; er verbindet mit dem philosophischen Ernst den schneidendsten Wig; denke Dir Rousseau , Boltaire, Holbach, Lessing, Heine und Hegel in einer Berson vereinigt; ich sage vereinigt, nicht zusammengeschmissen, so hast Du Dr. Marg. Dein e B.
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Wahrheit seiner Meinung überzeugt, wie denn überhaupt den Mitarbeitern der Rheinischen Zeitung ", soweit ich sie tennengelernt, eher alles andere, nur nicht Gesinnungslosigkeit im eben erwähnten Sinne zur Laft fällt. Es kann dies freilich nur ein Grund mehr sein, sie von direktem und leitendem Einflusse, bei etwaiger Fortdauer des Blattes, zu entfernen."
Aus der„ Kritik des Hegelschen Staatsrechts".
Kreuznach, Sommer 1843.
Hegel geht vom Staate aus und macht den Menschen zum ver. subjektierten Staat; die Demokratie geht vom Menschen aus und macht den Staat zum verobjettierten Menschen. Wie die Religion nicht den Menschen, sondern wie der Mensch die Religion schafft, so schafft nicht die Verfassung das Volf, sondern das Bolt die Berfaffung. Die Demokratie verhält sich in gewisser Hinsicht zu allen übrigen Staatsformen, wie das Christentum sich zu allen übrigen Religionen verhält. Das Christentum ist die Religion faterochen ( vorzugsweise), das Wesen der Religion, der deifizierte Mensch als eine besondere Religion. So ist die Demokratie das Wesen aller Staatsverfassung, der sozialisierte Mensch, als eine besondere Staatsverfassung; sie verhält sich zu den übrigen Berfassungen, wie die Gattung fich zu ihren Arten verhält; nur daß die Gattung hier als Eristenz, darum gegenüber den dem Wesen nicht entsprechenden Existenzen selbst als eine besondere Art erscheint. Die Demokratie verhält sich zu allen übrigen Staatsformen als ihrem alten Testament. Der Mensch ist nicht des Gesetzes, sondern das Gesez ist des Menschen wegen da, es ist mensche liches Dasein, während in den anderen der Mensch das ge. setzliche Dasein ist. Das ist die Grmddifferenz der Demokratie. Aus der Einleitung
Zur Krifik der Hegelschen Rechtsphilofophie".
Die einzig prattisch mögliche Befreiung Deutschlands ist die Befreiung auf dem Standpunkt der Theorie, welche den Menschen für das höchste Wesen des Menschen erklärt. In Deutschland ist die Emanzipation von dem Mittelalter nur möglich als die Emanzipation zugleich von den teilweisen Ueberwindungen des Mittelalters. In Deutschland fann feine Art der Knechtschaft gebrochen werden, ohne jede Art der Knechtschaft zu brechen. Das gründliche Deutschland kann nicht revolutionieren, ohne von Grund aus zu revolutionieren. Die Emanzipation des Deutschen ist die Emanzipation des Menschen. Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat. Die Philosophie fann sich nicht vermirflichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat fann fich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie.
Aus der„ Deutschen Ideologie".*)
Brüssel, 1845.
Das empirische, materielle Berhalten dieser Menschen tann natürlich mit dem von Hegel ererbten theoretischen Rüstzeug auch nicht einmal verstanden werden. Indem Feuerbach die reli
Der Zensor der„ Rheinischen Zeitung ", St. Paul, über Marg. giöse Belt als die Illusion der bei ihm selbst nur noch als Phra e
2. März 1843.
lebendige Quell der Theorien des Blattes; ich habe ihn kennengelernt, er stirbt auf seine Ansichten, die ihm zur Ueberzeugung gemorden sind; er ist entschlossen, Preußen zu verlassen und unter den
„ Dr. Marg ist allerdings hier der doktrinäre Mittelpunkt, der
jetzigen Umständen jede Berbindung mit der" Rheinischen Zeitung " aufzugeben; jetzt ist er vorderhand nach Trier gegangen, um seine Braut... heimzuführen."
9.- 10. März 1843.
vorkommenden irdischen Welt aufzeigte, ergab sich von selbst auch für die deutsche Theorie die von ihm nicht beantwortete Frage: Wie kam es, daß die Menschen sich diese Illusionen in den Kopf setzten?" Diese Frage bahnt selbst für die deutschen Theoretiker den Weg zur materialistischen, nicht vorausseßungslosen, sondern die wirklichen materiellen Voraussetzungen als solche em pirisch beobachtenden und darum erft wirklich fritischen Anschauungen der Welt., Dieser Gang war schon angedeutet in den Deutsch - Französischen Jahrbüchern in der„ Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie " und" Bur Judenfrage". Da dies damals noch in philosophischer Phraseologie geschah, so gaben die hier traditionell unterlaufenen philosophischen Ausdrücke, mie " menschliches Besen“,„ Gattung" usw., den deutschen Theoretikern die erwünschte Veranlassung, die wirkliche Entwicklung zu mißnerstehen und zu glauben, es handle sich wieder nur um eine neue
Ich habe ganz neuerdings nun die hiesigen Hauptarbeiter des Blattes, namentlich den einflußreichsten unter ihnen, den Dr. Marg, persönlich näher kennengelernt, dessen philosophische und politische Ansichten kennenzulernen mir von großem Interesse gewesen ist. Wir haben mehrere erschöpfende Unterredungen gehabt, deren Ergebnisse ich mir vorbehalte, ausführlich mitzuteilen, da sie den Ein- Wendung ihrer abgetragenen theoretischen Röcke....
blick in die Elemente und Richtungen der geistigen Bewegung der Gegenwart gewähren. So gewiß die Ansicht des Dr. Marg auf einem tiefen spekulativen Irrtume beruht, wie ich ihm auf seinem
Daß bei dieſen mancherlei Beſchäftigungen das erſte Iwan Heilbut : Prachtstraße
Semester hindurch viele Nächte durchwacht, viele Kämpfe durchstritten, viele innere und äußere Anregung erduldet werden mußte, daß ich am Schlusse doch nicht sehr bereichert hinaustrat und dabei Natur, Kunst, Welt vernachlässigt, Freunde abgestoßen hatte, diese Reflexion schien mein Körper zu machen, ein Arzt riet mir das Land und so geriet ich zum ersten Male durch die ganze lange Stadt vor das Tor nach Stralom. Daß ich dort aus einem bleichsüchtigen Schwächling zu einer robusten Festigkeit des Körpers heranreifen
würde, ahnte ich nicht.
Ein Borhang war gefallen, mein Allerheiligstes zerrissen, und es mußten neue Götter hineingesetzt werden.
Von dem Idealismus, den ich, beiläufig gesagt, mit Kantischem und Fichtischem verglichen und genährt, geriet ich dazu, im Birtlichen selbst die Idee zu suchen. Hatten die Götter früher über der Erde gewohnt, so waren sie jetzt das Zentrum derselben geworden. Ich hatte Fragmente der Hegelschen Philosophie gelesen, deren groteste Felsenmelodie mir nicht behagte. Noch einmal wollte ich hinabtauchen in das Meer, aber mit der bestimmten Absicht, die geistige Natur ebenso notwendig, tonkret und festgerundet zu finden mie die förperliche, nicht mehr Fechterkünfte zu üben, sondern die reine Perle ans Sonnenlicht zu halten.
Moses Heß an Berthold Auerbach .
Köln , 2. Sep'ember 1841. Du wirst Dich freuen, hier einen Mann kennenzulernen, der jetzt auch zu unseren Freunden gehört, obgleich er in Bonn lebt, wo er bald dozieren wird. Sollte Dir Braunfels schon etwas von ihm gesagt haben, so ist hierauf nicht das mindeste Gewicht zu legen, ba 8, über Männer und Bestrebungen, mie der norliegende fall
Das Fräulein trug hellbraune Schuhe, einen hochgewölbten Sie saß' n Strohhut mit einem Band von schwarzweißer Seide. der Prachtstraße der großen Stadt auf einem der Stühle, die in zwei langen Reihen Spalier am Mittelzug dieser Straße bilden. Es war ein heißer Mittag. Die Welt duftete von Sonne und
Schatten.
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In der Nähe des Fräuleins setzten sich zwei Jünglinge auf die Stühle. Blasse Gesichter, erfahrene Augen darin; um die Hälse WollSchals geschlungen. Das Fräulein wurde unruhig. Wird es eine Unannehmlichkeit geben? Die beiden jungen Leute tun die Augen zu, dämmern ein. Der Aufseher kommt. Er trägt seinen weißen Schnurrbart gediese 3mirbelt. Wie? Seine Füße stocken. Auf seinen Stühlen
Gestalten?
Im nächsten Augenblick schleudert seine Hand die Schläfer etwa ein Duzend von Metern weit in die Wirklichkeit.
Die beiden Jünglinge waren dem Mann nicht böse. Ihre Gesichter sagten höchstens: Na, na, so heftig hätte es niax nötig getan.
Dann faßte der eine mit unfagbar aristrofratischer Geste seinen eigenen Aermel mit Fingerspitzen an, pustete darüber hin, wie um den Schmutz der groben Berührung fortzublafen.
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bart. Sie ließen sich ohne Widerstand verschiedene Büffe hinter die Ohren geben. Welch ein Rechtsgefühl wurzelt im Menschen! But, dachten sie sich, rechnen wir einen Pfennig pro Stück, dann bekommen wir jetzt noch drei Püffe hinter die Ohren, und der schuldige Groschen ist bezahlt.
er
Ein uniformierter Herr, dessen Beruf es ist, auf einem Rundfahrtenauto Erklärungen auszurufen, nahm für den rasenden Alten Partei. Er trug einen weißen Kragen und einen Schlips mußte, wo sein Platz auf der Welt war und übernahm den rednerischen Teil dieser Sache, für welchen dem Alten bei seiner puffenden Tätigkeit nicht, genug Zeit blieb. Er fühlte sich mit seinem Kollegen im Kampf um die Hebung des Fremdenverkehrs solidar. Das Fräulein konnte nicht mehr zusehen.
den Jungen:
und zu
Hier sind zehn Pfennige", sagte sie zu dem Alten Nun fönnen Sie wieder auf den Stühlen fizen." Aber der Aufseher lehnte ab: ,, Bon Ihnen will ich den Groschen nicht." ,, Der alte Mann...", sagte der uniformierte Herr von der Rundfahrt teilnehmend.
,, Aber warum denn; weil sie geschlafen haben?" rief das Fräulein. ,, Weil sie den Stühlen das Renommee verderben", antwortete der Herr mit dem Kragen.
,, Lassen Sie man, Fräulein", sagte der eine der Jünglinge und
Das Fräulein sieht mitleidig und ein wenig bewundernd zu. fab sie mit milden, erfahrenen Augen an ,,, machen Sie sich unseret
Sie schickten sich an, langsam weiterzugehen. Der Aufseher aber mir ein Rächer der Ehre seiner Stühle. So gedunsen rot war sein Gesicht, als bedeutete ihm die Anmaßung dieser Habenichtsjugend eine Weltrevolution.
Wer mag fich gegen einen Rajenden wehien? Sogar der in Gefahr schwebende Angegriffene fühlt eine Art von Ehrfurcht vor der geheiligten Rut eines rotföpfigen Mannes mit weißem Schnurr
wegen feine Ungelegenheiten."
Das Fräulein ging eilig fort. Sie war völlig verwirrt. Die schaltragenden Jünglinge spazierten langsam unter den Baumreihen weiter, in ihren Mienen war das Erlebnis bereits untergetaucht. Eine neue Erfahrung, hinzugefügt zu den alten, die das unbewußte Gedächtnis registriert,
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