Morgenausgabe
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48. Jahrgang
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Vorwärts
Berliner Bolksblatt
Freitag
16. Januar 1931
Groß- Berlin 10 Pf. Auswärts 15 Pf.
Die etni paltige Nonpareillezetle 30 Pfennig. Reflamezeile 5.- Reichs mart. Kleine Anzeigen das ettge druckte Wort 25 Pfennig( zulässig zwei jettgedruckte Worte), jedes weitere Wort 12 Pfennig. Stellengesuche das erste Wort 15 Pfennig, jebes weitere Wort 10 Pfennig. Worte über 15 Buchstaben zählen für zwei Worte. Arbeitsmarkt Zeile 60 Pfennig. Familienanzeigen Zeile 40 Pfennig. Anzeigenannahme imhaupt geschäft Lindenstraße 3, wochentäglich Don 81 bis 17 Uhr.
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Hilferding kritisiert Dietrich.
Die wahre Lage der Reichsfinanzen.
Im weiteren Verlauf der allgemeinen Aussprache über die Finanzpolitik des Reichs in der Sitzung des Haushaltsausschusses vom Donnerstag nahm für die Sozialdemokratie
Genosse Dr. Hilferding
das Wort. Er erhob zunächst schwere haushaltsrechtliche Bedenken dagegen, daß die Reichsregierung zwei der Reichsbahn gesellschaft gegebene Darlehen von 80 und 25 Millionen Mark niedergeschlagen habe, ohne vom Parlament die Ermächtigung dazu erhalten zu haben. Nachdem es ge= schehen sei, müsse mindestens um Indemnität nachgesucht werden. Was den Etat selbst betreffe, so sei die Verflechtung der öffentlichen Finanzen mit der Wirtschaft unendlich enger als früher. Die Finanzgebarung der öffentlichen Körperschaften sei für die Wirtschaft geradezu schicksalsbestimmend. Die Berhältnisse in anderen Ländern lägen ganz ähnlich. Die ungeheure Weltwirtschaftskrise wirke sich auch dort sehr ungünstig für die öffentlichen Finanzen aus. Wenn man nach Amerita blide, so sehe man, daß dieser reichste aller Gläubigerstaaten in diesem Jahre zum erstenmal die Reparationszahlungen zur Dedung in den Etat eingestellt habe, während die Zahlungen bisher lediglich zur Schuldentilgung verwendet worden sind. In England sei ein Kaffendefizit von weit über 1 Milliarde vorhanden und auch Italien habe ein Defizit von über 1 Milliarde Lire im Etat, trotz der zwölf prozentigen Minderung aller Gehälter.
Für die Sanierung der Reichsfinanzen find bisher Schon erhebliche Anstrengungen gemacht worden. So haben u. a. diesem Zwecke gedient: die Young- Entlastung mit 700 mill., die Tabat fteuererhöhung vom Dezember 1929 mit 200 mill., die von Moldenhauer im April vorigen Jahres eingeführten Steuern mit 500 mill., die neuen Gemeindesteuern auf Grund der beiden Notverordnungen mit 450 mill., die Gehaltstürzungen von 6 Proz. mit 480 mill., die Erhöhung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge von 3 auf 6% Proz. mit etwa 300 Mill Insgesamt sind also über 2600 Mill. neue Einnahmen beschafft oder Ausgaben eingespart worden.
Trotzdem bleibt im Reichshaushaltsplan 1930 ein Fehlbefrag von etwa 1 milliarde, und er sei der Auffassung, daß im fommenden Rechnungsjahr noch ein zufählicher Fehlbetrag in Reich, Ländern, Gemeinden von 4 Milliarden entstehen werde. plan 1930 ein Fehlbetrag von etwa 1 Milliarde, und der sei der Auf fassung, daß im kommenden Rechnungsjahr noch ein zusätzlicher Fehlbetrag in Reich, Ländern und Gemeinden von% Milliarden entstehen werde.
Für 1930 habe der Reichsfinanzminister zunächst mit einem Gesamtfehlbetrag von 900 mill. gerechnet. Er habe jetzt zugegeben, daß das Defizit wahrscheinlich 1 Milliarde erreichen werde. Für 1931 ist im Haushaltsplan zunächst nur ein reiner Steueraus= fall von 877 Mill. angenommen worden. Herr Dietrich hat aber bereits erklärt, daß ein weiterer Ausfall in Höhe von 200 bis 300 Mill. möglich sei. Die ungünstigere Annahme des Ministers habe die größere Wahrscheinlichkeit für sich, so daß man im nächsten Rechnungsjahr mit einem gesamten Einnahmeausfall von rund 1200 Millionen rechnen müsse. Dieses Defizit verteilt sich auf Reich, Länder, Gemeinden und die Knappschaft.
Zu dem Ausfall der Reichssteuern kommen aber noch die Mindererträge, die bei den eigenen Steuern der Länder und Gemeinden infolge der Wirtschaftskrise ent
Briand und Henderson sind gemeinsam von Paris nach Genf gereift. Die Pariser Presse berichtet, die beiden Staatsmänner
stehen. Während die Reichssteuererträge sich um 12 bis 13 Broz. vermindert haben, wird man bei den Steuern der Länder und Gemeinden nur mit einem durchschnittlichen Ausfall von 10 Prog., also mit über 400 mill. rechnen müssen. Die Gesamtverminde rung der Steuereinnahmen in Reich, Ländern und Gemeinden, sowie der Rückgang der Einnahmen aus den öffentlichen Unternehmungen beziffere er auf 1750 Millionen.
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Besonders bedrohlich sei die Lage der Gemeinden. Sie gehen nach seiner Berechnung ins neue Etatsjahr mit einem Defizit von 750 Mill. und dieses Defizit sei um so gefährlicher, als es fich dabei zum größten Teil um unfundierte Schulden handele. An neuen Steuern stehen dagegen den Gemeinden aus der Notverordnung nur etwa 200 Mill. zur Verfügung, so daß noch 500 Mill. ungedeckt bleiben.
Nun habe Dr. Cremer feine fernere Mitwirkung davon abhängig gemacht, daß in flarer gesetzgeberischer Form eine Einsparung des eventuellen Fehlbetrags von rund 300 Mill. vorgenommen werde. Er hätte gern gehört, wo Dr. Cremer diese Abstriche vorzunehmen beabsichtige. Der Reichsfinanzminister habe den Höchstbetrag, an dem man überhaupt noch Abstriche vornehmen fönne, auf 880 Mill. Mark beziffert. Von diesen 880 Mill. Mart entfallen fast genau die Hälfte auf Heer und Marine, ohne Besoldung. Am Heer und an der Marine will aber Herr Dr. Cremer nichts streichen. Wie will man also zu den Abstrichen von 300 mill. kommen? Er würde auch gern von dem Reichsfinanzminister gehört haben, wie dieser sich die Sanierung der Gemeinden dente. Der Kredit der GeSanierung der Gemeinden bente. Der Krebit der Gemeinden sei durch manche unverantwortlichen öffentlichen Reden aufs schwerste gefährdet worden.
Wolle man Streichungen vornehmen, fönne man, unmöglich am Wehretat, am Auswärtigen Amt und an den Subventionen für die Luftfahrt vorbeigehen.
Es erscheine ihm unverantwortlich, in einem Augenblick, in dem man nicht wisse, wo und wie man noch streichen fönne, Steuer fenfungspläne durchzuführen, wie z. B. die Realsteuern um 270, Mill., die der Industriebelastung um 100 mill., ferner die Vereinfachung der Umsatzsteuer mit einem Ausfall von 30 Mill., und die Vereinfachung der Vermögenssteuer mit 16 Mill.; insgesamt alfo Steuerfenfungen von 416 Mill. Die Reassteuersentung sei ein Experiment, das man sich sehr genau hätte überlegen müffen. Der Grundgedante jeder Sanierung aber sei: Der Reichs etat dürfe nicht isoliert betrachtet werden. Es tomme vor allem auf die Sanierung der Gemeinden an.
Auf die von Dr. Cremer und dem Genossen Dr. Hilfending gegen ihn gerichteten Angriffe antwortete der
Reichsfinanzminister Dietrich
in längeren Ausführungen. Am Schlusse seiner Rede gab er auf die beiden von Dr. Cremer an ihn gerichteten Fragen folgende Antworten: Sein Plan, für jeden mehr beschäftigten Arbeiter einen Zuschuß an das betreffende Unternehmen zu zahlen, werde zurzeit vom Reichsarbeitsminister Stegerwald nach allen Rich fungen durchgeprüft. Der Reichsarbeitsminister werde sich demnächst, nach Abschluß der Prüfung, über diesen Plan äußern. Die zweite Frage von Dr. Cremer, ob die Reichsregierung die Abficht habe, mit einem Aufwand von 750 Mill. ein Arbeits beschaffungsprogramm der öffentlichen Körperschaften durchzuführen, beantworte er mit nein.
verlangen von der braunschweigischen Regierung die fofortige Auflösung der Bürgerwehr und die Beschlagnahme der Waffen.
Franzen Prozeß auf den 12. Februar verlegt. Braunschweig , 15. Januar.
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Gespaltene Spießbürger.
Das Gesicht der Wirtschaftspartei.
Herr Dingelden, der neue Führer der Volkspartei, hat neue Sammlungsabfichten. Das Projekt Falscher Hase" schwebt ihm wieder vor. Er will Staatspartei und Bolts partei, Wirtschaftspartei, Konservative Volkspartei und Christlich- Soziale in einem Mischmasch vereinigen. Im Gebälk der Staatspartei, der Nachfolgerin der Demokratischen Partei, kracht es schon wieder bedenklich. Die Wirt. schaftspartei hat bereits die erste Abspaltung erfahren. Das ist der Zustand der bürgerlichen Mitte. Grundsägliche Politik hat dort keinen Kurswert mehr. Die liberale Ideologie ist verflogen, übrig geblieben ist der Spießbürger in Filzpantoffeln mit der Nachtmüße auf dem Kopf.
Er hat in der Wirtschaftspartei die politische Organisation gefunden, die seinen geistigen Kräften und seinem politischen Bildungsstand am ehesten entspricht. Wirtschaftspartei, das bedeutet das Banauentum in der Politik, das Hin eintragen des erbärmlichsten und engsten Gruppenegoismus in politische Entscheidungen.
Was ist die Wirtschaftspartei? Eine Vereinigung von Interessenten, die von der Demokratie nur soviel verstanden hat, daß man die deutsche Parteienzersplitterung zur Versoigung persönlichster Interessen in der Gesetzgebung ausnützen fönnte. Diese Partei wird nicht zusammengehalten durch eine einheitliche politische Idee, durch eine große staats- oder kulturpolitische Zielsetzung. Was ihre Wähler und Mitglieder bewegt, ist die Höhe der Gewerbesteuer, die Hochhaltung von Brotpreis und Mietzins und vor allem die Entrüstung des Hausbesitzers darüber, daß ihm die gebundene Wohnungswirtschaft Beschränkungen in der Ausbeutung der Mieter auferlegt hat. Es sind jene Mittelstandsschichten, die von jeher in der Arbeiterschaft ein bequemes Ausbeutungsobjekt gesehen haben. Sie haben noch jene Zeiten in der Erinnerung, in der die Arbeiterschaft im Kaiserreich politisch rechtlos gehalten wurde und in denen darum jeder Spießbürger, der sich das Etikett national aufklebte, sie noch für sich besonders glaubte
ausbeuten zu können.
Dies Sammelsurium fleiner und fleinster privater Wirtschaftsinteressen ist von Jahr zu Jahr reaktionärer geworden. Sein Programm hat niemals etwas anderes dargestellt, als eine Anhäufung von Schlagworten, an denen die Spießbürger der Wirtschaftspartei sich berauscht haben: Gerechtig feit, Anstand, Sitte, Kultur, christlich, national. Hinter den Worten aber ist es hohl- man fann von dieser Partei und ihren Führern auch nicht verlangen, daß sie sich dabei etwas denken sollten. Gerade deswegen hat sie beträchtlichen Zulauf gefunden aus jenen Kreisen, die den Weltanschauungsparteien der bürgerlichen Mitte davongelaufen sind.
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Diese Partei ist die richtige Partei für den deutschen Spießbürger. Sie erfüllt sowohl sein Bedürfnis nach Opposition wie sein Bedürfnis nach bürgerlicher Honorigkeit. Dazu gehört beim deutschen Spießbürger immer noch, daß man national ist im Sinne des schwarzweißroten Hurrapatriotismus, und also ist auch die von Herrn Bäckermeister Drewitz geführte Bartei national. Wenn die Deutschnationalen ihren Mund aufgerissen haben, so hat die Wirtschaftspartei sich bemüht, sie zu fopieren. Jede bösartige verleumderische Heize gegen die Arbeiterschaft und ihre Partei, jeder Heßfeldzug wurde am gläubigsten in der Wirtschaftspartei aufgenommen. In der Atmosphäre der Stammtischpolitik und des LadenPlatsches gedeiht der Blödsinn am üppigsten.
Die Wirtschaftspartei hat den Beweis dafür geliefert, daß Dummheit notwendig reaktionär werden muß. In der Krise hat sie das wunderbare Projekt der Arbeitsdienstpflicht erfunden. Es ergab sich so zwanglos, so ganz von selbst: die einem Paradies für Faulenzer geworden ist. Es kommt nur darauf an, die faulenzenden Arbeiter zur Arbeit zu zwingen, und die Krise wird vorbei sein.
würden sich in Genf um eine Vermittlung im deutsch - polnischen in dem zweiten Prozeß Franzen gegen den Volksfreund", in dem Höhe der Arbeitslosigkeit kommt daher, daß Deutschland zu
Konflift bemühen. Der„ Temps" dementiert entschiedenst, daß man auch nur einen Gedanken daran hege, eine Einheitsfront gegen Deutschland zu schließen. Selbst die nationalistische Liberté" findet die Mäßigung der Reichsregierung im Gegensatz zu den nationalistischen Schreiern höchster Anerkennung wert und gibt zu, daß Polen gegen den Minderheitenschutz verstoßen habe, wenn auch nicht in solchem Maße, wie es Deutschland glauben machen wolle.
Bewaffnete Einwohnerwehr.
Seltsame Dinge bei Franzen! Braunschweig , 15. Januar. ( Eigenbericht.) Den bisher nicht geklärten Dynamitanschlag gegen eine Gastwirtschaft in Belpke haben die dortigen reaktionären Großbauern zum Anlaß genommen, eine Bürgerwehr zu bilden, die schwer bewaffnet Patrouillendienst auf den Straßen unterhält. Die dortige Ortsgruppe der SPD. und des Reichsbanners
Das hiesige Landgericht verhandelte am Donnerstagnachmittag diefem untersagt werden soll, die Wahrheit gegen Franzen zu sagen. Das Gericht vertagte den Prozeß auf den 12. Februar. Es sollen dann die Akten aus dem Prozeß gegen den Landwirt Guth herangezogen werden.
Die Beisitzer im Staatsgerichtshof.
Neuwahl im Reichsrat
Zu Beisigern im Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich wurden gestern im Reichrat gewählt: Universitätsprofessor Dr. Smend, Berlin ,( Stellvertreter: Rammergerichtspräsident Dr. Tigges, Berlin ), Staatsminister a. D. Dr. v. 3eitheŋn( Stellvertreter: Prof. Dr. Anschüß, Heidelberg ), Präsident des Oberverwaltungsgerichts Dresden Dr. Streft( Stellvertreter: Oberlandesgerichtspräsident Dr. Stein, Darmstadt ), Senatspräsident a. D. Feierabend, Suttgart( Stellver. treter: Prof. Oberlandesgerichtsrat Dr. Lau, Hamburg ) und Oberverwaltungsgerichtspräsident Dr. Ebsen, Jena( Stellvertreter: Präsident des Oberverwaltungsgerichts Oldenburg Dr. Weber).
Aus diesem Projekt, das leider vom Reichsarbeitsministe rium zum Gegenstand ernsthafter Besprechung gemacht worden ist, sprach eine Mischung von volkswirtschaftlichem Unverstand und Haß gegen die Arbeiterschaft. Dieser Haß gegen die Arbeiterschaft ist das Moment, daß die Anhänger der Wirtschaftspartei am stärksten mit bewegt. Dabei leben diese Leute zum größten Teil von der Arbeiterschaft, als Händler, als Gewerbetreibende, als Hauswirte!
Das politische Auftreten dieser Partei tönnte zum Gegenſtand einer Groteske gemacht werden. Ein Bürgermeister einer kleinen Stadt, der zur Wirtschaftspartei gehört, empfahl seinen Parteifreunden, sie müßten sich in den Gemeindeparlamenten wie die Spartatiften des Bürgertums gebärden. Das war noch vor dem Aufschwung der national