Vierzig Jahre Volksbühne
Ani Sonntag, dem 19. September des Jahres 1890, nachmittags| Kultur und der Kunst des Sozialismus. Das Programm der 2 Uhr, veranstaltete die Berliner Boltsbühne im Ostend- Theater , Bolksbühne war fertig in der Stunde ihres Entstehens, es hat nie dem heutigen Rose- Theater, gegen ein Entgelt von 50 Pfennig für geschwankt. Eindeutige Formulierung gab ihm, in späterer Abwehr den Platz, die erste Vorstellung. Nach einem Prolog von Richard nervöser Hizbolde, an denen es selbstverständlich auch der VolksDehmel, den der Dichter selber sprach, wurde das sozialkritische bühne nicht gefehlt hat, Friedrich Stampfer : Es wird der Stück von Henrit Jbsen ,, Die Stützen der Gesellschaft" gegeben. Ruhm der revolutionären Bewegung der Arbeiterklasse sein, daß sie Das ist nun vierzig Jahre her. Damals war Deutschland noch als erste ihrer Art nicht den Weg der Zerstörung ging. Mit liebevoller Sorgfalt wird sie die Kulturgüter der Vergangenheit über den breiten Strom tragen, der das Heute vom Morgen trennt... Jedoch ist die Arbeiterklasse mit ihrer sozialistischen Weltanschauung als eine Kulturerscheinung von gewaltigster Bedeutung und Eigenart auch würdig einer großen, ihrem tiefsten Weser entspringenden Kunst. So wenig wir denn auch bereit sind, über bürgerliche Kunst wegen ihrer Klassenzugehörigkeit den Stab zu brechen, so freudig weit wollen wir die Pforten der Freien Volksbühne dem proletarischen Dichter öffnen, der uns unsere Leiden zu sagen, unsere Hoffnungen zu fünden weiß, der unsere Gedanken denkt, unseren Kampf kämpft und der als Sozialist uns gehören wird, als Dichter aber ter ganzen Menschheit."
In der Gründungsversammlung der Berliner Volksbühne, die von zweitausend Menschen besucht war, faßen beieinander: Otto Brahm , der Freund Gerhart Hauptmanns , Ludwig Fulda , Otto Erich Hartleben , Richard Dehmel , Heinrich Hart , Julius Hart , alles Angehörige der geltenden ürgerlichen Kultur, und der Klavierarbeiter Robert Schmidt, der Klempner Heinrich Reft, der Schriftsetzer Albert Weidner, der Arbeiterredakteur Curt Baafe, alles Männer, damais Jugendliche, die den flammenden Glauben an das Proletariat in fich trugen und diesen Glauben während ihres späteren Lebens im
22
Georg Springer
der verstorbene langjährige Vorsitzende der Berliner Volksbühne
ein Obrigkeitsstaat und die deutsche Arbeiterschaft stand in schwerem Kampf gegen das Sozialisten geseh. Aber sie fämpfte fiegreich; die Reichstagswahlen hatten soeben annähernd 1½ Millionen Sozialdemokraten im Marsch gezeigt. Seit der vorangegangenen Wahl von 1887 hatten sich die Stimmen der Partei beinahe ver= doppelt, die Zahl ihrer Abgeordneten hatte sich mehr als verdreifacht. Auf solchem Hintergrunde politischen Ringens und wichtigen Aufstieges des Proletariats wurde die Berliner Boltsbühne gegründet. Ihre Urzelle war ein illegaler Diskutierklub, der den harmlosen Namen„ Alte Tante" führte; er sandte eines Tages einige jeiner Mitglieder zu Bruno Wille , dem gottlos gläubigen Romantiker, dem Pionier freien Geistes, dem Propheten der jungen Dichter des Naturalismus, um ihn zu bitten, er möge auch den Arbeitern Gelegenheit schaffen, teilzuhaben an der Revolution der Geister, am Werden einer Kunst, die der Maskerade entsagen und der Wahrheit dienen wollte. Dieser entschlossene Gang einiger Arbeiter zu einem Intellektuellen, der ihr Vertrauen gewonnen hatte, diese Wanderung Bruno Willes mit dem Buchbinder Wibker und dessen Genossen durch die märkische Heide, wie sie im Umkreis von Friedrichshagen , beschattet von Wachholdermystit, färglich träumt, das war der Anfang. Und heute, vier Jahrzehnte später, liegen vor uns zwei umfangreiche Bücher: das eine, geschrieben von S. Nestriepte') enthält den ersten Teil( ein zweiter Band folgt) der Geschichte der Berliner Volksbühne; das zweite Buch, geschrieben von A. Brodbe d,) behandelt die Gesamtheit der deutschen Boltsbühnenbewegung, deren Entwicklung in der Berliner Boltsbühne wurzelt. Welch ein Aufstieg, welch ein triumphaler Beweis für den produktiven Idealismus, für den Dr. Siegfried Nestriepke schöpferischen Kulturwillen, für die beflügelte Einsicht und den fittlichen Ernst der deutschen Arbeiterschaft. Es trifft sich gut, daß folche unvergängliche Geschichtstatsache dem Bewußtsein der Deffentlichkeit nahegebracht wird im Aufbäumen einer Episode, die den Kleingläubigen verleiten fönnte, am gefunden Instinkt und an der seelischen Disziplin des proletarischen Nachwuchses irre zu werden. Es trifft fich gut, daß wir gerade unter der Dämmerung dieses Wahlherbstes vierzig Jahre Berliner Boltsbühne und zehn Jahre Verband der deutschen Boltsbühnenvereine feiern dürfen: fofch Jubiläum beweist, daß die deutsche Arbeiterschaft tulturelle Tat zu vollbringen vermag und trotz alledem die Verheißung in fich trägt, ihrer und fünftiger Zeit die geistige Prägung zu bestimmen. Die Geschichte der Berliner und darüber hinaus der deutschen Bolfsbühne, wie sie Nestriepke und Brodbeck geschrieben haben, wie sie in diesen Tagen aus der Erinnerung von ungezählten Helfern der Bewegung lebendig wird, ist die Geschichte einer Eroberung, einer Erkenntnis und einer Sehnsucht. Erobert wurde das Kulturgut vorangegangener Zeiten, das der Aristokraten und der Bürger. Erkannt wurde, daß immitten der Organisation, der Gewerkschaften,
Raum unter der Bühne
der Partei und des Staates, der Mensch zugleich ein Kollettivum und ein. Einzelner ist, ein Einzelner und ein Einziger. Die Sehnsucht aber ging nach der Gestaltung diefes eigenen Seins und zugleich des Seins der eigenen, der neuen, der stürmenden Klasse, nach der
Geschichte der Boltsbühne Berlin "( Boltsbühnen- Berlag). Handbuch der deutschen Volksbühnenbewegung( Bolts bühnen- Berlag).
Generalsekretär
verbandes
2
deren Leitung zunächst Franz Mehring übernahm, die Neue Freie Volfsbühne, Don Bruno Wille und dessent Freunden betreut. Beide Volksbühnen wuchsen nebeneinander und aneinander; wie wenig sie sich grundsätzlich unterschieden, zeigt deut lich, daß der Sieg der Weber" von beiden erfochten worden ist. So wirkte sich die Zerreißung der großen proletarischen Kulturbewegung nicht verhängnisvoll aus, so trug sie den Keim zur
Schnürboden des Theaters am Bülowplatz Wiedervereinigung in sich. Zunächst aber maßen sich Freie und Neue in geschwisterlichem Wettkampf; jede von ihnen und beide gemeinsam mobilisierten im Laufe der Jahre und der Jahrzehnte die testen Köpfe des deutschen Geisteslebens.
Die Wiedervereinigung der beiden Kameraden erfolgte in Etappen. Nachdem zu Beginn des Krieges die Neue Freie Boltsbühne unter der Führung des unvergeßlichen Georg Springer cuf der Grundlage von Arbeitergroschen sich das glorreiche Hauts am Bülowplay, ein eigenes Theater des Volkes, errichtet hatte, fonnte es unmöglich bei dem Nebeneinander bleiben; das stolze und leuchtende Haus lockte. Es tam zunächst zu einem Kartell und dann, im April 1920, zur endgültigen Wiedervereinigung.
Im gleichen Jahre aber geschah noch die Zusammenfassung aller übrigen deutschen Volksbühnen im Verband der deut= schen Wolfsbühnenvereine. Mit gutem Recht sagt hierzu Brodbeck:„ Wenn es eines Beweises für die historische Bedeutung der deutschen Boltsbühnenbewegung bedarf, dann möge der Hinweis auf die Tatsache genügen, daß ihre eigentliche Geburtsstunde in die Monate unerhörtester wirtschaftlicher und seelischer Not eines ganzen Boltes und namentlich seiner untersten" Klassen fällt. Was damals, fast instinkthaft und daher am tiefsten innerlich begründet, in die Wirklichkeit gesetzt wurde, ist da aus einem Muß, aus einem Bedürfnis heraus, fann nicht mehr wegdiskutiert, nicht mehr ausgelöscht werden. So entstand der Volksbühnengedanke, dreißig Jahre nach seinem ersten Aufflammen, zum zweitenmal auf breitester Grundlage neu und lebenswillig. Niemand hat ihn propagiert; er war da. In ganzen Reich war die Idee lebendig, in allest Ländern und Provinzen, vornehmlich dort, wo Massen schwer arbeitender Menschen sich zusammenballen." Wiederum zehn Jahre später, im Jahre 1930, umfaßt der Verband der deutschen Volksbühnenvereine 305 Bolfsbühnengemeinden mit rund 500 000 Einzelmitgliedern. Diese gewaltige Organisation des geistigen und des fünstlerischen Dranges der arbeitenden Maffen nimmt alljährlich von den deutschen Theatern fünf Millionen Plätze in Anspruch und zahlt dafür sieben bis acht Millionen Reichsmart. Diese gewaltige Orga
Heinrich Neft geschäftlicher Direktor der Berliner Volksbühne des Theaters am Bülowplatz Dienste der Arbeiterschaft tatkräftig bewährt haben. Solch Neben einander, solch Brückenschlag, solch Hand- in- hand mit der Vereinander, solch Brückenschlag, solch Hand- in- hand mit der Vergangenheit hinein in die Zukunft war und blieb für die Volfs- nisation unterhält fünf eigene Wandertheater, ist an drei gemeinbühnenbewegung zugleich Symbol und Prinzip.
VI
Genau so fennzeichnend aber ist es, daß jene Gründungsversammlung durch Abstimmung beschleß, eine Tellerkollekte zugunsten der Hanrburger Bauarbeiter, die in schwerem Lohnkampi standen, vorzunehmen. Kennzeichnend ist es, daß vom ersten Tage an die Berteilung der Plätze durch die Ordner unter Anwendung des gleichmachenden Loses erfolgt ist, daß aber der Vorschlag eines bürgerlichen Literaten, die Wahl der Stücke durch die Demokratte der Mitgliederversammlungen vorzunehmen, mit überwältigender Mehrheit abgelehnt und vielmehr beschlossen wurde, dem Vorstand und einem Ausschuß die Entscheidung in allen literarischen und tünstlerischen Fragen zu überlassen. Kennzeichnend war es, daß die Berliner Boltsbühne die Säle ihrer Beranstaltungen und Feste mit dem kämpferischen Rot schmückte, daß sie den ersten Mai feierte, daß sie sich im Protest gegen die Polizei und die Gerichte freimütig dazu bekannte, Einwirkung auf öffentliche Angelegenheiten" nehmen zu wollen, daß sie aber dennoch kein politisches Theater". wie es dogmatisch und einseitig heute gemeint wird, sein wollte. Kennzeichnend war, wenn Conrad Schmidt schrieb, daß das Theater wohl am Befreiungswerk der Menschheit mitzuwirken habe, daß es aber auch Grenzen gäbe zwischen Kunst und Politit, und daß es Sache der Kunst sei, Fühlen und Wollen zu adeln". Kennzeichnend war, daß der größte Erfolg, den die Volksbühne in ihren Anfangsjahren errang, die Aufführung von Hauptmanns Revo= lutionsdrama ,, Die Weber " gewesen ist, daß, aber zugleich, so vordem mie später, zwar nicht nach Possen, wohl aber nach heiteren Stücken immer wieder Ausschau gehalten wurde, und daß schon damals die Klage laut war über den Mangel deutscher Literatur an fröhlicher Unterhaltung und entspannender Freude. Kennzeichnend war die Hingerissenheit, mit der die Mitglieder der Berliner Bolfsbühne vor Sudermanns Ehre" saßen, diesem primitiven Plakat des Aufstandes, eine Hingerissenheit, die Henrik Ibsen , der solchem Schauspiel beiwohnte, zu dem Ausruf antrieb:„ Das sind Hörer! das sind hörer!" Rennzeichnend aber wir auch, daß schon 1892, noch vor dem Gipfelerfolg der Weber", eine Spaltung der Berliner Volksbühne nicht vermieden ein menig verbittert, aber faum ganz irrend, daß fie nicht aus jach werden konnte, eine Spaltung, von der Bruno Wille jagt, wohl lichen, sondern aus persönlichen, nicht aus fünstlerischen, sondern aus politischen Gründen erfolgt sei, nicht aus ruhiger Ueberlegung und Gerechtigkeit, sondern aus wüftem Fanatismus".
Rach der Spaltung ftand neben der Freien Boltsbühne,
nützigen Wanderbühnen und an zehn ständigen Stadttheatern be teiligt; sie gibt an hundert Zeitschriften heraus und erstreckt ihr Tätigkeitsgebiet weit über das Theater hinaus auf die Musik, den Tanz, die gesamte Literatur, die bildenden Künste, den Film und den Funt, wie überhaupt auf die geistige, die sittliche und die fünftlerische Entwicklung der Erwachsenen und der Jugend.
Wenn es wahr ist, und es ist wahr, daß im Ablauf der Geschichte, von Jahrhundert zu Jahrhundert, nur eine einzige, sich immer gleich bleibende Tendenz, nur eine einzige Konstante in allem Taumel des Wechsels lebendig ist: der Aufstieg der Masse, die Ausweitung derer, die an den Gütern der Kultur teilnehmen, wenn dies
Die Bühne während des Umbaues einer Szene
wahr ist, und es ist wahr, dann hat die deutsche Volksbühne an der gewogen Teil mitgeholfen. Die deutsche Boltsbühne, aus dem Ber Weltwerdung dieses einzig geltenden Geschichtsprinzips ihr wohl. liner Ursprung, aus einem Streis gläubiger Jünger emporgewachſen und zu einem machtvollen Organismus geworden, ist heute ein mesentlicher Teil der geistigen Kraft, die der Arbeiterschaft das Recht auf Führung gibt. Robert Breuer,